(Manaus, 5. Oktober 2023, democracia abierta).- Durch den Ausbau des mächtigen brasilianischen Agrarsektors hat sich das größte lateinamerikanische Land vom Nahrungsmittelimporteur zu einem der weltweit führenden Exporteure von Getreide, Obst und Fleisch entwickelt. Der jährliche Wert der Nahrungsmittelausfuhr liegt bei über 140 Milliarden Dollar. Doch die Entwicklung hat ihren Preis. Die massive Abholzung der Wälder hat das brasilianische Ökosystem schwer geschädigt und die Klimakrise verschärft, was zu katastrophalen Dürren, massiven Überschwemmungen und riesigen Bränden geführt hat, die nun durch den El-Niño-Zyklus noch verstärkt werden. Die Aussichten für den Sektor in den kommenden Jahren sind äußerst besorgniserregend.
Der gigantische Boom des Agrobusiness
Der Boom der Agrarwirtschaft begann vor fast 50 Jahren und hat zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen geführt, der in einigen ländlichen Gebieten besonders zu spüren war, nicht zuletzt durch das Entstehen neuer Arbeitsplätze in diesem Sektor. Die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft ist erheblich. Brasilien ist weltweit der größte Kaffeeexporteur und wichtiger Produzent von Zuckerrohr, Sojabohnen und Orangen, Getreide, Hülsenfrüchten und Ölpflanzen. Mit seinem kontinuierlichen Wachstum steuert der Agrarsektor etwa sieben Prozent zur jährlichen Wertschöpfung des Bruttoinlandsprodukts bei. Die Investitionen, die enorme Größe des Landes und eine entsprechende Staatspolitik haben wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen. Über 8,5 Millionen Quadratkilometer, das entspricht fast acht Prozent des brasilianischen Territoriums, werden landwirtschaftlich genutzt. Im Jahr 2021 brachte die heimische Agrarproduktion der brasilianischen Wirtschaft mehr als 743 Milliarden Reales (etwa 147,3 Milliarden US-Dollar) ein.
Die Exporte des Agrarsektors sind für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung
Fast die Hälfte des landwirtschaftlichen Gesamtgewinns geht auf die Sojaproduktion zurück. Durch die permanente Ausdehnung der Anbaufläche hat Brasilien die USA überholt und ist zum weltweit größten Sojabohnenproduzenten aufgestiegen. Im Jahr 2022 wurden in Brasilien 152.000.000 Tonnen Sojabohnen produziert, in den USA 118.266.000 Tonnen. Drittgrößter Produzent ist Argentinien mit 49.500.000 Tonnen. Auch die Mais- und Zuckerrohrproduktion ist für die brasilianische Landwirtschaft sehr wichtig. Beide werden für die Ernährung von Mensch und Tier sowie für die Produktion von Biokraftstoffen verwendet. Mais und Zuckerrohr machen etwa 16 bzw. zehn Prozent der Gesamteinnahmen der Agrarproduktion aus. Darüber hinaus ist Zuckerrohr neben seiner Nutzung als Süßstoff der wichtigste Rohstoff für die Herstellung von Ethylalkohol, d. h. Ethanol für Kraftstoffe. Seit den 2000er Jahren wird das kontinuierliche Wachstum der brasilianischen Biokraftstoffindustrie international wahrgenommen und geschätzt. Die Tierproduktion spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle in der brasilianischen Landwirtschaft. Fleischprodukte machen 20 Prozent des Gesamtwerts der brasilianischen Agrarproduktion aus und sind nach Sojabohnen wichtigstes Exportgut. Die Zahl der in Brasilien geschlachteten Rinder ist in den letzten Jahren offensichtlich zurückgegangen, die Schweinezucht hat hingegen stetig zugenommen und lag im Jahr 2022 bei über 56 Millionen getöteten Tieren. Das größte Segment der Massentierhaltung ist die Geflügelproduktion. Im Jahr 2022 wurden mehr als sechs Milliarden Masthähnchen geschlachtet. Doch die Tage des brasilianischen Agrarbooms könnten gezählt sein. Die massive Abholzung beschleunigt die Auswirkungen des Klimawandels auf dem Kontinent und beraubt die Landwirtschaft eines ihrer wichtigsten Rohstoffe: Wasser.
