Peronist Massa vorläufig vor libertärem Kandidat Milei

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2023 Präsidentschaftswahlen in Argentinien. Foto: GeorgistEnjoyer, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

(Buenos Aires/ Berlin, 23. Oktober 2023, npla).- Am 22. Oktober, bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in Argentinien, lag der Peronist Massa vorn. Am 19. November geht er gegen den Zweitplatzierten, den ultra-liberalen Javier Milei, in eine Stichwahl. Entscheidend wird sein, wem die Wähler*innen der drittplatzierten Patricia Bullrich dann ihre Stimme geben werden. Darüber und über die Rolle der Zivilgesellschaft hat Ute Löhning mit Jules Gießler gesprochen:

Jules Gießler, Du hast die erste Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen in Argentinien beobachtet. Und es war spannend…

Es war sehr spannend, weil ich glaube, dass bis zum Schluss, also bis die ersten Hochrechnungen raus waren, noch niemand so richtig wusste, was eigentlich passieren wird. Also es gab verschiedenste Szenarien, die im Raum waren, aber du konntest bis zu ein, zwei Stunden vor den ersten Ergebnissen spüren, in sämtlichen Diskussionsrunden, auch über digitale Spaces in X und weiteren Formaten, dass eine gewisse Unsicherheit im Raum lag. Am Ende hat Sergio Massa, der derzeitige Finanzminister, mit 36,7 Prozent die erste Wahlrunde für sich entschieden. Das war auch eine der großen Überraschungen. Denn Argentinien befindet sich momentan in einer ökonomischen Krise, die es so seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Wir reden von 140 Prozent Inflation in einer Gesellschaft, in der 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Trotzdem hat der derzeitige Finanzminister diese Wahl für sich entschieden.

Vielleicht erst mal eine kurze Beschreibung bitte von Massa …

Sergio Massa gehört zum Establishment, zum Peronismus, der seit Jahrzehnten Argentinien oder die argentinische Politik bestimmt. Das heißt, wir haben zum einen einen erfahrenen Mitte-Links-Politiker, der jetzt auch gerade Finanzminister ist, momentan aber auch nicht sehr klare Visionen transportieren kann. Das heißt, Massa steht für ein “Weiter so” der argentinischen Politik. Seine Schwerpunkte waren Wirtschaft und Sicherheit. Aber es gibt keinen klaren Ansatz, wie er im Endeffekt gegen die Inflation angehen möchte, wie er die Wirtschaft stärken möchte.

Massa ist also ein Peronist und steht im Grunde für die für mehr oder weniger gescheiterte Wirtschaftspolitik, was ihm vorgeworfen wird, vor allen Dingen von Milei.

Auf jeden Fall. Die andere Überraschung war der ultraliberale Kandidat und dass dieser auf 30 Prozent gekommen ist.

Wer ist denn überhaupt Javier Milei, und wie konnte er diesen Aufstieg da hinlegen in der kurzen Zeit?

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TV-Aufnahme von Hochrechnung nach Präsidentschaftswahl 1. Runde. Foto: Jules Gießler

Er tituliert sich selbst als Anarcho-Kapitalist, möchte den Staat auf das Notwendigste reduzieren. Er möchte die Zentralbank abschaffen, das Land dollarisieren und meint auch, dass die Dollarisierung der Schlüssel zur Lösung oder zur Reduzierung der Inflation sei. Er möchte sämtliche staatliche Organisationen bzw. staatliche Unternehmen privatisieren. Er möchte den Staatsapparat eindampfen, das bedeutet, auch sämtliche Institutionen schließen bzw. das Personal in den Institutionen reduzieren. Wir reden weiter davon, dass auch die Bildung privatisiert werden soll, so dass Menschen bzw Schüler*innen Voucher erhalten, die sie aber bezahlen müssen. Wir reden von einer Privatisierung des Gesundheitssystems. Milei möchte, dass der Staat also ganz klassisch ökonomisch in seine Nachtwächter-Position übergeht. Das heißt, er will sämtliche Sachen, die er reduzieren kann, sämtliche Kontrollmechanismen auf ein Minimum reduzieren, um so der Wirtschaft freie Hand zu lassen.

Das ist es, wofür libertäre Politik steht.

Ja. Und ich glaube, dass ein Großteil der Menschen, die jetzt für Javier Milei und die Libertad Avanza stehen oder diese gewählt haben, nicht unbedingt für diese Politik sind, sondern gegen das, was momentan passiert; sie wollen eben, dass die Inflation stoppt. Sie wollen Sicherheit, sie wollen vor allen Dingen ökonomische Stabilität. Das ist das allseits bestimmende Thema momentan in Argentinien, das alles überschattet, und Javier Milei schafft gerade, das für sich zu nutzen. Diese zwei Kandidaten werden jetzt am 19. November in die Stichwahl gehen. Das heißt, der Wahlkampf für diese zwei Parteien geht weiter. Zum einen haben wir also das Mitte-Links-Bündnis unter Sergio Massa. Zum anderen haben wir ein ultraliberales, eher auch zur Rechten tendierendes Bündnis oder eine Partei von Javier Milei. Die großen Verlierer, vielleicht das noch kurz zur Ergänzung dieser ersten Wahlrunde, sind die Konservativen unter Patricia Buĺlrich, die mit 23,7 Prozent aus der Wahl rausgegangen sind und damit große Verluste eingefahren haben. Da wird sich jetzt zeigen, wie sich die Wähler*innen der Partei entscheiden.

