“Ein Rückschlag in Sachen Wasser“

(Berlin, 7. Juli 2023, npla/lateinamerika nachrichten).- Nach dem gescheiterten Referendum über eine neue Verfassung im September 2022 ist derzeit ein neuer verfassunggebender Prozess in Chile im Gange. Eine vom Parlament ernannte Expert*innenkommission hat bereits Ende Mai einen Entwurf für den neuen Verfassungstext vorgelegt. Dieser wird nun im 51-köpfigen Verfassungsrat diskutiert, der von einer rechten Mehrheit besetzt ist.

Manuela Royo ist Anwältin und landesweite Sprecherin der Umwelt- und Wasserbewegung Modatima. Im letzten verfassunggebenden Prozess saß sie für die Bewegung im Verfassungskonvent. Im Interview spricht sie über den Entwurf der Expert*innenkommission und die Beteiligung ihrer Organisation am neuen Verfassungsprozess.

Frau Royo, wie stehen Sie zum Entwurf der Expert*innenkommission, insbesondere in Bezug auf das Thema Wasser?

Wir von Modatima sind sehr besorgt über den Vorschlag der Expert*innenkommission, denn er enthält grundlegende Widersprüchlichkeiten in Bezug auf das Thema Wasser. Im Artikel 24 des Entwurfs heißt es etwa, es sei „die Pflicht des Staates, dieses Recht [auf Wasser] für heutige und zukünftige Generationen zu garantieren“ und, dass das Wasser vorwiegend und in genügendem Umfang „für den ausreichenden menschlichen und häuslichen Gebrauch“ zur Verfügung stehen soll.

Andererseits ist da der Artikel 29, der sich auf das Recht auf Eigentum bezieht. Der Artikel besagt, Wasservorkommen seien „in jedem Fall nationale Güter öffentlicher Nutzung. Daher sind sie das Eigentum aller Einwohner des Landes und können von allen genutzt werden. Im öffentlichen Interesse werden Wassernutzungsrechte festgelegt. Die Ausübung dieser Rechte kann im Einklang mit dem Recht eingeschränkt werden (…).“

Was die Übergangsbestimmungen betrifft, so heißt es im neunten Artikel, dass „Wassernutzungsrechte, die seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 21.435 begründet, anerkannt oder geregelt wurden, den Vorschriften des Wassergesetzes unterliegen“, und dass „Wassernutzungsrechte, die vor der Veröffentlichung des genannten Gesetzes begründet, anerkannt oder geregelt wurden, dem ersten Übergangsartikel desselben unterliegen.“

Was bedeutet das alles konkret?

Wenn wir uns die besagten Artikel genau anschauen, lässt sich zunächst annehmen, dass es den Verfasser*innen darum geht, das Wasser als strategisches Gut im Land zu erhalten. Besonderes Augenmerk wird auf die Sicherstellung des Menschenrechts auf Wasser für „heutige und zukünftige Generationen“ gelegt, ebenso auf seine Verfasstheit als „nationales Gut öffentlicher Nutzung“. Bei einer tieferen Analyse treten jedoch Widersprüchlichkeiten auf, die wir berücksichtigen sollten.

Erstens wird durch die eben zuerst genannte Formulierung das Menschenrecht auf Wasser nicht als solches festgeschrieben. Gleichzeitig werden aber Nutzungsrechte als reale Rechte aufgefasst. Dieses Verständnis kann dazu führen, dass die Wahrung des Rechts auf Wasser mit der Wahrung des Rechts auf Wassernutzung kollidiert, so wie wir es schon heute bei hunderten Rechtsstreitigkeiten erleben. Anders gesagt: Die Wasser-Ungerechtigkeit könnte sich zukünftig verschlimmern.

Auch wenn der in Artikel 24 angedeutete Gedanke der Bewahrung des Wassers in die richtige Richtung geht, bedeutet die Beibehaltung des Rechts auf Wassernutzung als Eigentumsrecht (Artikel 29) in der Praxis, dass private Parteien weiterhin darüber entscheiden können, was mit dem Wasser in den verschiedenen Einzugsgebieten des Landes geschieht. Das begünstigt die Konzentration und ungleiche Verteilung des Wassers.

Ein weiterer offensichtlicher Widerspruch, den der Entwurf nicht auflösen kann, ist der Umgang mit der Wasserknappheit bzw. dem Wassermangel, den Chile in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Weil das Wasser so ungleich verteilt ist, haben sich im Laufe der Jahre immer mehr Konflikte um Wasser entfacht. In vielen Fällen ist zu beobachten, dass das Recht auf Eigentum die Erfüllung des Menschenrechts auf Wasser und sogar das Recht auf Nahrungsmittelerzeugung durch bäuerliche Landwirtschaft untergräbt. Wir sind daher der Meinung, dass der Vorschlag einen Rückschlag bedeutet und dem Schutz des Menschenrechts auf Wasser zuwiderläuft.

