(Buenos Aires, 22. Juni 2024, CELS).- Zwischenbericht des kirchlichen Hilfswerks Misereor und der argentinischen Menschenrechtsorganisation CELS sechs Monate nach Amtsantritt der Regierung von Javier Milei (La Libertad Avanza) in Argentinien. Im Fokus dieses Berichts stehen die Gefahren, die die Maßnahmen dieser Regierung für die Menschenrechte bedeuten.
Seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2023 hat die Regierung von Javier Milei unter dem Vorwand einer makroökonomischen Stabilisierung die sozialen Leistungen und den Arbeitsschutz für die Mehrheit der argentinischen Bevölkerung heruntergefahren oder abgeschafft und die Umweltpolitik dereguliert. All diese Maßnahmen sind Teil eines Schockprogramms, mit dem die extreme Rechte eine radikale Veränderung des argentinischen Gesellschaftsmodells anstrebt. Außerdem vereint das Bündnis, das Mileis Sieg möglich gemacht hat, unter seinem Dach eine sehr heterogene Gruppe rechter Gruppierungen. Ihr gemeinsamer Nenner ist weniger die Umsetzung eines Wirtschaftsprogramms als vielmehr die Überzeugung, dass sie einen Kulturkampf gegen ein progressives Argentinien führen. Feminismus, Umweltaktivismus, soziale Bewegungen sowie Bewegungen für Menschenrechte und gegen Straffreiheit für die während der Diktatur verübten Verbrechen sind Feinde dieser Koalition.
Einige Regierungsmitglieder sind alte Bekannte der argentinischen Politik, wie zum Beispiel der Wirtschaftsminister und die Sicherheitsministerin, die aus der prorepublikanischen Propuesta Republicana (PRO) des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri stammen und zwischen 2015 und 2019 der Regierung angehörten. Beispiellos ist hingegen die Art und Weise, wie die Regierungsfähigkeit und gesellschaftliche Legitimation hergestellt werden. Dies zeigt zum Beispiel die große Bedeutung sozialer Medien in der Kommunikationsstrategie, über die die vom politischen System enttäuschte Jugend angesprochen wird. Auch wenn dieses Phänomen für Argentinien neu sein mag, so zeigen sich im Bereich der Nutzung des digitalen Raums deutliche Parallelen zu ähnlichen Akteuren in anderen Teilen der Welt. Dabei wird deutlich: Milei ist neben Donald Trump, Jair Bolsonaro, Nayib Bukele, Giorgia Meloni, Santiago Abascal und Viktor Orban Teil einer internationalen rechtsextremen Bewegung. Neben ihrer rechtsextremen globalen Agenda entfernt sich die Regierung auch von Positionen, die Argentinien seit dem Übergang zur Demokratie parteiübergreifend vertreten hatte, und distanziert sich ganz bewusst von der lateinamerikanischen Region. Der Meinungsumschwung bei der Abstimmung zum israelisch-palästinensischen Konflikt und die Infragestellung des Internationalen Gerichtshofs und seiner Strafverfolgungsbehörde haben Argentiniens humanitäres Engagement für den Frieden auf regionaler und internationaler Ebene geschwächt. In internationalen Gremien haben sich verschiedene Regierungsvertreter*innen gegen die Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte, der Rechte von Frauen und Schwangeren und des Umweltschutzes positioniert. Was den MERCOSUR anbelangt, äußert sich Milei skeptisch gegenüber dem Wirtschaftsbündnis und kritisiert es für seine protektionistische Politik und bürokratische Ineffizienz. Dieser Sinneswandel hat Argentinien dazu gebracht, sich innerhalb des Bündnisses stärker zu isolieren und für mehr Flexibilität bei der Aushandlung bilateraler Handelsabkommen mit Staaten außerhalb des Wirtschaftsblocks zu plädieren. Dies führte zu Spannungen mit den anderen Mitgliedstaaten, die einen einheitlicheren Verhandlungsansatz bevorzugen, und hat Auswirkungen auf die Beteiligung Argentiniens an den verschiedenen Menschenrechtsforen, die das Wirtschaftsbündnis für regionale Themen und koordinierte politische Maßnahmen nutzt. Die offene Konfrontation mit dem brasilianischen Präsidenten Inácio Lula da Silva und die scharfen Worte gegen China, den wichtigsten Handelspartner der Region, zeugen von einer ausgesprochen ideologisierten Außenpolitik.
