(Managua, 28. August 2018, taz).- Wer in diesen Tagen in Nicaragua oppositionelle Student*innen und andere Aktivist*innen treffen will, verbringt viel Zeit in Cafés, Hinterzimmern von Restaurants und Einkaufszentren. Kaum jemand lebt zuhause, viele wollen sich nicht unnötig in der Öffentlichkeit zeigen, die großen Universitäten sind geschlossen. Doch dieses Mal ist das Warten umsonst. „Ich kann aus Sicherheitsgründen nicht kommen“, schreibt Edwin, den alle unter dem Namen „El Sombrerito“ kennen. „Ein Auto mit zwei seltsamen Personen verfolgt mich.“
Der Zeitpunkt für das Gespräch ist ungünstig. Es ist der 22. August. Unweit unseres vereinbarten Treffpunkts im Zentrum Managuas sind Anhänger*innen der regierenden Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) auf den Straßen. Mit den schwarz-roten Fahnen der Partei ziehen sie durch die Innenstadt. Regierungschef Daniel Ortega hat zur Kundgebung aufgerufen, um den 40. Jahrestag der Besetzung des Nationalpalasts zu feiern, mit der die Sandinist*innen den Sieg gegen das Regime des Diktators Anastasio Somoza einläuteten. Ein gefährlicher Moment für einen bekannten Studenten wie Edwin.
Vom Podium herunter spricht Ortega von der „nicaraguanischen Familie“, die durch den Terror der Studenten verletzt worden sei. „Vergiftete Seelen“ hätten einen bewaffneten Aufstand gegen das Volk organisiert, ruft er. Die Botschaft kommt an: „Mörder, Mörder, Mörder“ brüllen die Anhänger*innen des Präsidenten, der die Oppositionellen immer wieder als Terroristen und Putschisten beschimpft hat. Kurz zuvor redet Ortegas Frau, Vizepräsidentin und Kommunikationschefin Rosario Murillo im Regierungssender Canal 4 von den „Perversen“, „Bösartigen“ und „Neidischen“, die Nicaragua zerstören wollten: „Sie haben es nicht geschafft und sie werden es nicht schaffen. Das können wir ganz sicher ausschließen, weil es nicht Gottes Wille ist.“ Dann verliest sie religiöse Sprichwörter.
Zehntausende sind auf der Flucht
Das Regime schlägt zu. Ende Juli haben Polizisten und paramilitärische Gruppen die letzten Barrikaden geräumt und damit einen vier Monate dauernden Protest von den Straßen Nicaraguas zurückgedrängt. Die offensiven Aktionen, mit denen Student*innen, Bauernorganisationen, Feministinnen und andere Kritiker*innen der sandinistischen Regierung den Rücktritt Ortegas durchsetzen wollten, waren damit vorerst beendet. Doch seither vergeht kein Tag, an dem nicht Oppositionelle verhaftet und terrorisiert werden. Ständig verlassen Menschen das Land, weil sie des Lebens bedroht werden: Kirchenvertreter und Politiker*innen ebenso wie studentische Aktivist*innen oder deren Angehörige. Mehrere zehntausend Menschen sind auf der Flucht.
Vergangene Woche flüchtete der Pfarrer César Augusto Gutiérrez um, wie er sagte, der „Operación Limpieza“, der „Operation Säuberung“ zu entgehen. Dem Geistlichen, der im rebellischen Stadtteil Monimbó von Masaya tätig war, wirft die Regierung vor, den Terrorismus finanziert zu haben. „Total absurd“, reagiert Gutiérrez, dessen Kirche in diesen Tagen einen verwaisten Eindruck macht. Seit Paramilitärs die Kontrolle in dem Viertel übernommen haben, sind die Einwohner*innen von Monimbó vorsichtig geworden. Als die Barrikaden noch standen, sei es hier sicherer gewesen, erklärt eine junge Frau, die auf der Straße Maisfladen verkauft. „Doch jetzt patrouillieren die da“, sagt sie und wirft einen vorsichtigen Blick auf einen Pick-Up mit drei Männern. „Die Regierung zahlt ihnen 10.000 Cordobas im Monat.“ 300 Euro, um die Bevölkerung zu terrorisieren.
CENIDH: Tausend illegale Festnahmen
Insgesamt habe es bereits tausend illegale Festnahmen gegeben, erklärt Vilma Nuñez von der Menschenrechtsorganisation CENIDH. Sie bezeichnet die systematische Suche nach Oppositionellen als „Menschenjagd“. Maskierte Paramilitärs, von Ortega „freiwillige Polizisten“ genannt, und Uniformierte dringen in Wohnungen ein, verschleppen Anwält*innen, Student*innen oder andere Aktivist*innen. Manche landen in Polizeistationen, wo sie Gefahr laufen, misshandelt zu werden wie etwa der 14jährige, dem Polizisten vergangene Woche die Buchstaben FSLN mit einem Messer in dem Arm ritzten.
Einige sind bis heute verschwunden, andere tauchen in Gefängnissen wieder auf. So etwa Carlos Cárdenas Zepeda. Der Rechtsanwalt beriet die Bischöfe während des inzwischen ausgesetzten „Nationalen Dialogs“, in dem das oppositionelle Bündnis Alianza Cívica mit der Regierung über eine Lösung des Konflikts verhandelt hatte. Vergangene Woche holten ihn Vermummte aus seiner Wohnung. „Sie haben ihn vor den Augen seiner zehnjährige Tochter aus dem Haus gezerrt“, berichtet sein Kollege Francisco Ortega, der sich um den Fall kümmert. Zwei Tage lang suchte er nach Zepeda. Dann machte er den Juristen im „El Chipote“ ausfindig – jenem Gefängnis von Managua, in dem mehrere Student*innen gefoltert wurden.