Die Flüsse trocknen aus
Große Medien berichten immer wieder von den Auswirkungen einer dreijährigen Dürre in Brasilien und den neuen Herausforderungen, die das El Niño-Phänomen für die Landwirtschaft mit sich bringt. Luciana Gatti und ihr Team am brasilianischen Nationalen Institut für Weltraumforschung (INPE) halten den Zusammenbruch des brasilianischen Agrarmodells für denkbar. Die Abholzung der Wälder hat unter der Regierung von Jair Bolsonaro dramatisch zugenommen. Das hat zu einem enormen Wachstum der Bergbau- und landwirtschaftlich genutzten Flächen geführt, zugleich aber auch den gesamten Wasserhaushalt erheblich verändert, so kann die Landwirtschaft nicht wie früher die gewohnten Niederschlagsmengen einplanen. Zahlreiche frühere und kürzlich vom INPE erstellte Studien belegen, dass die Entwaldung die Auswirkungen des Klimawandels in Brasilien beschleunigt: Immer weniger Wald steht zur Verfügung, um Kohlenstoff aufzunehmen, weitere Folgen sind steigende Temperaturen und extreme Wetterereignisse. Laut einer Anfang Oktober veröffentlichten Studie des MapBiomas-Projekts verloren Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Guyana, Französisch-Guayana, Peru, Surinam und Venezuela im Analysezeitraum 2000 bis 2022 eine Million Hektar Wasserfläche. Dazu Gatti: „Nach unseren Erkenntnissen führt die Abholzung zu einer Veränderung der klimatischen Bedingungen, was wiederum Stress für den Wald bedeutet, weil er dann nicht mehr so funktioniert wie zuvor. Heute ist ein wichtiger Teil des Amazonasgebiets, der früher intakt war, aufgrund menschlicher Eingriffe nicht mehr intakt. Für den Fortbestand des Regenwaldes selbst ist die landwirtschaftliche Nutzung des Amazonasgebiets ausgesprochen schädlich.“ Studien des INPE zufolge wurde die landwirtschaftliche Nutzfläche in den Jahren 2019 und 2020 um fast 70 Prozent erweitert, unter der Bolsonaro-Regierung wurden die staatlichen Kontrollen und der Schutz öffentlicher Waldflächen, die geschützten Gebiete eingenommen, effektiv ausgehebelt. In diesem Zeitraum stiegen die Treibhausgasemissionen um mehr als 120 Prozent, die Entwaldung nahm um mehr als 60 Prozent zu. Bei der Entwaldung im Amazonasgebiet greifen in allen Ländern der Region ähnliche Mechanismen. Durch das massive Eindringen von illegalen Waldabholzern (in Brasilien sind es die „Grilleiros“) erfolgt der erste Schritt zur Umwandlung von Wäldern in Weideland, und da Weiden weniger rentabel sind als Sojaanbau, erfolgt eine weitere Umwandlung von Weideland in Ackerland. So werden aus Wäldern Sojafelder. Eine Studie von Argemiro Teixeira Leite Filho, erschienen 2021 in der Zeitschrift Nature, zeigt, dass mit jeder Zunahme der Abholzung um zehn Prozent die jährliche Niederschlagsmenge um etwa 49,2 mm pro Jahr abnimmt. Durch die Abholzung trocknen fließende Gewässer aus, so dass die Bäume die Feuchtigkeit, die sie speichern, nicht an die Luft abgeben, wodurch sich die Niederschlagsmenge in landwirtschaftlichen Gebieten verringert.
Selbstmörderischer Teufelskreis
Das Phänomen, von dem die brasilianische Landwirtschaft bereits betroffen ist, ist sehr einfach. Ohne Niederschläge gedeihen Pflanzen wie Soja, Mais oder Zuckerrohr nicht, ebenso wenig mit intensiven Starkregenperioden. Bei geringen Niederschlägen wachsen die Pflanzen nicht, die Ernteerträge und damit auch die Profite gehen deutlich zurück; bei zu hohen Niederschlagsmengen ist das Risiko von Schädlingen und Krankheiten, wie z. B. Sojarost, viel höher. Die Vorbeuge oder Bekämpfung dieser Krankheiten führt ebenfalls zu erheblichen Gewinneinbußen. Laut Gabriel Quijandría, IUCN-Vizepräsident für Südamerika, werden die wissenschaftlichen Beweise immer überzeugender, dass die Veränderung der Niederschlagsmuster im Amazonasgebiet mit dem globalen Klimawandel und der durch die Besiedlung zu landwirtschaftlichen Zwecken vorangetriebenen Entwaldung zusammenhängt. „Eine nachhaltige Entwicklung in Lateinamerika ist nur möglich mit einer Strategie, die die grundlegenden ökologischen Prozesse der Region bewahrt.“ Im Jahr 2019 hatte ein Viertel des südlichen brasilianischen Amazonasgebiets die kritische Grenze der durch den Waldverlust reduzierten Niederschlagsmenge bereits erreicht; betroffen waren die Bundesstaaten Acre, Amazonas, Rondônia, Pará, Tocantins und Mato Grosso do Sul. In einigen Regionen betrug der abholzungsbedingte Rückgang der jährlichen Niederschlagsmenge bereits 48 Prozent. Der größte Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche ist von den Niederschlägen abhängig, insofern stellt der Rückgang der Niederschlagsmengen eine echte Bedrohung für die Wirtschaft dar.
Liegt die Lösung in den Städten?
Experten der Weltbank sind der Ansicht, dass durch eine Steigerung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit in den Städten der Druck auf den Amazonas reduziert werden könnte. In einem im November 2022 veröffentlichten Strategiepapier heißt es: „Das schwache Produktivitätswachstum in den städtischen Regionen, insbesondere im sekundären Sektor, also in der Verarbeitung und in bestimmten Dienstleistungen, bremst den wirtschaftlichen Fortschritt und beschleunigt die Abholzung.“„Auch wenn das eine vereinfachte Darstellung ist, belegen die vorliegenden Daten genau das: In Zeiten der Zunahme der Gesamtfaktorproduktivität nahm in Brasilien auch die Waldfläche zu. Mit dem Ende des letzten Rohstoff-Superzyklus ging die Produktivität zurück, und die Abholzung nahm wieder zu. Die zunehmende Entwaldung ist nicht nur Folge eines laxeren Umgangs mit den Waldschutzgesetzen, sondern ist auch durch wirtschaftliche Faktoren bedingt, wobei sich beide sogar gegenseitig verstärken: je größer die wirtschaftlichen Vorteile der Abholzung, desto intensiver die Lobbyarbeit für eine Lockerung der Kontrollen zum Schutz der Wälder.“
Der Fall Brasiliens ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Wirtschaftssektoren miteinander verzahnt sind und wie die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage eines Landes letztendlich zur Zerstörung der Wälder und des gesamten Ökosystems führen kann.
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