(Tegucigalpa, 11. Oktober, Radio Progreso).- Mit Radio Progreso sprach die nicaraguanische Schriftstellerin und Lyrikerin Gioconda Belli über ihr zweites Exil. Das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo nahm ihr fast alles: ihren Besitz, ihr Haus in Managua, den „Mittelpunkt ihrer Welt“, das sie seit den 1980er Jahren besaß, und ihre Staatsbürgerschaft. Trotzdem bleibt Belli optimistisch, was die Zukunft Nicaraguas angeht. Sie glaubt fest daran, dass keine Tyrannei auf ewig währt und dass ihrem Land eine bessere Zukunft bevorsteht. Als politische Aktivistin ist sie überzeugt, dass das Volk die notwendigen Kräfte mobilisieren kann, um Veränderungen herbeizuführen. Belli war in den 1970er Jahren in den Kampf gegen die Somoza-Diktatur involviert und schloss sich später der sandinistischen Bewegung an. Dort trat sie als internationale Pressevertreterin der FSLN und als Leiterin des staatlichen Ressorts für Kommunikation auf. Bellis Schriften handeln von den politischen und sozialen Kämpfen in Nicaragua, ihr Fokus ist die geschlechtlich motivierte Unterdrückung. Durch ihre literarischen Werke erlangte sie internationale Bekanntheit und erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Mariano-Fiallos-Gil-Preis für ihr Buch „Sobre la grama“. Während in Nicaragua Spannungen und Repressionen zunehmen, drücken Bellis Schriften die Hoffnung aus, dass Widerstand auch in den schwierigsten Zeiten zum Erfolg führen kann.
RP: Was haben wir falsch gemacht? Wie konnten wir zulassen, dass diese vielversprechende Revolution so endet?
GB: Wahrscheinlich war die Revolution eben doch nicht so erfolgreich, wie wir dachten. Ich glaube, wir sollten selbstkritisch zurückblicken. Bei einer Revolution passiert immer das Folgende: Wenn wir Revolutionäre an die Macht kommen, wollen wir einfach zu schnell zu vieles auf einmal, wir denken, wir hätten in allem Recht, wüssten alles, und deshalb wollen wir auch alles von einem Tag auf den anderen verändern. Die Linke denkt grundsätzlich, dass die Reichen der Feind sind, und daraus leitet sich dann ein Diskurs ab, der mit der Realität der Länder, in denen wir leben, nicht übereinstimmt. Man sollte den Reichen enorme Steuern auferlegen, das schon. Die Armut wird aber nicht von einem Moment auf den anderen überwunden, nur weil man den Reichen ihren Besitz wegnimmt. Im Gegenteil, das macht das Land nur noch ärmer, weil die Leute, die Geld haben, das Land verlassen, das haben wir in Kuba und Venezuela gesehen. Und in Nicaragua passierte Folgendes: Wir wurden sehr dominant, wir wollten die Dinge auf unsere Weise machen, wir wollten, dass die Menschen verstehen, was wir taten, wir wollten, dass die Bauern verstehen, dass es zu ihrem Besten war, aber dann endete alles in einem großen Unverständnis. Und als dann der Krieg anfing, bekamen die autoritären Stimmen die Oberhand, und alle Veränderungen und Träume, die wir verwirklichen wollten, wurden auf nach dem Krieg verschoben. Und als der Frieden kam, waren die Leute müde und wollten einfach nur Veränderung, sie wollten keinen Krieg mehr, und so kam es, dass Violeta Chamorro gewann, auch wenn das jetzt sehr vereinfacht ausgedrückt ist.
RP: Was bedeutet dieses zweite Exil für dich? Was bedeutet es, nun als Feindin des Vaterlands gelabelt zu werden?
