Nayib Bukele – Autokrat oder demokratischer Revolutionär?

(Berlin/San Salvador, 27. Oktober 2021, npla).- El Salvador hat eine jahrzehntelange Gewalterfahrung. Erst Diktatur und Bürgerkrieg, dann nach Friedensschluss Anfang der 1990er Jahre der Aufstieg der „Maras“ genannten Jugendbanden. Vor knapp 3 Jahren hatten die Salvadorianer*innen genug und wählten einen jungen, unkonventionellen Typen zum Präsidenten. Nayib Bukele will mit Gewalt, Korruption und postkolonialen Strukturen aufräumen und ist in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich. Auch nicht im Kampf gegen die Pandemie. Ist Bukele nun Autokrat oder demokratischer Revolutionär? El Salvador ist darüber gespalten.

Eduardo Barahona ist ein Clown. Als solcher arbeitet er in der Gewaltprävention mit Jugendlichen und als Laune-Aufheller auf Demos. Aber auch ohne Verkleidung wirkt der junge Mann mit den leuchtenden Augen und dem einnehmenden Wesen wie eine unerschütterliche Frohnatur. Selbst, wenn er aus seinem Leben erzählt, seiner Jugend in den Barrios, den ärmeren Vierteln von El Salvadors Hauptstadt San Salvador – und wie das mit der Bandenkriminalität über die Jahre immer schlimmer wurde: „Ich war mal wieder joggen. Da hat mich ein Typ angehalten und meinen Personalausweis verlangt. Dann kamen mehr dazu. Die sind über mich hergefallen, ich dachte, ich sterbe jetzt. Sie haben mich über Treppen tief in die Siedlung hinein geschleppt. Irgendwann habe ich mich losgerissen und bin durchs halbe Barrio gerannt, bis ich in einen Abwasserkanal gesprungen bin. Da hab ich mich versteckt, bis die Luft rein war. Ich hatte Riesenangst. Das war das erste Mal.“

Es folgten weitere Male. Eduardo musste mehrfach umziehen, hat oft bei Freunden und manchmal auf der Straße übernachten müssen. Fast Jede und Jeder in El Salvador hat Gewalt der hier Maras genannten Banden entweder selbst erfahren oder kennt die Geschichten von Verwandten und Bekannten.

Das Ende der Zweiparteienherrschaft – der Anfang von Nayib Bukele

Die Gewalt und die Perspektivlosigkeit sind gewichtige Gründe dafür, dass El Salvador Anfang 2019, nach fast 30 Jahren Zweiparteienherrschaft genug hatte – und Nayib Bukele zum Präsidenten wählte: damals gerade 37 Jahre alt, palästinensischer Abstammung, beliebter Hauptstadtbürgermeister. Und Bukele inszeniert sich auch nach der Wahl als derjenige, der El Salvador endlich von den Maras befreit. So wendet er sich Mitte 2019 über das Fernsehen und Social Media an die Banden: „Hört auf zu morden. Wenn nicht, kommt ihr alle ins Loch.“ Seine Regierung sei bereit, die Gefängnisse in Rehabilitationszentren zu verwandeln, aber erst, wenn die Mordraten drastisch runtergingen.

El Salvador litt Jahrzehnte unter einer brutalen, rechten Militärdiktatur. Als Antwort darauf bildeten sich ab Ende der 1960er Jahre Guerrilla-Gruppen. Als Reaktion auf die zunehmende Repression, auf Auftragsmorde und Massaker, führte die FMLN Guerrilla dann ab 1979 Krieg gegen die Militärjunta, der zwölf Jahre dauern sollte. Mindestens 70.000 Menschen haben in dieser Zeit ihr Leben verloren, die meisten Toten gehen auf das Konto von Armee und rechten Todesschwadronen. Seit dem Friedensschluss 1992 hatten zwei Parteien die salvadoranische Politik dominiert: Die stramm rechte ARENA und die zur Partei gewandelte ehemalige Guerrilla FMLN.