Warum sind denn viele desillusioniert von den Mitte-Links-Peronisten? In welchem Zusammenhang steht das zu Korruptionsvorwürfen oder zu Korruption und Verlust von Visionen neben der von dir beschriebenen Inflation?

Was gerade viele Menschen zur Protestwahl bewegt hat, ist die Müdigkeit der Menschen von einer politischen Elite, die in die eigenen Taschen wirtschaftet, aber nicht das Land nach vorne bringt. Und da sehen wir eine Desillusionierung, gerade aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Argentinien, die seit zwei Jahrzehnten in der Krise ist und nie wieder wirklich da rausgekommen ist. Seit dem Crash 2001 sehen wir ein Land, was sich nie wieder davon erholt hat, egal, welche Versuche unternommen wurden, und die immer nur noch wieder gezeigt haben, dass immer, wenn irgendwie ein Politiker oder eine Politikerin kam, in die man Hoffnungen gesetzt hat, am Ende doch Korruption eine große Rolle gespielt hat.

Gibt es denn da einen Lichtblick? Wer sind denn Akteure außerhalb der Parteienlandschaft? Ich habe zum Beispiel Bilder gesehen von diesem feministischen Treffen. Da haben sich locker 60.000 bis 100.000 Frauen und LGBTIQ-Personen versammelt und auch eine Erklärung gegen die extreme Rechte unterzeichnet. Welche Rolle spielen die jetzt in den nächsten Wochen bis zur Stichwahl?

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Demonstration nach dem 36. plurinationalen feministischen Treffen im argentinischen Bariloche. Foto: Sabina Mina

Die Zivilgesellschaft spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Wir haben in Argentinien auch eine große feministische Bewegung. Und da kommt es jetzt, glaube ich, auch ein bisschen darauf an, wie wird es aufgegriffen? Und da sehe ich, dass in der Libertad Avanza die Social-Media-Kampagne sehr gut war und dass es im Wahlkampf am Ende viel weniger um Ideen ging als um Angriffe auf Persönlichkeiten. Und wenn man sich dann auch manchmal die Kommentarspalten angesehen hat, dann ist da viel Hass dabei gewesen, viel Polarisierung. Zur Wahlparty ist Eduardo Bolsonaro vorbeigekommen, der Sohn Jair Bolsonaros, der Abgeordneter in Brasilien ist und der extremen Rechten angehört, der seine Unterstützung angeboten hat, genauso wie von Vox. Das heißt, wir sehen auch, dass viel Unterstützung von der extrem Rechten aus dem Ausland kommt, auch über Social Media. Da geht es auch um die Frage, wie gut die Zivilgesellschaft mobilisieren bzw auch wieder an die Leute herantreten kann. Eine ganz große Rolle spielen auch noch die Abuelas der Plaza de Mayo, die sich immer noch für die Erinnerungskultur in Argentinien stark machen und dafür sensibilisieren, eben nicht mit diesem Gesellschaftsvertrag zu brechen.

Was bedeutet es, wenn du sagst, die Madres oder Abuelas, also die Mütter oder die Großmütter der Plaza de Mayo sind eine starke Kraft in der Zivilgesellschaft, und es gibt einen Gesellschaftsvertrag?

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Madres der Plaza de Mayo, Buenos Aires 22.1.2009, Foto: Eduard Garcia CC BY-NC-ND 2.0 Deed

Also, Argentinien ist ja im Endeffekt jetzt seit 40 Jahren eine Demokratie, also seit 1983. Und dieser Gesellschaftsvertrag beruht auf der Aufarbeitung der Verbrechen während der Militärdiktatur in Argentinien, die auch eine der blutigsten mit einer der größten Ziffern an Vermissten auf dem Kontinent und weltweit war. Die Madres und Abuelas der Plaza de Mayo sind die, die damals protestiert haben. Auch heute noch siehst du in Buenos Aires an vielen Plätzen Erinnerungskultur. Du siehst auf dem Boden noch die Kopftücher und die verschiedenen Namen, auch die Darstellung der Vermissten. Es gibt immer noch einen Großteil der Bevölkerung, der das noch sehr präsent hat, ihnen ist dieser Gesellschaftsvertrag und diese Aufarbeitung sehr wichtig, und sie sagen: Wir dürfen diese Verbrechen nicht vergessen, und wir dürfen auch nicht zulassen, dass das jemals wieder passiert. Und ich glaube, da wird es jetzt auch noch mal spannend, weil ja die Vizekandidatin, oder wenn Milei Präsident wird, die Vizepräsidentin, Victoria Viarruel,  aus einer Militärfamilie kommt, und sie will ja genau mit diesem Gesellschaftsvertrag brechen. Sie negiert die Verbrechen der Militärdiktatur, und sie möchte, dass die Leute, die jetzt momentan im Gefängnis sitzen für die Verbrechen gegen die Menschheit, freigelassen werden. Wie sehr schaffen es jetzt die Peronisten, Menschen zu mobilisieren, die zwar eine konservative Einstellung haben und eine liberalere Wirtschaftspolitik fordern, aber eben nicht mit diesem Gesellschaftsvertrag brechen wollen? Ich glaube, das werden auch noch mal Faktoren sein, die in den nächsten Wochen eine Rolle spielen.

Danke dir vielmals, Jules.

Ihr könnt das Interview auch hören, und zwar hier.

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