GB: Viele von uns wussten ja bereits, was passieren würde, als Daniel Ortega im Jahr 2018 die Wahlen gewann, weil er sich einfach nicht sandinistisch verhalten hatte. Einer der Kämpfe, die er verraten hat, war die therapeutische Abtreibung, dabei hatten schon Feministinnen im 19. Jahrhundert darum gekämpft. Er verbündete sich sogar mit Arnoldo Alemán, einem der korruptesten Präsidenten, die Nicaragua je hatte, und das nur, weil er die Macht nicht abgeben wollte. Dann fing er an, die Verfassung zu ändern, er wurde zum Betrüger. Im Jahr 2018 wollte das Volk ihn nicht mehr an der Macht haben. Es gab riesige Mobilisierungen, zum Beispiel gegen das Sozialversicherungsgesetz, aber leider reagierte die Regierung gewaltsam auf die Proteste. Sie begannen, mit Gewalt gegen friedliche Proteste vorzugehen, die unbewaffnete Bevölkerung anzugreifen, Studenten zu töten, die sich in der Uni verschanzt hatten. Seither hat die Gewalt nie aufgehört, und ich denke, Ortega hegt einfach Rachegefühle gegenüber allen, von denen er annimmt, dass sie die Proteste mit angezettelt haben. Ich selber war nicht mal vor Ort, als das alles losging, ich war in einer Autorenresidenz in Italien, das heißt, ich hatte mit nichts was zu tun. Natürlich haben wir die Mobilisierungen unterstützt, aber es ging alles von den Menschen selbst aus. Und nun brandmarkten sie uns als Verräter, weil wir ihrer Meinung nach alles unternommen haben, um einen Staatsstreich anzuzetteln, sie behaupten sogar, wir seien Verbündete der USA, wobei die uns ja wirklich alleingelassen haben, denen war es egal, was in Nicaragua passiert.
Im September wurdest du enteignet, da haben sie dir auch dein Haus weggenommen. Wie geht’s dir damit?
Das war sehr schmerzhaft, und es war auch wie ein Schock, denn da bin nicht nur ich. Wir sind ein Haufen Leute, die für die Revolution gekämpft haben, wir haben dem Kampf unsere Jugend gewidmet, und dass sie uns das jetzt im Alter antun, ist einfach nicht gerecht, Freunden von mir haben sie nicht nur das Zuhause weggenommen, sondern auch die Altersversorgung gestrichen. Ich kann mich immerhin noch mit meinen Büchern über Wasser halten, aber es gibt Leute, die jetzt vor dem Nichts stehen, weil sie vorher schon in Rente waren. Ich finde es sehr grausam, was sie mit Hochwürden Álvarez gemacht haben. Er hat 26 Jahre Gefängnis gekriegt, weil ihnen seine Positionen nicht gefallen. Für uns alle haben sie sich Anschuldigungen einfallen lassen, ohne Beweise dafür zu bringen. Wir haben nicht mal das Recht, uns gegen all` die Vorwürfe des Verrats zu verteidigen. Ich gebe zu, ich bin verletzt. Es ist nicht einfach, das mit dem Haus zu akzeptieren nach all` der Arbeit, die da drinsteckt, nach all` den Anstrengungen, die es mich gekostet hat. Ich hatte dieses Haus seit 1984, ich dachte, ich würde dort sterben, meine Enkel würden dort wohnen, ich dachte, das Haus würde immer angefüllt sein mit meinen Büchern, meiner Arbeit, meiner Kreativität. Es war ein sehr sehr wichtiger Ort für mich, der Mittelpunkt meiner Welt. Das hat mich bis ins Mark getroffen.
RP: Hat dir das Schreiben geholfen, diesen schwierigen Moment zu überwinden?
GB: Ja, ich bin sehr stark. Dies ist in meinem Leben schon das zweite Exil, und ich werde mich deshalb nicht umbringen, ich bin mehr als das, mein Zentrum sind mein Herz und meine Gedanken. Solange ich denken und arbeiten kann, solange ich lebe und halbwegs gesund bin, werde ich wohl weiterhin das tun, was ich für das Richtige halte. Ich werde weiter für Nicaragua kämpfen, ich habe nie daran gedacht zu schweigen, und sie werden es auch nicht schaffen, mich zum Schweigen zu bringen oder einzuschüchtern. Du nimmst dein Haus nicht mit unter die Erde, wenn du stirbst. Ich nehme meine Würde mit, meine Gedanken und meine Träume, denn die sind immer noch da.
