(Berlin, 10.01.2020, npla) Ein grauer Wintertag in Berlin. Yanda Montahuano aus Ecuador sitzt grübelnd vor seinem Abendessen. Um ihn herum junge Forscher*innen und Aktivist*innen, die den Sprecher der Sapara-Indigenas eingeladen haben, um am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam (IASS) über das Thema „Protest und Utopien für Umweltgerechtigkeit” zu sprechen. Und genau deshalb grübelt er jetzt. „Es gibt einige Wörter, die ich bisher nicht kannte“, erzählt er später. „Zum Beispiel Utopie. Erst beim Abendessen hab ich dann nachgefragt und erfahren, das ist etwas Erdachtes, das in der Zukunft passieren wird, oder wofür gearbeitet wird, damit es passiert.“
Von Utopien…
Die Anfänge utopischen Denkens liegen im Europa des 16. Jahrhunderts. Im Jahr 1516 – aus europäischer Sicht war es gerade mal 24 Jahre her, dass Amerika entdeckt wurde – verzückten reißerische Reiseberichte von goldenen Städten und „noblen Wilden“ die Königshöfe. Der englische Rechtsanwalt Thomas Morus hatte die imperialistischen Fantasien jedoch bald über und konterte mit einer literarischen Vision: der Reise auf den “wunderbarlichen Innsul Utopia” – ein fiktives Paradies auf Erden. Seitdem steht der Begriff der Utopie für eine bessere, noch zu schaffende Welt.
Heute erscheint es dringender denn je, eine bessere Welt zu schaffen. Das dachte sich auch das IASS und warf die Frage auf, ob utopisches Denken nicht auch einen spannenden Beitrag zu mehr Umweltgerechtigkeit leisten könnte. Und um Antworten baten sie keine europäischen Futurologen*innen, Influencer*innen oder ähnliche postmoderne Orakel, sondern Gäste aus Lateinamerika – unter ihnen auch Montahuano. Mit der Verteidigung des Regenwaldes kennt der sich gut aus. Als Pressesprecher und Journalist ist er es gewohnt, Alarm zu schlagen, wenn auf dem Land des Volks der Sapara ungefragt Bäume gerodet werden oder nach Öl gebohrt wird.
… und von Träumen
Nur mit dem Begriff der Utopie kann Montahuano auch nach langen Diskussionen nicht viel anfangen. „Wir Indígenas haben unsere Träume. Wenn wir schlafen, haben wir Visionen“, erklärt er seine Sicht der Welt, in der die Träume zu den Menschen sprechen und aufzeigen, was passieren wird. „Die Träume leiten uns im Leben. Es scheint mir, als ob Utopien und Träume sich ähneln. Der Unterschied ist, dass die Träume real sind, denn sie zeigen Dinge, die wirklich passieren werden. Die Utopie ist für uns wie ein Traum, der erst in der Zukunft geträumt wird.“ Er hingegen lebe seinen Traum bereits jetzt. Und der heißt: den Regenwald retten, oder das, was vom Amazonas noch übrig ist.
Dieser Traum schien Wirklichkeit zu werden, als um die Jahrhundertwende in Ecuador die indigene Vision eines Buen Vivir, eines Guten Lebens, viel Aufmerksamkeit fand. Buen Vivir, das bedeutet, nachhaltig und gemeinschaftlich zu leben, im Einklang mit der beseelten Natur, der Pachamama. Diese Formel nutzten Ökonomen wie Alberto Acosta, um ihre Kritik am kapitalistischen Produktionsmodell zu erweitern. Plötzlich ging es nicht mehr nur um die Rechte von Lohnabhängigen, sondern auch um die von Kleinbauern und -bäuerinnen – und um die Rechte von Mutter Natur.
Buen Vivir im Staatsformat
Als das Buen Vivir 2008 sogar als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen wurde, war der Jubel zunächst groß. Ohne diesen „historischen Moment“ in Abrede zu stellen, sei dabei jedoch etwas verloren gegangen, findet Miriam Lang, Professorin für Globale und Soziale Studien in Quito. Mit der Einschreibung des Buen Vivir in die Verfassung wurde es irgendwie geadelt. Gleichzeitig fand aber auch eine Reformatierung statt. Das Konzept wurde ins Staatsformat gepresst. Die Folge: Plötzlich stand der Anspruch eines Buen Vivir Seite an Seite mit den Prämissen von Wachstum und Entwicklung.
