Wahl 2023. Hunger, Arbeitslosigkeit und immer dieselben Kandidat*innen

(Buenos Aires, 20. Juni 2023, pressenza).- An einem Tag im argentinischen Wahlkalender wurden die derzeitigen Bündnisse bestätigt. Der Pan-Peronismus änderte seinen Namen – vielleicht um sein Scheitern zu kaschieren -, während intern harte Anschuldigungen erhoben wurden, wie beispielsweise bei der neoliberalen Koalition Juntos por el Cambio (etwa: Gemeinsam für den Wandel). Das Land hat immer noch einen nicht aussterbenden politischen Überbau, der sich von der Weiterentwicklung des politischen Prozesses distanziert. Währenddessen wird die jährliche Inflationsrate im Land auf etwa 100 Prozent geschätzt, und Arbeitslosigkeit und Ernährungsunsicherheit nehmen rasant zu. Wenn man die durchschnittliche Inflationsrate der letzten zwei Monate von 8,1 Prozent auf das Jahr hochrechnet, würde der Preisanstieg in diesem Jahr 155 Prozent erreichen. Der Zinssatz der Zentralbank, der als Richtwert für Festgeldanlagen gilt, liegt bei 155 Prozent pro Jahr. Vielleicht wird das politische Szenario der nächsten Monate davon abhängen,  ob es zu Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) kommt oder eben nicht. Die Hoffnung der Politik ist es, zusätzliche US-Dollars zu erhalten und diese für Interventionen auf dem Währungsmarkt verwenden zu können.

Rechte Vorstöße im Vorfeld der Wahlen

In der Provinz Jujuy hat die Regierung des radikalen Oppositionsführers Gerardo Morales eine brutale Repression gegen Arbeiter*innen und Gemeinden eingeleitet, die gegen eine eindeutig reaktionäre Verfassungsreform protestieren. Die Verfassungsreform zielt darauf ab, die Verfolgung sozialer Bewegungen im Namen eines Burgfriedens zu legalisieren und politische Gefangene weiterhin festhalten zu können, wie Milagro Sala und andere, die seit fast acht Jahren im Gefängnis sitzen. In Buenos Aires hat die Exekutive unter der Führung von Horacio Rodríguez Larretades, Präsidentschaftskandidat von Juntos por el Cambio, Frauen gewaltsam aus dem Casa Pringles vertrieben (das feministische Projekt bot einen Raum für Frauen, Kinder und Jugendliche, die vor dem Einzug in das Gebäude auf der Straße und in einigen Fällen im Gefängnis lebten). Sind diese Ereignisse ein Vorgeschmack auf die kommenden Zeiten in Argentinien?

Brüche, Abspaltungen, Ungewissheit

Die Primarias Abiertas, Simultáneas y Obligatorias (PASO), also die offenen, simultanen und obligatorischen Vorwahlen, finden am 13. August statt. Alle Parteien, die bei diesen Wahlen antreten, müssen 1,5 Prozent der „gültig abgegebenen“ Stimmen erhalten, um sich für die nationalen Wahlen am 22. Oktober zu qualifizieren. Dort wird dann der/die neue Präsident*in bestimmt sowie die Hälfte der Abgeordnetenkammer und ein Drittel des Senats neu besetzt werden. Die Medien beharren auf einem mit den Wahlen einhergehenden Rechtsruck, der von den Medien gefördert und überanalysiert wird. Das bringt die Bevölkerung jedoch nicht dazu, den Hintergrund der Krise aus den Augen zu verlieren. Diese wird weder mit den Wahlen im Oktober noch am 10. Dezember enden, wenn eine neue Regierung, welcher Art auch immer, versuchen wird, neue Anpassungspläne umzusetzen.

