(San Salvador de Jujuy, 16. Juni 2023, ANred).- Dem Gouverneur von Jujuy, Gerardo Morales, ist es gelungen, seine Verfassungsreform im Eiltempo zu verabschieden – mithilfe der einstimmigen Unterstützung durch die Radikalen und Peronisten und dem Rücktritt der Mitglieder der Frente de Izquierda (Linke Front).
Verfassungsänderung abseits demokratischer Prozesse
Die Bevölkerung von Jujuy lehnte die Verfassungsreform größtenteils ab, weil sie die Macht des Gouverneurs stärkt, sozialen Protest einschränkt und kriminalisiert sowie den Vormarsch des Privateigentums auf indigene Gebiete ermöglicht. Darüber hinaus gab es keinen demokratischen und partizipativen Prozess zur Änderung der Verfassung im Vorfeld.
Die Reform wurde vor dem Hintergrund von Streiks der Lehrer- und Staatsgewerkschaften sowie des „Tercer Malón de la Paz“ der indigenen Gemeinden durchgeführt, die seit Mittwoch letzter Woche mit ihren Whipalas [eine Whipala ist ein quadratisches Emblem, das häufig als Flagge verwendet wird, um einige indigene Völker der Anden zu repräsentieren] aus Las Yungas [tropische Höhenzone beiderseits der Anden], La Puna [Höhengrassteppe in den Anden] und Los Salares [Salzwüsten in den Anden] anreisten und vergangenen Freitag in der Hauptstadt von Jujuy eintrafen.
Anhaltende Proteste trotz Einschränkungen
Morales, der die verfassungsgebende Versammlung leitete, erreichte die allgemeine Zustimmung zur Änderung von 66 der 212 Artikel der Provinzverfassung. Diese Änderungen räumen der Provinzregierung zukünftig einen größeren Ermessensspielraum bei der Verwaltung von Gemeingütern wie Lithium ein, das bereits zu einer „strategischen Ressource“ erklärt wurde.
Die rasche Verabschiedung der Reform, die noch vor der von der Regierung vorgeschlagenen Agenda unternommen wurde, kann als politische Strategie zur Unterbindung der Proteste aufgefasst werden. Nach der ersten Woche der Proteste unterzeichnete Morales das am vergangenen Freitag veröffentlichte Dekret Nr. 8464, das soziale Proteste mit Geldstrafen belegt und unter Strafe stellt. Am Mittwoch, den 14. Juni 2023, verkündete er auf einer Pressekonferenz die Entscheidung, die Maßnahme aufzuheben, was jedoch nichts an der Protesthaltung der Bevölkerung von Jujuy änderte.
Missachtung der national geltenden Grundrechte
Die Verfassungsänderungen – ohne partizipatorische Debatte oder gesellschaftliche Einigung (abgesehen von der Wahl der Konventsmitglieder bei den Provinzwahlen im vergangenen Mai) – werden nicht nur die offensichtlichen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zugunsten der politischen und unternehmerischen Klasse vertiefen, sondern auch die in der nationalen Verfassung verankerten Grundrechte missachten.
So missachtet die Verfassungsänderung beispielsweise das Recht auf indigenes Land und das Recht auf frühzeitige und umfassende Information. Zudem verstößt die Kriminalisierung von sozialem Protest – in dem Artikel, der „das ausdrückliche Verbot von totalen Straßenblockaden und Straßensperren sowie aller anderen Störungen des Rechts auf Freizügigkeit“ festlegt – gegen die argentinische Verfassung. Der neu erlassene Artikel 36 über „das Recht auf Privateigentum“ würde außerdem jeden Konflikt um Land zugunsten der Unternehmen entscheiden. Und all das in einer Provinz, in der die Landvermessung von indigenen Gebieten sowie die Übergabe von Eigentumsrechten an die indigenen Gemeinschaften eh schon blockiert werden.
Tercer Malón de Paz
Seit Beginn des Streiks in der Provinz haben die indigenen Gemeinden gemeinsame Aktionen geplant, um ihre Ablehnung der Reform kundzutun. Diese führten schließlich zu einem „Tercer Malón de Paz“. Der Name soll an die beiden historischen Märsche erinnern, die die indigenen Gemeinschaften von Jujuy 1946 und 2006 unternommen haben, um ihr Recht auf Land einzufordern.
