(Santiago, 21. Oktober 2019, npl).- Während Polizeihubschrauber über den Häuserdächern Santiagos kreisen, sichern Militärs strategische Punkte der Stadt, Straßen, Alleen und die Zugänge zu Armenvierteln. Das martialische Echo ihrer Stiefel, gepanzerter Fahrzeuge und Kriegswaffen hallt nach. Ihre nervös-arrogante Haltung beherrscht das Bild von Chiles jüngster Geschichte. Dieselben Szenen wiederholen sich in anderen Teilen des Landes. Polizei und Militär wachen über die Einhaltung der Ausgangssperre. Möglich macht diese Einschränkung ziviler Rechte der am 19. Oktober ausgerufene Ausnahmezustand. Die Regierung unter Präsident Sebastian Piñera verlängert die Zwangsmaßnahme Tag um Tag und dehnt ihren Wirkungskreis immer weiter aus.
Eine Ausgangssperre wurde in Chile das letzte Mal während der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet verhängt. Wir alle hofften damals das letzte Mal zu hören, dass sich „Chile im Krieg befindet“ – so hatte das der Diktator gesagt. Aber nein, Präsident Piñera erklärt uns nun, 32 Jahre später, erneut, dass „wir uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind befinden (….), der bereit ist, grenzenlose Gewalt und Kriminalität anzuwenden“. Es sei von grundlegender Bedeutung, Demokratie, Freiheit und Frieden wiederherzustellen, die von Gruppen gekapert worden seien, deren „Grad der Logistik typisch für eine kriminelle Organisation ist“. Ohne diese Behauptungen auszuführen, ohne belastbare Fakten zu liefern, verwandelt der Präsident der Republik Chile den gesellschaftlichen Aufschrei in ein Selbstgespräch. Hier spricht die Arroganz der Mächtigen. Von der selbst erklärten „Demut des Zuhörens“ ist nichts zu sehen.
Arroganz der Mächtigen
Mit seinen Entscheidungen erweist sich Piñera nicht nur als formaler Apologet der Diktatur, sondern auch als Erbe ihrer Gesten und Definitionen. Noch vor einer Woche pries er Chile als eine Oase an, im Vergleich zu dem, was Südamerika gerade durchlebe. Nun wird er mit einer gesellschaftspolitischen Wut und Unzufriedenheit konfrontiert, die längst zu einem Aufstand geworden ist. Bisher setzt sich die Regierung nicht eingehend mit den verständlichen Forderungen der Menschen auseinander. Natürlich, begleitet wird die Kriminalisierung der Proteste von Erklärungen, man verstehe die Menschen und ihre Empörung sei legitim. Das würde bedeuten, die Gefühle und das Engagement all jener, die Veränderungen fordern, ernst zu nehmen. Aber genau das Gegenteil geschieht.
Die Ungleichheit in Chile ist obszön
Das Problem ist nicht nur Piñera oder seine Regierung, es ist nicht nur sein politisches Lager oder das, was er repräsentiert. Bereits mit dem Putsch 1973 hat sich die politische Klasse Chiles selbst geschreddert. Sie hat das während der Diktatur initiierte neoliberale Wirtschaftsmodell akzeptiert und unterstützt – und damit auch die Mittel, um es durchzusetzen: Grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die eine unsägliche Angst hervorriefen und die eines teils mitschuldigen Schweigens bedurften. Unterwerfung. Die obszöne Ungleichheit, die ein Wachstum ohne Umverteilung fördert, parallel zu einem tiefgreifenden, zivilgesellschaftlichen Umbau.
Gepredigt wurde und wird die Notwendigkeit von Besitz und materieller Akkumulation. Das Streben nach materiellen Zeichen der Unterscheidung wird noch verstärkt durch den patriarchalischen und rassischen Klassizismus, der soziokulturell der Identität „DNA chilensis“ zugrunde liegt. Im Chile der 1990er Jahre, nach Ende der Diktatur, wurden soziale Rechte in ihrer Anwendung immer weiter eingeschränkt – die Demokratie geriet zum Euphemismus. Das Konzept der Menschenrechte wurde einseitig auf die Übel der Diktatur bezogen, spielten in der erneuerten Demokratie jedoch keine elementare Rolle und wurde praktisch nur „wenn möglich“ angewandt. Damit blieben sie auf Morde und Folter der jüngeren Vergangenheit beschränkt, als Wege, um für Gerechtigkeit, Wahrheit, Wiedergutmachung und Entschädigungen zu kämpfen.
