von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt
(Berlin, 27. Juli 2009, npl).- Die Streitkräfte und die Regierung Mexikos stehen seit einigen Wochen unter besonderem Rechtfertigungsdruck. Hintergrund ist eine Anfang Juli von der „Washington Post“ auf ihrer Titelseite veröffentliche Reportage über Menschenrechtsverletzungen der Armee bei der Drogenbekämpfung. Die Zeitung nimmt die Vorwürfe von „Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassen von Personen“ an die Adresse der Militärs auf. Zudem untersucht sie mögliche Auswirkungen auf den Plan Merida. Die noch unter der Bush–Regierung vereinbarte Milliardenhilfe für den mexikanischen Kampf gegen die Drogenkartelle könnte teilweise eingefroren werden.
Das mexikanische Militär ist nahezu unantastbar. In der Vergangenheit war dies der Preis, den die zivilen Präsidenten dafür zahlten, anders als in den meisten lateinamerikanischen Ländern, ohne Angst vor einem Putsch regieren zu können. Die Militärs waren und sind einerseits in die oft repressive Regierungspolitik eingebunden. Andererseits bleiben sie bis heute ein Staat im Staate. Der konservative mexikanische Präsident Felipe Calderón setzt seit seinem Amtsantritt Ende 2006 ganz bewusst auf das Militär. Er versucht, einen Teil seiner Legitimation durch den immer umfangreicheren Einsatz der Streitkräfte für innere Aufgaben zu beziehen. Ganz vorne steht dabei die Drogenbekämpfung. Je fragwürdiger und blutiger die bisherige Bilanz des „Drogenkrieges“ ist, umso autoritärer das Gebaren des Präsidenten und der Armee.
Dabei kommt es „bedauerlicherweise“ zu „einigen Kollateralschäden“, wie es Jaime Antonio López Portillo, der Direktor der Menschenrechtsabteilung des Verteidigungsministeriums vor einigen Tagen ausdrückte. Klagen über Menschenrechtsverletzungen der mexikanischen Militärs häufen sich in den letzten Jahren. Allein bei der staatlichen Menschenrechtskommission CNDH (Comisión Nacional de los Derechos Humanos) gingen von Januar bis Juni 559 entsprechende Anzeigen ein. Das sind knapp 20 Prozent aller von der Kommission in diesem Zeitraum aufgenommenen Fälle. Doch die CNDH hat nur das Recht, unverbindliche Empfehlungen auszusprechen. Selbst die Untersuchungen der eklatantesten Fälle verlaufen regelmäßig im Sande. Denn das Militär ermittelt gegen sich selbst, die zivile Gerichtsbarkeit bleibt außen vor.
Einer der „Kollateralschäden“, den örtliche Menschenrechtsorganisationen ohne größeres Echo zuvor bereits dokumentierten, wurde von dem US–Medium ausführlich aufgenommen: Der Militäreinfall in dem kleinen Bergdorf Puerto Las Ollas im Bundesstaat Guerrero vor zwei Monaten. Ein Ausschnitt: „Die Bewohner erzählten, wie die Soldaten auf der Suche nach Information einem 37 Jahre alten körperbehinderten Bauern Nadeln unter die Fingernägel steckten, seinem 13–jährigen Neffen ein Messer in den Nacken stachen, auf einen Priester schossen und Lebensmittel, Milch, Kleidung und Medikamente stahlen.“ Gerade das Beispiel Puerto Las Ollas und der Bundesstaat Guerrero allgemein zeigen nach Berichten von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen die andere Seite der Drogenbekämpfung: Oft erscheint sie nur ein Vorwand, um potentiellen sozialen Widerstand zu brechen. „Im Gebirge von Guerrero hat die Guerilla Fuß gefasst, darum ist die Armee so oft dort“, meint beispielsweise Philipp Gerber von der Hilfsorganisation medico international.
Für die Regierungen in Washington und Mexiko–Stadt liegt das Problem darin, dass die Veröffentlichung solcher Vorgänge wie in Puerto Las Ollas den Plan Merida einschränken könnte. 15 Prozent seines in Raten an Mexiko auszahlbaren Fonds – Kritiker wie Adrián Ramírez, Präsident der Mexikanischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte, sehen darin vor allem eine Militärhilfe sowie ein verkapptes Investitionsprogramm für die US–Rüstungsindustrie – sind an eine verbesserte Menschenrechtssituation in Mexiko gebunden. Hat der US–Kongress Zweifel daran, kann er mehr als 100 Millionen Dollar blockieren.
Weder der US–Regierung noch ihrem mexikanischen Gegenpart kommt es gelegen, die Frage Menschenrechte und Militär zu einem großen Thema zu machen. Washington sah sich aber praktisch gezwungen, eine Untersuchung der Foltervorwürfe zuzusichern. Gleichzeitig spricht US–Drogenzar Gil Kerlikowske der Regierung Calderón und sein Vertrauen aus. Die mexikanische Strategie ist es, „vereinzelte Fälle“ nicht zu leugnen, aber dem Militär freie Hand zu lassen. Unter Umgehung des Parlamentes erließ Präsident Calderón ein am 22. Juli veröffentlichtes Dekret, das dem Generalstaatsanwalt der Militärjustiz mehr Kompetenzen zuweist und einer noch größeren Einflussnahme der Streitkräfte im Bereich innere Sicherheit den Weg bereitet.
„Kollateralschäden“ durch mexikanisches Militär in der Diskussion – Mögliche Auswirkungen auf den Plan Merida von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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