Die Gemeinden beim „Tercer Malón de Paz“ kamen aus Las Yungas, La Pula und Las Salinas, um ihre Stimmen in einer gemeinsamen Forderung zu vereinen: „Nein zur Reform!“ und „Hoch mit den Whipalas, nieder mit der Reform!“. Sie schlossen sich damit den Ruf der Lehrer*innen an, die forderten: „Hoch mit den Gehältern, nieder mit der Reform!“. Die Stimmen der einheimischen Bevölkerung gegen die Änderung der Verfassung kamen aus der ganzen Provinz.
Pozo Colorado: „Das ist unser Reichtum, das ist unser Ort“
Erica Chañari ist die Präsidentin der Gemeinschaft „Pozo Colorado“, die sich zusammen mit anderen Gemeinschaften im Gebiet der Salinas Grandes und der Laguna Guayatayoc befindet. Die Gemeinschaft arbeitet in den Salzwüsten eng verschränkt mit dem Tourismusaufkommen in ihrem Gebiet. Für Erica ist diese Verfassungsreform kein Zufall und steht in direktem Zusammenhang mit der in den letzten Jahren gestiegenen globalen Nachfrage nach Lithium.
„2019 gab es den ersten Versuch, die Lithiumexploration in Las Salinas voranzutreiben. Wir haben uns schnell dagegen gewehrt, weil wir nicht informiert wurden und weil wir es nicht wollen. Der Gouverneur ist nie auf uns zugegangen, und seitdem hat er begonnen, die Mobilisierungen gegen diese Vorhaben zu unterbinden. Von diesem Moment an hat sich das alles aufgebaut. Was er jetzt in den einzelnen Gebieten eh schon macht, hat er mit der Änderung der Provinzverfassung erweitert“, sagt Chañari.
Für den Präsidenten der Gemeinde „Pozo Colorado“ ist die Situation sehr ernst, denn: „Wir haben immer weniger Schutz für unsere Rechte und Territorien. Viele Menschen haben für ihn (Morales) gestimmt, ohne zu wissen, was diese Reform bedeutet, weil wir nicht informiert wurden“. In Las Salinas wird das Leben verteidigt: „Unsere Lebensqualität wird verteidigt, es geht um die Luft und das Wasser. Das ist unser Reichtum, wie unsere Vorfahren uns gelehrt haben, das ist unser Ort und wir schützen ihn.“
Omaguaca-Gemeinschaft: „Wir werden unser Wasser verlieren“
Mercedes Maidana ist eine indigene Lehrerin aus der indigenen Gemeinschaft der Omaguaca und demonstrierte zusammen mit Gleichgesinnten aus der indigenen Gemeinschaft der Kolla in der Stadt Humahuaca, um gegen die Arbeitsbedingungen ihrs Berufes und die Verfassungsreform zu protestieren. „Da wir keine Juristen sind, wissen wir nicht, was diese Reform in ihrer Anwendung bedeutet, denn es gab keine Befragungen oder Information“, prangerte die Lehrerin an.
Ihre Rechte sind ihr jedoch bekannt und werden verteidigt: „Die Konvention 169 der IAO, die Verfassungsrang hat und auf nationaler Ebene angepasst werden muss, verlangt eine vorherige freie und umfassende Information und Anhörung, und das ist nicht geschehen. Wir wollen diese Situation anprangern, weil wir nationale Rechte haben, die es uns ermöglichen. Andernfalls ist es nur eine leere Behauptung, ein ‚Subjekt des Rechts‘ zu sein“.
Für die Lehrerin ist diese ausdrückliche Änderung sehr ernst: „Jujuy ist eine Bergbauregion und dies könnte bedeuten, dass die gesamte Produktion und die Lebensweise der Bevölkerung verändert wird“. Sie fügte hinzu: „Das Schlimmste ist, dass wir unser Wasser verlieren werden, und nicht nur die Gemeinden, wir alle werden es verlieren“.
