(London, 22. September 2023, open democracy).- Am 16. August beschlagnahmte die nicaraguanische Regierung willkürlich das Eigentum und das Vermögen der Zentralamerikanischen Universität von Nicaragua (UCA) und kriminalisierte diese mit dem unbegründeten Vorwurf, ein „Zentrum für terroristische Handlungen“ zu sein.
Dabei handelt es sich um einen Akt extremer Intoleranz und politischer Gewalt gegenüber der religiösen Gemeinschaft der Jesuiten und der Universität. Beide haben in der Vergangenheit die Opfer struktureller Gewalt in ihrem Kampf gegen Ungleichheit, Machtmissbrauch und staatliche Unterdrückung des gegenwärtigen autokratischen Regimes begleitet und unterstützt.
In den 63 Jahren ihrer Existenz hat die UCA in den unterschiedlichsten Epochen des Landes bewiesen, dass es möglich ist, allen Bevölkerungsgruppen eine qualitativ hochwertige Hochschulbildung anzubieten, um so zu einem wirklich menschlichen und nachhaltigen Entwicklungsmodell beizutragen. Und dies trotz der Tatsache, dass das Regime den Etat der Universität in den letzten vier Jahren um 240 Millionen Córdobas (6,2 Millionen Euro) gekürzt hat. Außerdem wurde die Universität seit März 2022 durch die verabschiedete Reform des Gesetzes 89 von den sechs Prozent des Gesamthaushalts ausgeschlossen – eine Vergeltungsmaßnahme und ein gescheiterter Versuch, die Universität in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben.
Recht auf Bildung für 40.000 Studierende eingeschränkt
Mit der Beschlagnahmung der UCA sind nun bereits 27 Privatuniversitäten, Hunderte von Akademiker*innen und rund 40.000 Studierende betroffen, denen „das Recht auf hochwertige Bildung, akademische Freiheit, freie Meinungsäußerung, Pluralismus der Ideen, menschliche Entwicklung und Zivilgesellschaft zum Schaden der Demokratie“ eingeschränkt wird, schreibt die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) am 31. August 2023.
Diese willkürliche Aktion unterstreicht die Absicht des Ortega-Murillo-Regimes, alle Räume dichtzumachen, die kritisches Denken, den freien Austausch von Ideen und fundierten Debatten über Themen ermöglichen, die das Land und die Welt betreffen. Es ist nicht verwunderlich, dass alle im Land bestehenden Wissenschaftsakademien geschlossen wurden. Es handelt sich um eine repressive Maßnahme, deren Ursache im Aufstand der Zivilgesellschaft im April 2018 liegt. Damals demonstrierten zunächst Hunderte junger Studierende gegen die verantwortungslose und passive Haltung der Ortega-Regierung angesichts der katastrophalen Waldbrände im Biosphärenreservat Indio Maíz, im Departement Río San Juan.
Wenige Tage nach diesen spontanen Aktionen brach die Empörung bei den jungen Studierenden und Bürger*innen erneut aus: Sie gingen auf die Straßen, um die Älteren zu unterstützen. Diese hatten gegen eine Reform der Sozialversicherung demonstriert, die ihre mageren Renten noch prekärer machen sollte und die dafür von „Parapolizisten“ und Schlägertrupps angegriffen wurden.
Regierung spricht von Putschversuch
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass das Ortega-Murillo-Regime – von Beginn dieser gesellschaftspolitischen Krise bis heute – ein auf der Verschwörungstheorie eines „Putsches“ basierendes Narrativ in zwei Dimensionen konstruiert und verbreitet hat: a) Ein Militärputsch, der im April 2018 stattfand, als die Bürger*innen spontan und friedlich auf die Straßen der wichtigsten Städte des Landes gingen. Diese wurden von der Ortega-Murillo-Regierung als „terroristische Aktionen“ ausgelegt, die den Frieden und die staatliche Ordnung angreifen würden. Damit würde der Weg zum Wohlstand des Landes, den die „gute Regierung des Wiederaufbaus und der nationalen Einheit“ gefördert hätte, behindert; und b) ein politischer Staatsstreich, inszeniert von mehreren nationalen Akteur*innen und angeführt von den Regierungen der USA und der EU, die durch wirtschaftliche und politische Sanktionen Druck auf das Regime ausüben würden. Dies wurde von Ortega und Murillo als Einmischung und imperialistische Aggression ausgelegt, welche die Souveränität des Landes untergrabe und die Interessen des „Volkes“ angreife.
