Ein Armenviertel irgendwo in Guatemala. Nicht asphaltierte, enge, dreckige Straßen – Bretterbuden. Sara schneidet sich die Haare kurz, bindet sich die Brüste ab, zieht sich als Junge an, nimmt eine Pille zur Empfängnisverhütung. Sara will in die USA, den Tausende Kilometer weiten, gefährlichen Weg durch Mexiko. Und sie weiß, was ihr als Mädchen passieren kann…
So beginnt „La Jaula de Oro“, “Der Goldene Käfig”. Der in Cannes und Zürich preisgekrönte Film des spanisch-mexikanischen Regisseurs Diego Quemada-Díez ist bisher in Deutschland kaum gelaufen, einen Verleih hat er nur in der Schweiz gefunden. In dem sehenswerten Film machen sich Sara und Juan auf die Reise von Guatemala-Stadt in Richtung USA. Mit dem Bus, zu Fuß, auf Güterzügen. Die Jugendlichen im Film, Brandón López als Juan und Karen Noemí Martínez als Sara, sie stammen aus den Armenvierteln Zentralamerikas und haben selber versucht, die USA zu erreichen.
Hunderte Jugendliche hat Quemada-Díez bei seinen mehrjährigen Recherchen kennengelernt. Ihre Geschichten sind ins Drehbuch ebenso eingeflossen, wie die Erlebnisse des Regisseurs selbst: „In all diesen Barrios gibt es täglich Schießereien und Tote, allein seit wir Brandón kennen gelernt haben sind sieben seiner Freunde ermordet worden, alle um die 15 Jahre alt.“ Der Film will diesen Jugendlichen eine Stimme geben. Junge Menschen, die heute in Guatemala, Honduras oder El Salvador kaum eine Möglichkeit haben, sich zu entwickeln.
Jugendliche fliehen vor Gewalt in den Barrios
Raus aus dem Film, rein in die Realität: Ein anderes Armenviertel, diesmal in Honduras, in der Industriestadt San Pedro Sula. Elisa Sánchez ist hier die Sprecherin einer lokalen Müttervereinigung. Sie erklärt, warum immer mehr Jugendliche ihre Heimat verlassen: „Viele Jugendliche fliehen vor den Maras, den gefährlichen Jugendbanden, die sie zwingen, für die Drogenkartelle zu arbeiten und Auftragsmorde zu begehen. So sieht die Realität hier aus. Und all die Leute, die hier ein kleines Geschäft haben, zum Beispiel einen Kiosk, müssen eine sogenannte Kriegssteuer an die Banden zahlen. Und wenn man das nicht kann, dann kommen sie und töten die ganze Familie, sogar die Babies. Deshalb denken diese Leute, es ist besser zu fliehen, auch wenn das lebensgefährlich ist, denn wenn sie hier bleiben, werden sie auf jeden Fall getötet.“
Hier im Barrio in San Pedro Sula ist auch José aufgewachsen. Der heute Zwanzigjährige mit dem Cowboyhemd und den kurz geschnittenen Haaren hat schon mit sieben Jahren versucht, in die USA zu gelangen. „Die Reise wurde für uns zum schlimmsten Alptraum unseres Lebens. 20 Tage und Nächte waren wir auf der Bestie, dem Güterzug unterwegs. Es ist nachts so kalt, dass Du dich mit den anderen Migranten zusammen hockst, Dich umarmst, um nicht zu erfrieren. Du leidest unbeschreiblich. Und du siehst, wie die Mädchen vergewaltigt werden, Jugendliche vom Zug fallen und wie andere entführt werden, um deren Familie zu erpressen.“
Im Film, der Goldene Käfig, überqueren Juan und Sara den Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko und springen schließlich auf die Bestie. Der Güterzug fordert immer wieder Tote und Schwerverletzte – weil völlig erschöpfte Menschen unter die Räder kommen oder weil Mitfahrende, die kein Wegegeld zahlen können, bei voller Fahrt rausgeschmissen werden.
Drangsaliert, ausgeraubt, misshandelt
Die Reisenden werden von der Polizei, von Soldaten und bewaffneten, erpresserischen Banden drangsaliert, ausgeraubt, misshandelt. Verbrecher und sogenannte “Sicherheitskräfte”, das macht hier keinen Unterschied. Sara fällt schließlich Menschenhändlern in die Hände, wie so viele Mädchen, die statt in die USA zu gelangen, in irgendeinem Bordell zur Prostitution gezwungen werden.