Vergeblich versuchte Anwalt Ortega daraufhin, dass Zepedas Frau ihren Mann besuchen kann. Das nötige Dokument hat er eingereicht. „Aber hier kümmert sich niemand um das Recht“, sagt er, während er mit ihr vor dem blauen Gittertor des Gefängnisses steht. Am Zaun des „Chipote“ hat die Regierung die Bilder von Polizisten aufhängen lassen, die während der Unruhen gestorben sind. Neben den Fahnen der FSLN haben sich angebliche Angehörige der Beamten versammelt, die ein scharfes Vorgehen gegen die „Terroristen“ fordern. Eine Art Mahnwache, so der erste Eindruck. „Doch das sind bezahlte Leute der Sandinisten, ich kenne einige von ihnen,“ erklärt Ortega.
„Ich bin immer noch Sandinist, nur kein Orteguist“
Der 55jährige kommt in diesen Tagen nie zur Ruhe. Ständig klingelt sein Handy, oft geht es darum, Verschleppte ausfindig machen. Dabei kümmert er sich schon jetzt um acht Familien, deren Söhne während der Proteste erschossen wurden. Wie viele seiner Generation hat er einst in der FSLN gekämpft – damals, als es gegen Somoza und die konterrevolutionären Contras ging. Dreimal wurde er verwundet, er geht am Stock und trägt eine Beinprothese. Bis heute sei er seinen Zielen treu geblieben: „Ich bin immer noch Sandinist, nur kein Orteguist“, sagt er. Seine ehemaligen FSLN-Genoss*innen werfen ihm vor, vom CIA finanziert zu werden, weil er „die Terroristen“ verteidige. Francisco Ortega kann darüber lachen. Ihn besorgt eher, dass auch zwei seiner Kinder das Land verlassen mussten.
Mehrere Tage sind wir zusammen unterwegs, kurz darauf wird er mit dem Mediziner José Antonio Vásquez vorübergehend festgenommen. Der Gynäkologe Vásquez ist einer von 240 Ärzt*innen und anderen Arbeiter*innen im Gesundheitssektor, die entlassen wurden, nachdem sie verletzte Demonstrant*innen medizinisch versorgt haben. Zusammen mit Francisco Ortega landet er für eine Tag im Gefängnis „El Chipote“, dann werden die beiden wieder freigelassen.
Iskra Malespín sitzt an einem Schreibtisch an einem sicheren Ort. Ihre Geschwister haben Nicaragua inzwischen verlassen, aber auch sie lebt gefährlich. „Zwei maskierte Typen sind in unser Haus eingestiegen und haben mich gesucht, aber ich war nicht da“, berichtet die junge, aufgeweckte Frau. Seither ist sie nicht mehr zuhause gewesen, aber die Mutter bestand darauf, dass die anderen Kinder nicht daheim bleiben. Iskra lebt mit 46 weiteren Kommiliton*innen in einem „Sicherheitshaus“ außerhalb der Stadt. Ein Gebäude, das die Polizei nicht kenne, meint sie. Auch sie muss jeden Schritt genau abwägen. Als bekannte Aktivistin der Studentenbewegung ist sie auf der Liste der staatlichen Häscher, von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission erhält sie Schutzmaßnahmen.
Hoffnung auf friedliche Lösung
Malespín schrieb gerade ihre Abschlussarbeit, als die Student*innen am 18. April das erste Mal auf die Straße gingen. Dass ihre akademische Karriere vorerst beendet ist, ist ihr egal. „Einige Kommilitonen sind gestorben, andere sind auf der Flucht und können nicht zur Uni gehen“, sagt sie selbstbewusst und schiebt ihr langes, lockiges dunkelblondes Haar zur Seite. „ich will nicht an einer Universität studieren, die in Blut getränkt ist.“ Die junge Frau war vom ersten Moment an dabei: bei den Demonstrationen gegen die Sozialreform, und auch, als Paramilitärs und Polizisten gegen die Barrikaden vorgingen. „Am Anfang verteidigten wir uns mit unseren Kugelschreibern, später mit selbstgebauten Geschossen, die niemanden töten“, erklärt sie.
Von einem bewaffneten Aufstand, wie Ortega behaupte, könne nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Malespín hofft, dass der Dialog zwischen der Alianza Cívica und der Regierung wieder aufgenommen wird und sich eine friedliche Lösung findet. Ob das klappt? „Ortega wird auf jeden Fall gehen“, ist die Studentin überzeugt, „allerdings ist nicht auszuschließen, dass vorher noch viele Menschen sterben.“ Am vergangenen Samstag sind trotz der Repression wieder Tausende in mehreren Städten Nicaraguas gegen das Regime auf die Straße gegangen.
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Das ist schon ein ziemlich furchtbares Gefühl, dass sich die Köpfe der Revolution, die mensch als Brigadist unterstützt hat sich nun so gegen Ihre Jugend richtet und sich so verhält, wie Somaza es tat.
Wütende Grüße
Fritz