Mit diesen Argumenten hat das Regime versucht, sein repressives Vorgehen zu rechtfertigen. Ein tödliches Vorgehen, das von internationalen und nationalen Menschenrechtsorganisationen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wird und das die Leben von 355 Menschen (darunter 29 Kinder), zweitausend Verletzte, mehr als tausend willkürliche Inhaftierungen mit unmenschlicher Behandlung und das erzwungene Exil von mindestens 750.000 Nicaraguaner*innen gefordert hat. Hinzu kommt die Verbannung und Ausbürgerung von 320 Nicaraguaner*innen am 9. Februar 2023.
Die Ortega-Regierung ist das einzige Regime in der lateinamerikanischen Hemisphäre, das es fertig gebracht hat, acht Präsidentschaftskandidat*innen (Félix Maradiaga, Juan Sebastián Chamorro, Medardo Mairena, Miguel Mora, Cristiana Chamorro, Pedro Joaquín Chamorro, Arturo Cruz, Noel Vidaurre) im Vorfeld der letzten Wahlen im November 2021 festzunehmen. Darüber hinaus wurden alle Räume für Bürgerbeteiligung und Selbstorganisation geschlossen, indem mindestens 3.800 soziale und nichtstaatliche Organisationen aufgelöst wurden, darunter Umweltschutzgruppen, feministische Organisationen und Gruppen zur Gemeindeentwicklung.
Die historischen Ursprünge der Krise
Um die Natur dieses autokratischen Regimes zu verstehen und die verheerenden und mehrdimensionalen Auswirkungen deutlich zu machen, die die verschiedenen Ausdrucksformen politischer Gewalt auf die nicaraguanische Gesellschaft haben, muss man dem Ursprung der aktuellen gesellschaftspolitischen Krise in Nicaragua auf den Grund gehen – zumal diese eine potenzielle Auswirkung auf weitere zentralamerikanische Länder haben kann.
Die aktuelle gesellschaftspolitische Krise ist das Ergebnis eines Prozesses des Demokratieabbaus in Nicaragua, dessen Ursprung in der komplexen und unvollendeten politischen Übergangsphase seit den 1990er Jahren zu verorten ist. Im Kontext der neoliberalen Befriedung hat die FSLN unter der Führung von Daniel Ortega darauf gedrängt, die Kontrolle über die Posten im Justiz- und Wahlbereich zu behalten.
Pakt zwischen Ortega und Alemán 2006
Dies geschah durch den Pakt zwischen Ortega und Expräsident Arnoldo Alemán, in dem beide Parteichefs eine Straffreiheit zu ihren Gunsten aushandelten: a) im Fall von Alemán bedeutete das die Änderung der Haftbedingungen und die anschließende Einstellung seiner Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Veruntreuung von öffentlichen Geldern sowie Fördermitteln der internationalen Zusammenarbeit, die für die humanitäre Hilfe nach dem Hurrikan Mitch im Jahr 1998 bestimmt waren; und b) im Fall von Ortega die Bewahrung seiner parlamentarischen Immunität, um einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs an seiner Stieftochter Zoilamérica Ortega Murillo zu entgehen. Diese hatte damals Klage beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen ihren Stiefvater eingeleitet.
Der Pakt ermöglichte Ortega, die Untergrenze für einen Wahlsieg auf 35 Prozent zu senken, wenn zwischen dem ersten und dem zweiten Platz der Kandidaten ein Unterschied von mindestens fünf Prozent besteht. Auf diese Weise kehrte Ortega mit den Wahlen 2006 an die Macht zurück und setzt seitdem ganz auf die Kontrolle der horizontalen Macht: Er amputierte das Prinzip der Gewaltenteilung, indem er das Wahlsystem, das Justizwesen und die weiteren öffentlichen Einrichtungen den Parteiinteressen und der Exekutive unterordnete. Die Kontrolle über das Wahlsystem ermöglichte es ihm, das Parlament zu übernehmen bis seine Partei eine bequeme Mehrheit erreichte.
Kontrolle über alle Rathäuser
So entstand praktisch eine Art wahlpolitische Apartheid, die von Betrug und Unregelmäßigkeiten bestimmt wurde und deren Ergebnisse zu Gunsten der FSLN ausfielen. Ein weiteres Ergebnis, das die FSLN im Rahmen ihrer Strategie zur Kontrolle der Wahlbehörde CSE in Verbindung mit der Ausweitung des Netzwerks von Bürgerräten (CPCs – Consejos del Poder Ciudadano) und Bürgerkabinetten (GPC) erzielte, war die Erhöhung der Zahl der von ihr kontrollierten Bürgermeister*innen. Derzeit verfügt die FSLN über die sagenhafte Kontrolle von 100 Prozent aller Rathäuser im Land. Das bedeutet landesweit eine enorme Einflussmöglichkeit auf allen Regierungsebenen.