Immerhin gibt es ein paar Zufluchtsorte auf dem Weg. Einer ist zum Beispiel die Unterkunft “Hermanos en el Camino”, sie bietet auf halben Weg zwischen der guatemaltekischen Grenze und Mexiko-City den Migrant*innen auf ihrem Weg ein Dach über dem Kopf an. Gegründet wurde die kirchliche Einrichtung von Pater Solalinde, der auch kurz im Film zu sehen ist. Bis zu 4.000 Migrant*innen im Monat suchen bei ihm Zuflucht.
Pater Solalinde klagt an: Dass alle Geschäfte mit den Migrant*innen machen, die Polizei, die Migrationsbehörden, die organisierte Kriminalität, die Zugführer: „In ihren Herkunftsländern haben die Menschen immer weniger Perspektiven und wenn sie nach Mexiko kommen, werden sie ausgebeutet und misshandelt. Allein 10.000 Migranten sind verschwunden. Der Weg der Migranten durch Mexiko ist ein einziger Friedhof.“
Menschenrechtskommission kritisiert USA und Mexiko
Die Sicherheitsbehörden hätten keinen Plan und wenig Interesse, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Stattdessen bekämpften sie die Migrant*innen: „Die USA versuchen, mit allen Mitteln ihre Grenze dicht zu bekommen. Sie verhaften die Menschen und schicken sie zurück, aber die Menschenrechte der Migranten interessieren überhaupt nicht.“ Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH hatte die USA im Oktober 2014 für den unmenschlichen Umgang mit jugendlichen Migrant*innen scharf kritisiert.
In den ersten fünf Monaten des Jahres 2015 sind an der US-Mexikanischen Grenze fast 9.000 weniger Jugendliche aufgegriffen worden, als im Vorjahreszeitraum. Das bedeutet aber keineswegs, dass nun weniger Migrant*innen unterwegs wären: Mexiko hat im selben Zeitraum mehr als doppelt so viele zentralamerikanische Minderjährige in ihre Heimatländer deportiert, den USA scheint es also zunehmend zu gelingen, Migrant*innen von ihrer Grenze fernzuhalten.
Allerdings nannte die CIDH schon in ihrem Bericht vom August 2014 „die Situation extremer Verwundbarkeit der Migranten in Mexiko […] eine der schlimmsten humanitären Tragödien in der Region“. Migrant*innen würden eben nicht nur Opfer der organisierten Kriminalität, sondern in der Folge des Antidrogenkrieges auch immer öfter zu Opfern von brutalen Übergriffen durch staatliche Behörden. Mexiko beschränke sich zudem auf die Verfolgung von irregulärer Migration – Fälle von Erpressung, Entführungen, Menschenhandel und Mord an Migrant*innen blieben dagegen weitestgehend straffrei.
Das Recht, nicht migrieren zu müssen
In Mexiko Stadt setzt sich die Scalabrini-Missionarin Schwester Leticia Gutiérrez seit fast zwanzig Jahren für mexikanische und zentralamerikanische Migrant*innen ein, vor allem für diejenigen die Opfer von Gewalt und Behördenwillkür geworden sind. Sie fordert entschlossene und umfangreiche Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte, nicht nur von Migrant*innen, sondern von allen Menschen in den Herkunftsländern: „Wir müssen die Ursachen der Migration bekämpfen. Sie ist Folge der weltweiten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ungerechtigkeit. Deswegen müssen wir nach einem neuen System suchen, eines, das allen Menschen die Möglichkeit gibt, ein würdevolles Leben zu führen. Sonst werden immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Aber die immer schärferen Einwanderungsgesetze sprechen den Menschen das Recht auf ein würdevolles Leben ab. Solange es in den ärmsten Ländern keine Entwicklungschancen gibt, solange wird den Menschen ein Menschenrecht verwehrt: Das Recht nämlich, NICHT migrieren zu MÜSSEN.“
Den Audiobeitrag zu diesem Artikel findet ihr hier.
Links: zum Filmverleih: http://www.xenixfilm.ch/de/film_info.php?ID=6712
Trailer: https://www.youtube-nocookie.com/watch?v=GBBNmC2JWGU
Interamerikanische Menschenrechtskommission: Lage der Migrant*innen in Mexiko: http://www.oas.org/es/cidh/prensa/comunicados/2014/088.asp
Jugendlicher Exodus in Richtung USA – Flucht vor Perspektivlosigkeit und Gewalt von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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