Politischer Frieden heißt nicht gleich sozialer Frieden

Aber aus politischem Frieden wurde nie sozialer Frieden, sagt die Journalistin Angélica Cárcamo, aktuell Präsidentin der salvadoranischen Journalistenvereinigung APES. Denn die Gewalt, die Banden und der Drogenhandel seien das Produkt der Armut und einer Politik, die sich nie um die Ungleichheit gekümmert habe. Es habe nie langfristige politische Strategien gegen Armut und Gewalt gegeben, im Gegenteil: „Vor allem unter den rechten ARENA-Regierungen gab es nur die Politik der harten Hand, aber auch unter der Linken wurde das Militär entgegen der Verfassung immer wieder im Inneren eingesetzt.“ So habe sich der Krieg zwischen Banden und Sicherheitskräften weiter angeheizt, so Cárcamo.“

Bukele ist in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich. Polizist*innen haben eine Lizenz zum Töten, Bandenmitglieder werden in Gefängnissen auf engstem Raum zusammengepfercht, auch in Pandemiezeiten. Die Bandenkriminalität hat sich zwar verringert, dafür wird gegen die von Bukele gestärkten Sicherheitskräfte immer wieder wegen Übergriffen ermittelt. Allein im vergangenen Jahr fast 1.000 Mal, wegen Beleidigungen, sexuellen Übergriffen, Freiheitsberaubung bis hin zu Mord und Verschwindenlassen.

„Wir sollten den Banden mit einer intelligenten Strategie entgegentreten“

Dagoberto Gutiérrez hält die Politik Bukeles dennoch für alternativlos. Der mittlerweile 76-jährige ehemalige Guerrilla-Kommandant und Mitverhandler der Friedensabkommen ist heute Vizerektor der lutherischen Universität El Salvadors. Zu seiner ehemaligen politischen Heimat, der FMLN, ist Gutiérrez in den letzten Jahren auf Distanz gegangen. Stattdessen verteidigt er den Präsidenten regelmäßig. Die Jugendbanden seien das Produkt der zwischen Militärs und FMLN ausgehandelten neuen Ordnung in El Salvador. Das damals vereinbarte neoliberale Wirtschaftsmodell habe Zehntausende junger Menschen außen vor gelassen. Heute seien die Maras ein wirtschaftlicher, politischer und militärischer Machtfaktor. Bukele wolle mit einer intelligenten Strategie die Macht im Land zurückzugewinnen. Denn den Banden den Krieg zu erklären, das habe ebensowenig funktioniert wie in Mexiko. Stattdessen sagt er: „Wir sollten auch nicht einfach mit den Banden verhandeln, sondern ihnen mit einer intelligenten Strategie entgegentreten, mit einem einzigen Ziel: Das Land zu befrieden. Und ich glaube, die Regierung tut einiges dafür.“

Bukele handelt in vielen Politikbereichen. Das ist unstrittig. Aber seine Strategien sind im besten Falle unkonventionell, oft am Rande der Legalität und immer begleitet von massiver PR in sozialen Medien, von bezahlten Werbeclips der Regierung und von Bukele selbst. Beispiel Pandemie: Vor einem überlebensgroßen Portrait des 1980 ermordeten und 2018 heilig gesprochenen Erzbischofs Oscar Romero blickt Bukele im März 2020 direkt durch die Kamera in die Wohnzimmer und sagt: „Für drei Monate haben wir die Rechnungen eingefroren. Für Strom, Wasser, Telefon, Internet, Miete, Bankkredite, Autos und Motorräder, alles ist für drei Monate gesetzlich gestundet. Niemand muss sich sorgen machen. Alle bekommen ihr Gehalt weiter. Und wenn Du kein Gehalt bekommst und natürlich weiter Essen kaufen musst, dann bekommen alle, die keinen festen Job haben, 300 US-Dollar pro Haushalt. Und jeden der Funktionäre, der davon auch nur einen Penny stiehlt, werde ich persönlich in den Knast werfen.“

Für diese Rede gab es internationale Beachtung und in El Salvador viel Beifall. Die Kehrseite der Medaille: Bukele riegelt das Land ab. Ab Ende März 2020 wird ein totaler Lockdown ausgerufen, allen Bürger*innen El Salvadors ist es untersagt, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Auf Nichtbeachtung reagierte die Regierung mit zahlreichen Verhaftungen und Zwangsinternierungen. Wieder eingereiste Salvadoraner*innen mussten für 30 Tage in Quarantäne, nicht in häusliche, sondern in Spezialeinrichtungen, oft unter Bewachung durch das Militär.

Keine Hygiene, kein Essen, kein Platz

Dino Safie, Sänger einer katholischen Band, veröffentlichte ein Internetvideo, indem er die untragbaren Zustände im Quarantänelager anprangerte: „Die haben hier alle Leute zusammengepfercht, die aus den unterschiedlichen Ländern zurückgekehrt sind.“ Es gebe keine Hygiene, nichts zu essen, nicht mal Mosquitonetze an den Fenstern, nicht genügend Ärzte und zu wenige Betten.