Die neoliberale Juntos por el Cambio und die regierungsfreundliche Frente de Todos sind in ihren eigenen Welten gefangen und damit beschäftigt, die Ungewissheit, die Brüche, die Abspaltungen und die Namensänderungen im Vorfeld der allgemeinen Wahlen im August zu überleben: Inmitten der  Bündnisphase der antretenden Parteien wird die pro-panperonistische Regierungspartei – vielleicht um ihr Scheitern zu verbergen – ihren Namen von Frente de Todos in Unión por la Patria (Union für das Vaterland) umändern. Die Wahl des Begriffs „Patria“ für den neuen Namen und die Priorisierung einer neuen Beziehung zum IWF, die die wirtschaftspolitischen Konditionalitäten abschafft, begannen die von Vizepräsidentin Cristina Kirchner vorgeschlagene programmatische Achse zu definieren. Die Auseinandersetzungen zur Klärung des internen pan-peronistischen Kampfes waren vorhersehbar und stellen eine Gefahr für das neue Bündnis das. Dieses befindet sich gerade auf einem Pfad der Kritik an der Regierung (der eigenen?) und versucht gleichzeitig, sie nicht auszuschließen und zu beschränken.

Die wichtigste Oppositionskoalition bestätigte ihrerseits, dass sie das neoliberale Bündnis Juntos por el Cambio  beibehalten wird, und das inmitten zäher Verhandlungen über die endgültige Zusammensetzung, was die Krise des politischen Systems des Landes deutlich macht. Die ersten Definitionen der brandneuen pan-peronistischen Koalition, die streng genommen dieselben Kräfte in sich vereint, die 2019 die Frente de Todos bildeten, offenbaren eines der Ziele des neuen Namens Unión por la Patria: die Abgrenzung von der Rechten als Vertreterin der Dollarisierung, die das Abkommen mit dem IWF verteidigt und die Auslagerung der recursos estratégicos anstrebt [als recursos estratégicos werden für Menschen nützliche natürliche Ressourcen beschrieben, die ein Staat als wesentlich für seine Sicherheit betrachtet].

Die hegemonialen Medien haben das Bild einer vorhersehbaren Niederlage der Peronisten gezeichnet, aber auch Juntos por el Cambio, das bis vor kurzem noch als fast unvermeidlicher Sieger der Wahl erschien, befindet sich in einer tiefen Krise. Ihre Parteien sind gespalten: Auf der einen Seite steht Patricia Bullrich, die vom ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri und der radikalen „Malbec-Gruppe“ unterstützt wird. Ihr gegenüber steht der Regierungschef der Hauptstadt, Horacio Rodríguez Larreta, der zusammen mit dem radikalen Gerardo Morales [Gouverneur von Jujuy] und der Coalición Cívica zu einem breiteren Spektrum von Bündnissen aufruft. Die Namensänderung des regierenden Bündnisses kommt keineswegs von ungefähr: Sie ist ein Versuch, sich von der apathischen Präsidentenfigur Alberto Fernández zu distanzieren, der den Traum von einer Wiederwahl aufgeben musste. In einer ersten Mitteilung der neuen Unión por la Patria wurden ritualisierte Floskeln wie „Wachstum mit sozialer Eingliederung“ wiederholt, vor allem aber die Mindestbeteiligung jedes Sektors an den Listen für die Wahlen kommuniziert.