Kolla-Gemeinschaft von Caspalá: „Es tut weh, misshandelt zu werden“
Lucía und César Apaza stammen aus der Kolla-Gemeinde der Stadt Caspalá im Departamento [argentinischer Verwaltungsbezirk] Valle Grande. Am vergangenen Montag marschierten sie nach San Salvador de Jujuy, um gegen die Verfassung zu protestieren und auf die besondere Situation ihres Volkes aufmerksam zu machen. „Wir unterstützen die Lehrer, aber wir unterstützen auch die Proteste gegen die Verfassungsreform, weil das, was sie (die Regierung) tun, ungerecht ist“, sagte Lucía und warnte vor den Gefahren der Umsetzung der Verfassungsänderung: „In unserem Dorf hat bereits die Enteignung unseres Territoriums stattgefunden und wir haben eine Menge Probleme, um überhaupt respektiert zu werden“.
César erklärte, dass sie sich mit verschiedenen Gemeinden treffen, um die Reform zu stoppen, „weil unser ganzes Land, alle Gemeinden und die gesamte Bevölkerung von Jujuy von dieser Änderung betroffen sein werden. Wir können nicht länger mit dieser Tyrannei leben“.
„Wir erheben unsere Stimmen, damit sie uns zuhören“, versicherte César. Für das Mitglied der Kolla-Gemeinschaft bedeutet die Reform die Abschaffung aller Garantien und der Möglichkeit, in Frieden zu leben. „Es ist nicht möglich, mit Landnahme und Unterdrückung zu leben. Wir leben ein ruhiges, einfaches Leben. Wir leben von unserer Landwirtschaft, unserer Viehzucht und unserem Kunsthandwerk. Es tut weh, dass sie uns misshandeln, es tut weh, dass sie uns so behandeln, nicht nur in meiner Stadt, in meiner Gemeinde, sondern auch in der ganzen Provinz Jujuy.“
Gemeinde Chalala: „Wir wollen das Leben in der Gemeinschaft verteidigen“
Sara Choquevilca ist Mitglied der indigenen Gemeinschaft von Chalala, einem Dorf zwei Kilometer von Purmamarca entfernt. Sara Choquevilca erklärte, dass die Chalala-Gemeinde die Reform für illegal hält: „Es gab keinen partizipativen Prozess, wir prangern die fehlende Befragung und Zustimmung der indigenen Gemeinschaften an, die diese Provinz ausmachen“. Im konkreten Fall der Gemeinde Chalala erläuterte Sara, dass sie seit mehr als zwei Jahren einen konkreten Konflikt um Gemeindeflächen austrägt, bei dem „die Regierung die Rechte der Gemeinde an ihrem Gemeinschaftseigentum, das seit zwanzig Jahren rechtmäßig besteht, ignoriert“.
Im Zuge der zunehmenden Immobilien- und Tourismusspekulationen in der Quebrada de Humahuaca, ist der Zugang zu einem Grundstück unmöglich: „Unsere Ländereien werden mit Millionen von Dollar bewertet, sodass es für die Menschen unmöglich ist, sie auf herkömmliche Weise zu erwerben“. Und er fügte hinzu: „Durch die Wiedererlangung der Erbrechte können die Bewohner ihr Land zurückgewinnen und sich darauf niederlassen. So entstand die indigene Gemeinschaft, in der 102 Familien zusammengeschlossen sind und die größtenteils in der Tourismusbranche in Purmamarca, einer weltweit bekannten Tourismusregion, arbeitet“.
„Die Familien haben das Recht, ihr Land zu besitzen und in Würde darauf zu leben. Heute sind viele Familien von Einschränkungen im Zugang zu Wasser- und Elektrizitätsdiensten betroffen, weil der Provinzstaat die Eigentumsrechte der Gemeinschaft nicht anerkennt und droht, die Familien aus der Gemeinschaft zu vertreiben“.
Aus diesem Kontext ergeben sich für ihn auch die Risiken der Reform: „Wir wissen, dass unsere Rechte stark eingeschränkt werden. Wir wissen um den Reichtum an Mineralien in der Nähe von Purmamarca, das Lithium in Las Salinas. Und wir wissen auch, dass private Unternehmen ein Interesse daran haben, diese Bodenschätze zu monopolisieren. Wir wollen das Leben am Ort in der Gemeinschaft in Purmamarca verteidigen. Wir wollen auch in Zukunft die Landschaft, die Natur und den Tourismus beschützen.“
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