Auch Lang wurde vom IASS nach Potsdam geladen und erklärt nun gut zehn Jahre später dem Publikum, warum diese Koexistenz eine Illusion war. Denn die ecuadorianische Ökonomie sei bis heute stark auf den Verkauf von Erdöl angewiesen. „Generell ist die Regierung wirtschaftspolitisch in einer schwierigen Lage, weil das meiste Öl aus den gängigen Ölquellen auf zehn Jahre oder länger an China vorverkauft wurde und das Geld schon ausgegeben ist.“ Deshalb diene die aktuelle Ölförderung in Ecuador dem Staat nur für die Schuldentilgung. Um im Staatshaushalt zusätzliches Geld ausgeben zu können, bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die Förderung auszuweiten.
Erdölförderung und Plastik
Doch die Ölgewinnung ist nicht nur im Amazonas ein Umweltproblem. Erdöl ist auch der Grundstoff für die 100 Millionen Tonnen Plastik, die weltweit jährlich produziert werden. Eine Social Media Kampagne der UNO versucht derzeit für die Schäden, die Plastik verursacht, zu sensibilisieren. Die Polymere stehen am Pranger. „Du hast eine toxische Umgebung geschaffen, nicht nur für mich, sondern auch für andere“, wirft eine Schauspielerin den Joghurtbechern und Einkaufsbeuteln, die sie in dem Videoclip umgeben, enttäuscht vor.
Doch eigentlich richtet sich der Spot natürlich an Menschen: an unbewusste Konsument*innen und ihre gewählten Vertreter*innen. Auch die ecuadorianische Regierung sollte sich angesprochen fühlen, denn ihre Ölpolitik befeuert einen globalen Albtraum. „Für Plastik braucht es nun mal Öl. Und mit der Ölförderung beginnt die Verschmutzung“, pointiert Montahuano. „Auf unserem Land wurden kürzlich zwei Förderlizenzen vergeben.“ Eine Mitverantwortung sieht er dafür auch außerhalb Ecuadors. „Dieses Öl zu fördern wäre vielleicht gar nicht nötig, wenn die großen Länder und die großen Städte nicht so viel Plastik verbrauchen würden. Das würde vielen Gegenden helfen.“
Mehr bewusster Konsum im Norden – besonders für die Generation „Fridays for Future“ ist das längst Programm. Und auch in Lateinamerika sehen mehr und mehr Jugendliche die rücksichtslose Ausbeutung von Ressourcen kritisch. Das ist auch der Arbeit von Menschen wie Marco Bazán zu verdanken. Der Referent der Kinderhilfsorganisation terre des hommes ist ebenfalls als Redner nach Potsdam gereist. In Peru besucht Bazán regelmäßig Bildungseinrichtungen und wirbt dafür, den Regenwald nicht als Selbstbedienungsladen misszuverstehen. „Wir arbeiten daran, dass die Schulen nicht ständig von natürlichen Ressourcen reden. Natur muss anders wahrgenommen werden. Als Mutter Natur, vielleicht auch als natürliches Gut“, sagt Bazán. Das korrespondiere besser mit der Idee von Gemeingütern – ein wichtiger Ansatz für das globale Zusammenleben.
Neue Naturverhältnisse
Zudem ist ihm wichtig, dass Kinder früh unterschiedliche Konzepte kennenlernen, um die Welt zu verstehen. „Jedes Wort hat eine Gefühlsebene. Das Wort Naturgut löst eine affektive Reaktion aus, das Wort Mutter Natur noch eine ganz andere“, sagt Bazán. Im besten Fall sieht ein Kind unter dem Regenwald keine sprudelnde Geldquelle, sondern wird sich sagen: „Ich kann ihr doch nicht den Bauch aufschlitzen, nur um Gold zu fördern…“
Dass dieses Naturverständnis in Regierungen, Börsensälen und Aufsichtsräten keinen Jubelsturm auslösen wird – geschenkt. Ein produktiver Streit sei ja auch nötig, findet Bazán. Sonst verkomme die Idee vom Guten Leben zu einer PR-Floskel oder einem ewigen Versprechen. „Keine Utopie und auch kein realer Ort ist frei von Konflikten. Es wird immer Streit und Missverständnisse geben. Es gibt Klimakatastrophen mit Starkregen oder Hagel, die eine Ernte zerstören können. Für die Indígenas ist das kein Unglück, sondern der Beginn eines Dialogs. Auch ein Streit produziert Informationen, die sich nutzen lassen, für ein neues Gleichgewicht.“ Wichtig sei die Einsicht, die mensch daraus zieht. Zu sagen: „Wir haben etwas falsch gemacht, deshalb hagelt es, wo es nicht hageln sollte“, sei bereits ein guter Anfang. Und alle sollten dann versuchen herauszufinden, wie sich die Harmonie wieder herstellen lässt. „Jedem Konflikt sollte mit Respekt und Zärtlichkeit begegnet werden. Das ist aller Anfang.“
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