Zaira Navas, Anwältin und ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Nationalen Zivilpolizei, sieht hier ein Beispiel dafür, dass sich die bisweilen rabiate Politik Bukeles auch gegen die einfache Bevölkerung richtet: „Wir erkennen an, dass El Salvador sehr früh den Gesundheitsnotstand ausgerufen hat. Aber mindestens 2.500 Menschen sind als Rückkehrer oder angebliche Lockdown-Brecher ihrer Freiheit beraubt worden.“ Verschiedene Menschenrechtsorganisationen haben dagegen geklagt und vom Verfassungsgericht Recht bekommen. Aber bis Ende August 2020 wurden Menschen weiterhin festgenommen.

Bukele wird vorgeworfen, die Pandemie zu eigenen Gunsten auszunutzen

Die im lateinamerikanischen Vergleich niedrigen Infektions- und Sterberaten in El Salvador mögen dem Präsidenten vielleicht Recht geben. Doch es gibt noch schwerwiegendere Vorwürfe. Der Wirtschaftswissenschaftler César Villalona, dominikanisch-salvadorianischer Abstammung und gerade in linksliberalen Kreisen sehr geschätzt, wirft ihm sogar vor, die Pandemie auszunutzen und Gesetze durch das Parlament zu peitschen, die am Ende ihm selbst nutzen. Mit dem Gesetz über medizinische Produkte und Behandlungen in Ausnahmesituationen der öffentlichen Gesundheit, wie sie durch Covid-19 verursacht wurden, würden Personen und Unternehmen im Gesundheitssektor von strafrechtlicher Verantwortung und Schadensersatzansprüchen freigestellt. „Das bedeutet: Alle Korruptionsfälle, die sich im Gesundheitswesen ereignet haben oder für die es Indizien gibt, werden nicht weiter ermittelt und bleiben straflos. Diesen Gesundheitsnotstand kann Bukele bis zum Ende der Legislaturperiode aufrecht erhalten.“

Solche Stimmen haben es momentan in El Salvador schwer, gehört zu werden. Bukele geht zumindest verbal rabiat mit der kritischen Presse um. Vor allem aber nutzt er mit tatkräftiger Unterstützung von einer Hundertschaft junger Youtuber und Influencer*innen die Kommunikations-Kanäle seiner Partei von Facebook bis Tik-Tok, aber auch die Kanäle der öffentlichen Institutionen für das „Gespräch“ mit der Bevölkerung, oder vielleicht besser: für Eigendarstellung und Eigenlob. Eine wahre PR-Maschinerie.

Allmählich regt sich Widerstand gegen Bukele

Lange traf diese Mobilisierung im Internet und den sozialen Medien die politische Konkurrenz unvorbereitet. Doch mittlerweile regt sich Widerstand. Mitte September demonstrierten weit mehr als 10.000 Menschen in San Salvador. Mit dem Argument, die Institutionen von der Diktatur der korrupten Altparteien zu befreien, hatte Bukele den Oberstaatsanwalt und oberste Richter abgesetzt, und durch ihm genehme ersetzt. Illegalerweise, meinen nicht nur Fachleute, sondern auch viele einfache Salvadoraner*innen. Aber der Unmut reicht weiter: Frauen und die LGBTIQ*-Community protestieren dagegen, dass Bukele in El Salvador keinen Stein auf dem anderen lassen will, aber an der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und am traditionellen Ehebild festhält. Noch meint Bukele, es reiche, die Demonstrierenden als Konterrevolutionäre der Altparteien  zu beschimpfen.

Auch Clown Eduardo Barahona hat schon schlechte Erfahrungen unter Bukele gemacht. Barahona arbeitet heute in der Umweltorganisation UNES, die Bukele ebenfalls äußerst kritisch gegenübersteht. Eduardo schreibt pointierte Texte und ist humorvoller Einheizer bei Demonstrationen. Im April wurde er festgenommen. Drei Wochen saß er im Gefängnis, die ersten Tage zusammengepfercht in einem fensterlosen Raum, genau wie die Bandenmitglieder, die gerne im Fernsehen vorgeführt wurden. Nach Protesten im In- und Ausland wurde er wieder freigelassen. „Wir sind nur einen Schritt von Nicaragua entfernt. Wir haben einen Präsidenten, der weiß, wie man sich gut verkauft und gleichzeitig Journalisten und missliebige Stimmen zum Schweigen bringt. Die Räume werden immer enger. Ich glaube, der einzige Weg, wie Menschen ihr Leben, ihre Realität verändern können, ist es auf die Straße zu gehen! Journalismus ist ein Muss, Aktivismus ist ein Muss. Und ja: Lachen ist ein Muss!“

Zu diesem Text könnt ihr euch auch einen Audiobeitrag anhören!

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