Der IWF zwingt die Länder zur Unterschrift

Während der Kirchnerismus und der Frente Renovador rund um den derzeitigen Wirtschaftsminister Sergio Massa 40 Prozent vorschlugen, verlangte der Flügel des ehemaligen Vizepräsidenten Daniel Sioli und Alberto Fernández 25 Prozent und appellierte an die „Justizpartei“ – die zuletzt die derzeitige Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner gesperrt hatte – die Frage zu klären. Inmitten des Abschlusses der Kandidaturen meldete sich die Vizepräsidentin aus der südlichen Provinz Santa Cruz zu Wort und erklärte, dass sie sich Persönlichkeiten „mit Führungserfahrung“ wünscht. Am meisten gelobt wurde Axel Kicillof, dem sie bescheinigte, dass er vor dem Internationalen Währungsfonds gewarnt habe: „Kicillof hat gewarnt und heute sind wir dort, im IWF, mit einer schrecklichen Verschuldung. Hinzu kommt ein Zinsaufschlag aufgrund der Höhe des vereinbarten Darlehens“. Weiter erklärte Kirchner: „Wenn der IWF in ein Land eindringt, nachdem er einen Kredit in dieser Größenordnung wie jetzt in Argentinien gewährt, muss man der Gesellschaft die Wahrheit sagen. Wenn du unterschreiben musst, weil sie dir die Pistole auf die Brust setzen, muss man sagen, dass sie einen zur Unterschrift zwingen. Denn schließlich ist nicht diese Regierung für diesen Kredit verantwortlich. Diese Regierung und die argentinische Gesellschaft haben darunter zu leiden, aber ich denke, es ist an der Zeit, der Gesellschaft die Wahrheit zu sagen“, sagte Fernández. Die hegemonialen Medien sind Teil des Problems: Ihre politische Berichterstattung, die zu 99 Prozent aus Reflexion und Analyse der internen politischen Angelegenheiten besteht, ist weit entfernt vom wirklichen Leben, von den politischen Prozessen und von den Streiks, Demonstrationen und Mobilisierungen der Menschen, die sich gegen Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit und Hunger wehren.

„Die neue Regierung wird schwach sein“

Voreilige Schlussfolgerungen aus Umfragen ergaben, dass die Gesellschaft einseitig nach rechts tendierte, insbesondere die Jugend. Mehrere qualitative Meinungsumfragen zeigen jedoch eine gewisse Widersprüchlichkeit, selbst bei denjenigen, die sagen, dass sie für Milei (ultrarechter Politiker) stimmen würden. Die Befragten sagen nämlich gleichzeitig, dass sie die öffentlichen Unternehmen, das öffentliche Gesundheitswesen und die öffentliche Bildung verteidigen wollen – alles Rechte, die das libertäre Programm schlicht und einfach abschaffen will. Ein politisches Regime, das den Anschein von Kontinuität erweckt, scheint mit dem realen politischen Prozess nicht mehr Schritt zu halten. Die Koalitionen sind innerlich zerrissen und befinden sich in einer Krise mit ihren eigenen Wahlbasen, aber sie gehen trotz allem weiter nach vorne. Sie sind der Ausdruck des Alten, das nicht sterben will. Wie Antonio Gramsci sagte: „Die alte Welt liegt im Sterben. Die neue erscheint nur langsam. Und in diesem Helldunkel tauchen Ungeheuer auf“.

Der Wirtschaftswissenschaftler Horacio Rovelli weist darauf hin, dass der Mindestlohn in den USA 2.000 Dollar pro Monat beträgt, in Argentinien dagegen 310 Dollar zum offiziellen Wechselkurs und 160 Dollar zum Parallelkurs, während die Inflation in diesem Jahr 100 Prozent übersteigen könnte. Eines scheint schon jetzt sicher: Die nächste Regierung wird schwach und von der immensen Auslandsverschuldung abhängig sein, wodurch neue Krisen und Konvulsionen einer zukünftigen Regierung vorprogrammiert sind. Diese wird wohl versuchen, mit Anpassungsplänen und der Unterwerfung unter den IWF fortzufahren – im Argentinien der Dauerkrise. Oder es kommt zur Explosion, die einige Untergangspropheten vorhersagen – wie bereits vor 22 Jahren, als der damalige Präsident Fernando de la Rúa in einem Hubschrauber aus der Casa Rosada flüchtete. Inzwischen wird die Serie „Diciembre 2001“, die auf dem Buch „El palacio y la calle“ des Journalisten Miguel Bonasso basiert, auf den Streaming-Plattformen ausgestrahlt. Jede Ähnlichkeit ist kein Zufall.

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