All diese Positionen stehen im Widerspruch zu Argentiniens Tradition, Rechte zu schützen und auszuweiten, die Regeln der internationalen Zusammenarbeit zu respektieren und regionale Integrationsprozesse in Lateinamerika zu unterstützen.
Reformen für Verzwergung des Staates
Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit startete die Regierung Milei einen Angriff auf die Lebensbedingungen und auf die gesellschaftlichen Strukturen in Argentinien. Die Notstandsverordnung Nr. 70/23 (Decreto de Necesidad y Urgencia – DNU) war eine der ersten Maßnahmen der Regierung, in der die Grundzüge dieses Kurswechsels deutlich wurden: So wurden Gesetze geändert, über die ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestanden hatte und die in partizipativen Gremien diskutiert und verabschiedet worden waren. Die argentinische Verfassung erlaubt es zwar der Exekutive, Not- und Dringlichkeitsdekrete zu erlassen, aber nur dann, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die es unmöglich machen, die üblichen Gesetzgebungsverfahren einzuhalten. Das Dekret ist derzeit in Kraft und wirkt sich auf wesentliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens aus. So werden unter anderem Fragen des Gesundheitswesens geregelt, wo eine unkontrollierte Privatisierung stattfindet. Weitere betroffene Bereiche sind das Wohnungswesen mit der Abschaffung des Mieterschutzes, die Arbeitsbeziehungen durch eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Einschränkung des Streikrechts sowie der Umweltschutz und die Landrechte indigener Gemeinschaften. In den ersten Monaten des Jahres versuchte Mileis Team, ein Gesetzeswerk durch das Parlament zu bekommen, das es „Ley de Bases y Puntos de Partida para la Libertad de los Argentinos“ (Basisgesetz und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier) nannte und das wegen seines großen Umfangs unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibusgesetz) bekannt wurde. Nachdem der Gesetzentwurf im Oberhaus aufgrund von Konflikten bei der Aushandlung von Übereinkünften zwischen gleichgesinnten Fraktionen der Mitte und der rechten Mitte gescheitert war, wurde er überarbeitet und gekürzt. Am 17. Juni 2024 wurde diese letzte Fassung des Gesetzespakets und der Steuerreform im Senat verabschiedet.
Die Debatten in beiden Kammern zeigen, welche Politik die Regierung anstrebt: Sie will ein System einführen, in dem die Einkommen aus der verarmten Gesellschaft in die reichen Wirtschaftssektoren umverteilt werden. Durch die Gesetzesreform wird die soziale Ungleichheit verfestigt. Auf der einen Seite profitieren große Unternehmen aus dem In- und Ausland, auf der anderen Seite werden diejenigen benachteiligt, die von ihrem Einkommen leben müssen, insbesondere die Arbeitnehmer*innen und Rentner*innen. Die beiden Gesetzentwürfe ergänzen einander. Die Steuerreform senkt die Vermögenssteuer für die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung und erleichtert die Geldwäsche. Gleichzeitig wird die Einkommenssteuer für die Mittelschicht wieder eingeführt, die bereits von einer Senkung der Reallöhne sowie der Erhöhung der Lebensmittelpreise und der Krankenversicherung betroffen ist. Ebenso wird das Rentenmoratorium aufgehoben, durch das acht von zehn Personen überhaupt in Rente gehen konnten. Das Basisgesetz fördert außerdem das unkontrollierte Outsourcing von Arbeitsplätzen und entbindet diejenigen, die die Produktionsprozesse von Waren und Dienstleistungen in Argentinien steuern, von jeglicher unternehmerischen Verantwortung. Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass die Regierung nach der Ausrufung eines „öffentlichen Notstands in Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Energiefragen“ für die Dauer eines Jahres legislative Aufgaben übernimmt. Obwohl die Befugnisse im Vergleich zur vorherigen Version des Gesetzentwurfs weniger weitreichend sind, strebt die Exekutive weiterhin an, per Dekret zu regieren, um die gesellschaftliche Struktur Argentiniens mit dem Markt als zentraler Achse zu verändern.