PR: Wenn du über die jetzige Situation ein Buch schreiben würdest, was würdest du schreiben?
GB: Ich empfehle euch meine Memoiren, da schreibe ich über die Kämpfe der Revolution und was ich damit zu tun hatte. Das Buch heißt El país bajo mi piel („Das Land unter meiner Haut“). Ich weiß nicht, ob ich so etwas noch einmal schreiben werde, im Moment schreibe ich Gedichte, und ich habe gerade einen Roman beendet. Ich werde nicht aufhören zu schreiben, denn Schreiben ist für mich gleichbedeutend mit Existieren. Ich schreibe, also bin ich. Ich schreibe, also denke ich. Ich habe keine Lust, einen Roman über Rosario Murillo und Daniel Ortega zu schreiben, denn dann müsste ich viel über sie nachdenken, und das will ich nicht. Ich will es nicht, weil sie mich nicht interessieren und weil sie ein grauenhaftes Paar sind, über das es nichts weiter zu erzählen gibt als dass sie ein katastrophales Dasein führen, ihre Spleens ausleben und langweiligen Reden halten. Sie manipulieren das Volk, sagen, sie seien katholisch, reden von Gott und halten an einem Slogan fest, der nichts weiter ist als eine Lüge: Nicaragua Cristiana, Socialista y Solidaria, Wenn man über jemanden schreibt, muss man gedanklich Zeit mit dieser Person verbringen, um die Welt, in der diese Figur existiert, literarisch zu erschaffen, und ich bin nicht von diesen Leuten inspiriert. Ich habe keine Lust, mich mit ihnen zu befassen.
RP: Wie könnte Deiner Meinung nach ein Ausweg aus der Krise in Nicaragua aussehen?
GB: Es mangelt an lateinamerikanischer und mittelamerikanischer Solidarität. Eure Präsidentin (Xiomara Castro) hat zum Beispiel gesagt, dass sie die Aufhebung der Blockade gegen Nicaragua wünscht. Nicaragua hat aber gar keine Blockade. Nicaragua ist für die USA ein wichtiger Handelspartner. Nicaragua exportiert Fleisch, Gold und alle möglichen Dinge in die USA, jedes Jahr werden fast zwei Milliarden Dollar pro Jahr von Migrant*innen rücküberwiesen, die die Wirtschaft stützen. Es gibt keine Solidarität, wir fühlen uns in Mittelamerika allein. Statt zu verurteilen, was geschieht, stützt man die Regierung Ortega. Man unterstützt die angeblichen Werte dieser Regierung, doch die steht gar nicht wirklich dahinter. Ortega ist kein Linker, er bekämpft nicht die Armut, er will nur immer mehr Reichtum für sich und seine Familie. Und die Sandinistische Front ist mittlerweile nur noch absurd. Als Partei existiert sie nicht mehr. Die Menschen trauen sich nicht, sich zu bewegen; sie haben Angst, eingesperrt zu werden. Es ist eine sehr schwierige Situation. Aber ich bin zuversichtlich, dass es nicht mehr lange so weitergeht, weil die Regierung viel dummes Zeug macht.
RP: Worauf beruhen deine Hoffnungen, und wie erhältst du sie dir?
GB: Ich habe Vertrauen in die Menschen, in die Menschheit. Ich habe immer die Hoffnung, dass sich das Gute durchsetzen wird. Dass eine andere Welt möglich ist, aber das braucht natürlich Zeit. Mit der Revolution habe ich mir bereits einen Traum erfüllt, und ich hoffe, dass auch dieser zweite Traum, zu sehen, dass mein Land frei ist, in Erfüllung geht. Ich weiß nicht, woher ich meine Kraft nehme, aber mein Herz sagt es mir.
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