Das Chile der Post-Diktatur zu verwalten bestand jedoch darin, vielfach Straffreiheit zu gewähren, die endgültige Weihe der undemokratischen, aufgezwungenen Verfassung der 1980er Jahre zu zelebrieren und das Privatisierungsmodell weiter zu vertiefen. Verluste wurden als etwas Öffentliches und Gewinne als etwas Privates verstanden. Es regierte die unersättliche Gier der Wirtschaft und der dominanten Schichten. Unbequeme Stimmen wurden im Keim erstickt. Die Mehrheit der Menschen machte sich unterwürfig – was nicht zuletzt ein Ausdruck großer Hoffnungslosigkeit, Angst und Sinnlosigkeit inmitten des Versprechens der kapitalistischen Moderne war.
Auf die aktuellen Ereignisse reagieren die Mächtigen mit Erniedrigungen. Sie verachten das Leben der einfachen Menschen, mit denen sie im täglichen Leben trotzdem irgendwie zusammenleben müssen. Sie verwehren sich ihrer materiellen Not, ihren Gefühlen und ihrem Blick auf die Welt. Mehr noch, in Chile regiert ein System, das kollektive Hoffnungen nachhaltig enttäuscht und keinerlei rechtliche Garantien in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales bietet. Das Land lebt nach einem Modell, das misshandelt. Der Individualismus ist prägend und nimmt dabei soziale, emotionale und psychische Schäden in Kauf. Chilen*innen und Migrant*innen, sie alle bekommen täglich die Bedeutung ihrer Herkunft, Hautfarbe, finanziellen Mittel und persönlichen Netzwerke zu spüren. Und doch haben sie sich nie einreden lassen – auch jetzt nicht – dass ihr Nachbar ihr Feind ist.
Die Armen werden bestraft
Faktisch bestrafen die chilenische Wirtschaft und der Staat unwiderruflich die Armen. Ungeahndet bleibt die Bereicherung der Privilegierten. Allein der jahrelange Diebstahl von Geschäftsleuten der Penta-Gruppe ist für die Unterschlagung von Millionen von Dollars verantwortlich. Die teilweise Rückerstattung des entwendeten Geldes und ein bisschen Ethikunterricht für Manager ist reiner Sarkasmus. Erst in den letzten Jahren bekam die chilenische Bevölkerung eine ungefähre Ahnung von den kriminellen Preisabsprachen im Einzelhandel. Toilettenpapier, Hühnerfleisch, Milch, Medikamente – alles war überteuert. Das gleiche gilt weiterhin für den Personenverkehr und die Grundversorgung mit Wasser, Strom und Treibstoff. Privatisierte Rentenkassen wie die AFPs machen Gewinne von mehr als 100 Prozent und befeuern die Altersarmut. Polizei und Streitkräfte veruntreuten nachweislich Unsummen an Geld. Derweil sind andere öffentliche Institutionen unterfinanziert, die Bedingungen in öffentlichen Waisenhäusern sind ein Skandal. Und doch werden zum angeblichen Wohl der Gemeinschaft in sogenannten „Opferzonen“ natürliche Ressourcen – vor allem Wasser – ausgebeutet. Und damit alles reibungslos weiterläuft, werden bestimmte Bevölkerungsgruppen kriminalisiert, indigene Gemeinden ebenso wie die Menschen in den Armenvierteln. Als rhetorische Rechtfertigung dienen Drogenhandel und andere Straftaten – und diese sind mit der zunehmender systemischen Gewalt tatsächlich mitgewachsen.
„Chile ist aufgewacht“
Die Leute schreien auf den Straßen: „Chile ist aufgewacht“. Ja, das stimmt. Erwacht ist die Würde einer Bevölkerung, ermüdet von so viel organisierter, in Gesetze verkleideter Gewalt. Erschöpft davon, dass ihr ganzes Leben, ihre Meinungen und Gefühle, mit der arroganten Trägheit der Zufriedenen behandelt werden. Angesichts so viel entmenschlichenden Leidens, das durch das herrschende System verursacht wird, schweigen die chilenischen Medien. Vielmehr wiederholen sie Bilder von Gewalt und Plünderungen. So verstärken sie die Panik, die der Präsident der Republik in einem wahnsinnigen und unverantwortlichen Akt als „Krieg“ begreift. „Piñeras Krieg“ ist in Wahrheit ein freudiger und entschlossener Ausbruch der chilenischen Bevölkerung, ein Aufheulen der Würde.
*Paulo Álvarez Bravo ist Mitglied des Ausschusses zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte im Stadtteil La Legua von Santiago de Chile.
Übersetzung und Bearbeitung: Nils Brock
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