Der Verfassungsrat berät in den kommenden Monaten über diesen Verfassungsentwurf. Hat Ihre Bewegung wie auch im letzten Verfassungsprozess versucht, einen Fuß in das Gremium zu bekommen?

Der aktuelle Verfassungsprozess hat die sozialen Bewegungen absichtlich ausgeschlossen, denn nur Personen auf Parteilisten – seien es die der Regierung oder die der Opposition – konnten sich für die Sitze im Verfassungsrat zur Wahl stellen. Unserer Meinung nach war das eine sehr undemokratische Entscheidung, denn damit schließt man uns Personen und Bewegungen aus, die wir seit langem und an erster Stelle für das Buen Vivir, für den Respekt vor der Natur, vor gemeinschaftlichen Gütern und für das Menschenrecht auf Wasser kämpfen.

Diese Situation ist besorgniserregend, denn damit wird wieder Politik von oben gemacht: von traditionellen Sphären aus, die heute sehr viel in Frage gestellt werden. Dass mit dem Rücken zu den Menschen gehandelt wird, verschärft eine politische Krise, die unter anderem zum Aufstieg der Ultrarechten geführt hat, wie wir sie in der Zusammensetzung des aktuellen Verfassungsrats beobachten können.

Trotzdem hat Modatima einen der Wege zur Bürger*innenbeteiligung am neuen Verfassungsprozess genommen und einen Vorschlag für eine Vorschrift zum Thema Wasser vorgelegt. Warum?

Als Bewegung haben wir entschieden, dass wir keinen Vorschlag, der die Privatisierung und Ausbeutung des Wassers erhalten würde, still hinnehmen können. Dieser Warenperspektive setzen wir einen Ansatz entgegen, der das Wasser als öffentliches Gut definiert, das sich niemand aneignen kann. Wasser als Gut zu denken, das sich außerhalb der Eigentumslogik befindet, bedeutet automatisch, neoliberale Grundgedanken in Frage zu stellen und sich kollektiv um einen Ausgang aus der Klimakrise und eine Entprivatisierung des Wassers zu bemühen.

Potenzial sehen wir außerdem in der öffentlich-kommunalen Verwaltung. Die Beteiligung und Entscheidungsfindung könnte in gemeinschaftlichen und territorialen Wasserorganisationen stattfinden, die grundlegende Mechanismen für den Schutz des Wassers als Menschenrecht darstellen, wie es seit Jahrzehnten bei der Verwaltung der ländlichen Wassergenossenschaften und -komitees der Fall ist. Wir glauben an die Planung und Regulierung von Wasser aus einer ganzheitlichen, langfristigen Perspektive – nicht extraktivistisch und kurzfristig.

Wir von Modatima setzen uns dafür ein, dass das Menschenrecht auf Wasser eine unverzichtbare Garantie für ein Leben in Würde ist. Wir glauben, dass der Staat eine integrative, demokratische und gemeinschaftliche Bewirtschaftung des Wassers garantieren muss, die es uns ermöglicht, mit der Logik der Ausbeutung und der Enteignung von Natur und Menschen zu brechen, die Chile seit Jahren in einer tiefen sozialen Wasserkrise hält.
Auch wenn wir wissen, dass unser Vorschlag höchstwahrscheinlich abgelehnt werden wird, müssen wir weiterhin überall Einfluss nehmen.

Aktuelle Umfragen zeigen ein großes Desinteresse der Chilen*innen am aktuellen Verfassungsprozess. Welche Gründe sehen Sie dafür?

Die Gründe darin sehen wir in der Glaubwürdigkeitskrise der traditionellen Politik. Außerdem fehlt es an der Basis der Gesellschaft an Rückhalt für die Regierung. Auch, dass das Rechazo gewonnen hat, ist daher eher als Nein zur traditionellen Politik zu verstehen.

Hinweis: Fünf Vertreter*innen der Wasser- und Umweltschutzbewegung Modatima werden im September Städte in Deutschland und der Schweiz besuchen und über ihren Kampf für das Recht auf Wasser berichten. Aktuelle Infos zur Rundreise finden sich bald hier in der News-Sektion, auf lateinamerika-nachrichten.de und auf den Social Media-Kanälen des NPLA und der Lateinamerika Nachrichten.

CC BY-SA 4.0 “Ein Rückschlag in Sachen Wasser“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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