Die Finanzziele der Regierung werden auf Kosten der Altersrenten erreicht, und das aktuelle Wirtschaftsszenario weist einen Rückgang der Beschäftigung und der Reallöhne sowie eine Verringerung der Wirtschaftstätigkeit in mehreren Sektoren auf. Nach Schätzungen des Observatorio de la Deuda Social de la Universidad Católica Argentina (Beobachtungsstelle der katholischen Universität Argentinien für soziale Schulden) waren im ersten Quartal 2024 etwa 55,5 Prozent der Bevölkerung von Armut und 17,5 Prozent von absoluter Armut betroffen. Das bedeutet, dass rund 25 Millionen Argentinierinnen und Argentinier arm sind und rund 8 Millionen in extremer Armut leben und sich nicht einmal den Grundnahrungsmittel-Warenkorb leisten können. 2023 lag die Armutsquote noch bei 44,7 Prozent. Dieses Szenario wird durch eine Lockerung beim Schutz der natürlichen Ressourcen des Landes ergänzt. Das Basisgesetz sieht Änderungen vor, die einen enormen Rückschlag für den Umweltschutz bedeuten. Das Gesetz verstößt damit gegen den im Escazú-Abkommen verankerten Grundsatz, dass es nicht zu einem ökologischen Rückschritt kommen darf. Das Escazú-Abkommen war das erste regionale Umweltabkommen in Lateinamerika und wurde 2020 in Argentinien per Gesetz ratifiziert. Dieser Grundsatz des Abkommens wird verletzt, da die vorgeschlagenen Änderungen zu einer Verringerung des erreichten Umweltschutzniveaus führen. Außerdem sollen wirtschaftliche Aktivitäten in der Primär- und Rohstoffindustrie durch eine Reihe von Zoll-, Steuer-, Devisen- und Regulierungserleichterungen begünstigt werden, wobei wichtige Einrichtungen wie die Nationalparkverwaltung abgeschafft und die bereits knappen Mittel für den Schutz der einheimischen Wälder und die Bekämpfung großer Waldbrände gestrichen werden sollen.
Der soziale Unmut nimmt zu
Die Tatsache, dass nun die extreme Rechte an der Macht ist, verschafft ihr nicht nur mehr Gehör und erleichtert die Verbreitung ihrer Hassreden. Darüber hinaus hat sie damit auch die Möglichkeit, die Bevölkerung in großem Stil zu unterdrücken, was in der Verabschiedung eines Handlungsprotokolls für Polizeieinsätze zum Ausdruck kommt. Dieses Protokoll erlaubt es den Sicherheitskräften, öffentliche Demonstrationen aufzulösen, wenn die Demonstrierenden den Verkehr behindern. Ein weiterer Rückschritt in Bezug auf die Ausübung von Polizeigewalt ist die Aufhebung des Verbots des Tragens von Schusswaffen durch Sicherheitskräfte bei Protestaktionen. Diese neue Vorschrift, die nur für die Sicherheitskräfte auf Bundesebene gelten sollte, wird nun als Rechtfertigung für Repressionsmaßnahmen durch die örtliche Polizei verwendet. In den vergangenen sechs Monaten der Milei-Regierung wurden Demonstrationen von sozialen Bewegungen, entlassenen Staatsbediensteten, Rentner*innen, Mitgliedern linker und peronistischer Parteien sowie von Aktivisten*innen, die gegen die Schließung von Kulturprogrammen protestierten, niedergeschlagen. Nach den ersten Demonstrationen verhängte die Regierung astronomisch hohe und praktisch unbezahlbare Geldstrafen in Millionenhöhe gegen mehrere soziale Organisationen und Gewerkschaften, die an den Protesten teilgenommen hatten. Soziale Bewegungen und Organisationen, die demonstrieren, werden weiterhin von den staatlichen Behörden stigmatisiert. Vor kurzem schickte die Zentralregierung sogar Verstärkung in die Provinz Misiones, um eine Demonstration von Lehrer*innen und Polizist*innen niederzuschlagen, die für Lohnerhöhungen auf die Straße gegangen waren, da ihr Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Bei jeder dieser Demonstrationen ging die Polizei mit besonderer Härte vor und verletzte Journalist*innen und Angehörige der Presse, die über diese Veranstaltungen berichteten, teilweise schwer. Diese Versuche, die sozialen Proteste zu unterbinden, sind Teil einer breit angelegten Strategie des Angriffs auf die Pressefreiheit und auf das Recht der Gesellschaft auf Information. Das zeigt sich zum Beispiel in der Schließung der staatlichen Nachrichtenagentur Télam, die eine landesweite Berichterstattung garantiert hatte. Nachdem die Nachrichtenagentur ihre Arbeit einstellen musste, erfolgte die Berichterstattung über die bereits erwähnte Demonstration in der Provinz Misiones ausschließlich durch die unabhängige Presse und mit Hilfe von Videoaufzeichnungen der Demonstrierenden