Ortegas andere Strategie bestand darin, die Kontrolle über die vertikale Macht zu erlangen. Durch das Präsidialdekret Nr. 03-2007 wurden mit der Schaffung von Bürgerräten und -kabinetten vertikale Strukturen der Zentralregierung eingerichtet, über welche die Sozialprogramme der Exekutive und ihrer Ministerien kanalisiert werden sollten. Diese neue institutionelle politische Dynamik schränkte andere Formen der Koordination und der Bürgerbeteiligung zunehmend ein.
Mit der Einsetzung der CPCs wurde die kommunale Autonomie untergraben und die führende Rolle der Gemeinderäte bei der territorialen Entwicklung eingeschränkt. Basierend auf diesen Strukturen findet a) die wichtigste Interaktion der Bürger*innen nicht mehr mit den Bürgermeister*innen, sondern mit den Delegierten der Ministerien und dem politischen Sekretär der Regierungspartei statt; b) da es sich dabei nur um eine Partei handelt, wird das Mehrparteiensystem und der plurale Charakter der Bürgerbeteiligung untergraben; und c) die CPCs wurden als Organisationsstrukturen mit dem Ziel gegründet, die politische Hegemonie der FSLN wiederherzustellen und fungierten anschließend als Bindeglieder im Repressionsapparat gegen die demonstrierenden Bürger*innen.
Zusätzlich zur Kontrolle der horizontalen Macht – zwischen den Staatsgewalten – und der vertikalen Macht – in den Provinzen – plante und koordinierte das Regime über seine verschiedenen Einrichtungen und Machtbereiche die Ausübung exzessiver politischer Gewalt gegen alle Gruppen, die eine Gefahr für seine Interessen darstellten.
Bereits zwischen 2011 und 2017 wurden 50 Bauern getötet
Auf für autoritäre Regimes charakteristische Weise hatte die Regierung Ortega bereits zuvor bewiesen, dass sie im Umgang mit Konflikten und kritischen Situationen über Leichen geht. Zwischen 2011 und 2017 wurden im nördlichen Teil der Karibikregion und im Zentrum des Landes 51 Bauern gefoltert und ermordet.
Nach Angaben der Regierung waren diese Todesfälle das Ergebnis „bewaffneter Auseinandersetzungen“ zwischen Polizei und Armeeangehörigen. Berichten des nicaraguanischen Zentrums zur Verteidigung der Menschenrechte (CENIDH) zufolge waren viele der Opfer dieser Hinrichtungen Mitglieder oppositioneller politischer Parteien, ehemalige Mitglieder des Widerstands oder Anführer, die sich gegen Ortegas Wiederwahl gerichtet hatten. Ortega stufte diese als Kriminelle, Verbrecherbanden oder Drogenhändler ein. Repression war nicht nur ein Mittel, das das Regime zur Unterdrückung von Mobilisierungen einsetzte, sondern auch, um die Voraussetzungen für kollektives Handeln zu unterbinden.
Jesuiten zeigen sich entschlossen
Trotz dieser kritischen Umstände hat das Ortega-Regime nicht mit der Hartnäckigkeit und Entschlossenheit der Jesuiten gerechnet, die nicaraguanische Bevölkerung zu unterstützen. So wie es die UCA von El Salvador an der Seite der Salvadorianer*innen getan hat, selbst nach der Ermordung von sechs Jesuitenpriestern und zwei Mitarbeiterinnen im November 1989.
Mit der Schließung der UCA von Nicaragua und selbst mit der Vertreibung der Jesuiten aus dem zentralamerikanischen Land wird die Jesuitengemeinschaft in ihrem Engagement für die Förderung der Gerechtigkeit nicht nachlassen. Die Gemeinschaft wird auch im Exil tätig bleiben.
Die nicaraguanische Gesellschaft steht vor der Herausforderung, hart für einen Demokratisierungsprozess und die Neubildung der Institutionen zu kämpfen. Ziel muss die Bildung einer Regierung sein, die einen Rechtsstaat, die Demokratie und Bürgerrechte über Machtambitionen, Intoleranz, Gewalt und illegitime politische Hegemonie stellt.
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