selbst. Die angestrebte allgemeine Beschneidung des zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums geht so weit, dass die Regierung nicht nur damit droht, Protestierenden bestimmte Sozialleistungen zu streichen, sondern auch den Bezug von Leistungen aus einem kürzlich aufgelegten Sozialprogramm denjenigen verwehren will, die an Demonstrationen teilgenommen haben, welche den Verkehr auf öffentlichen Straßen behinderten. Dies betrifft vor allem Menschen, die in Armut leben, keine formelle Arbeit haben und für die der öffentliche Raum die einzige Möglichkeit ist, ihre sozialen Forderungen zu artikulieren. Dennoch gehen die Menschen in Argentinien auch weiterhin auf die Straße, um gegen die sich verschlechternde sozioökonomische Lage zu protestieren. In weniger als sechs Monaten gab es zwei Generalstreiks, eine Großdemonstration für die öffentlichen Hochschulen und gegen deren Mittelkürzung in den wichtigsten Städten des Landes. Der Internationale Frauentag am 8. März wurde ebenfalls mit zahlreichen großen Veranstaltungen begangen, die sich gegen Frauenfeindlichkeit, Gewalt und die von Milei vorgeschlagenen Kürzungen in der öffentlichen Politik richteten. Und jedes Mal, wenn sich das Parlament erneut mit einem der umstrittenen Gesetzentwürfe der Regierung befasste, gingen die Menschen auf die Straße.
Leugnung der Verbrechen der Militärdiktatur nimmt wieder zu
Die Amtseinführung von Javier Milei und seiner Vizepräsidentin, Victoria Villarruel, stellt einen Wendepunkt in Bezug auf das dar, was die argentinische Menschenrechtsbewegung seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 unter großem Einsatz erreicht hatte. Anders als in anderen Ländern der Region des Cono Sur (Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay), die unter Militärdiktaturen zu leiden hatten, wurde Argentinien zu einem Vorbild in Sachen Erinnerungs-, Wahrheits- und Gerechtigkeitskultur und sorgte für die Verurteilung von Militärs, die für Verbrechen gegen die Menschheit wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen und die Entführung von Säuglingen verantwortlich gewesen waren. „Nunca Más“ („Nie wieder“), der Name des Berichts der Nationalen Kommission für das Verschwindenlassen von Personen, wurde zum Wahlspruch für einen neuen demokratischen Pakt, der das Ausmaß des Schreckens der Diktatur anerkannte und betonte, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen dürfen. Der gesellschaftliche Konsens über die verschiedenen Phasen dieses Prozesses der Erinnerung, Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit entstand nicht ohne Widerstand, hauptsächlich von Seiten ehemaliger Angehöriger der Streitkräfte und deren Familien. Vizepräsidentin Villarruel ist die Tochter und Enkelin von Militäroffizieren, ihr Vater war während der Diktatur im Dienst. Sie verteidigt nun diejenigen, die für die Verbrechen gegen die Menschheit verantwortlich waren, und diskreditiert den historischen Kampf der Menschenrechtsbewegung. Ihr Narrativ zielt darauf ab, sowohl die Verantwortung des Militärs in der Diktatur herunterzuspielen als auch die Hassreden gegen die Menschenrechtsbewegung zu ermöglichen. Die Verbreitung dieser Botschaften in den sozialen Medien und auf Regierungsveranstaltungen hat konkrete Folgen. Zum einen werden dadurch Zweifel an den Ermittlungen über die systematische Verfolgung durch die Militärregierung geschürt, zum anderen nimmt der Vandalismus in Gedenkstätten zu. Und erst vor kurzem fand mit Zustimmung des Verteidigungsministeriums eine Veranstaltung in der größten geheimen Haftanstalt der Diktatur, der „Escuela de Mecánica de la Armada“, statt, bei der die Handlungen der Militärregierung gerechtfertigt wurden. Vor diesem Hintergrund sollte es in keinem Land prioritär darum gehen, dem argentinischen Präsidenten einen herzlichen Empfang zu bereiten. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit allen beteiligten Akteuren, um angesichts der bestehenden Gefahren für die Wahrung der Menschenrechte neue internationale Allianzen zwischen Europa und Lateinamerika zu schaffen. Angesichts eines Vormarschs der extremen Rechten in der Welt ist es dringend erforderlich, die interregionalen Beziehungen der Zusammenarbeit neu zu gestalten, um gemeinsam der Aushöhlung unserer Demokratien entgegenzuwirken.
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