Symbolische Grundsteinlegung für Gedenkstätte in Ex Colonia Dignidad

Angehörige von ermordeten und verschwundenen Gefangenen errichten Gedenkstein
Angehörige von ermordeten und verschwundenen Gefangenen errichten Gedenkstein in der Ex Colonia Dignidad. Foto: Jorge Soto

(10. Dezember 2023, nd/npla).- Da der staatliche Aufarbeitungsprozess der Verbrechen der Colonia Dignidad stockt, ergreifen Betroffene selbst die Initiative. In einem symbolischen Akt legen Angehörige von Verschwundenen den Grundstein für eine Gedenkstätte. Im Vorfeld der 12. Sitzung der chilenisch-deutschen Regierungskommission drängen sie die Regierungen beider Staaten damit zum Handeln.

Etwa hundert Personen, Angehörige von ermordeten oder verschwundenen politischen Gefangenen und ihre Unterstützer:innen sind mit Bussen in die Ex Colonia Dignidad gekommen. Sie versammeln sich an einem abgelegenen Ort auf dem Gelände der ehemaligen Sektensiedlung, neben der „Feldscheune“, zu einer feierlichen Zeremonie.

„Seit fünfzig Jahren suchen wir unsere Liebsten, bisher ohne Erfolg“, sagt Myrna Troncoso, die 80-jährige Vorsitzende des Angehörigenverbands von Verschwundenen aus der Region des Mauleflusses. Ihr Bruder Ricardo wurde 1974 verhaftet, bis heute ist sein Schicksal nicht aufgeklärt. „Auch zum 50. Jahrestag des Putsches im September dieses Jahres haben wir keine Antworten auf unsere Fragen bekommen. Deshalb haben wir entschieden, selbst ein Mahnmal aufzustellen.“ In der Feldscheune, einem halboffenen Gebäude, haben sie Transparente und Fotos ihrer Liebsten im Stroh aufgereiht. In einem Keller unter dieser Scheune wurden während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) politische Gefangene eingekerkert und gefoltert.

Wir werden euch nicht vergessen

Gedenktafel für in der Colonia Dignidad ermordete und verschwundene politische Gefangene.
Gedenktafel für in der Colonia Dignidad ermordete und verschwundene politische Gefangene. Foto: Jorge Soto

Jemand spielt Gitarre und singt dazu. Die Angehörigen der Verschwundenen enthüllen gemeinsam einen marmornen Gedenkstein, den sie selbst angefertigt und in die Erde gesetzt haben. „In Erinnerung an die Männer und Frauen vom Land und aus der Stadt, die hier gestorben sind“, steht darauf geschrieben und: „Wir werden euch nicht vergessen, auch wenn tausend Jahre lang Menschen über diesen Ort schreiten.“

Die 1961 von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer gegründete deutsche Siedlung, heißt seit Ende der 1980er Jahre Villa Baviera, also Bayerisches Dorf. Heute leben dort etwa 130 Personen und betreiben Landwirtschaft, eine Hühnerfarm, Immobilienunternehmen und einen Tourismusbetrieb mit Hotel-Restaurant im bayerischen Stil. Chilenische und internationale Besucher:innen kommen überwiegend wegen des guten Essens, der Ruhe und der frischen Luft in die Siedlung, die 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago in idyllischer Landschaft am Fuß der Anden liegt.

Tourismus statt Gedenkstätte am früheren Folterort
„Es ist beschämend, dass hier Tourismus betrieben wird und die chilenische und die deutsche Regierung bis heute weder Aufklärung noch eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum geschaffen haben“, sagt Myrna Troncoso. Fast nichts erinnert an die auf dem Gelände jahrzehntelang begangenen Verbrechen. Dabei gehörten Gehirnwäsche, Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt unter dem Regime der Sektenführung rund um Paul Schäfer rund vierzig Jahre lang zum Alltag der Bewohner:innen der streng abgeriegelten Siedlung. Weder der chilenische noch der deutsche Staat schützten diese, die deutsche Botschaft in Chile gewährte aus der Siedlung Geflohenen oft nicht einmal Schutz.
Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte die Sektenführung eng mit dem chilenischen Geheimdienst DINA. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende nach Aussagen von Siedlungsbewohnern, den sogenannten „Colonos“ ermordet, in anonymen Gräbern verscharrt, später wieder ausgegraben und verbrannt. Ihre Asche wurde demnach in den nahegelegenen Fluss Perquilauquén geworfen. Aus diesem Fluss haben die Angehörigen der Verschwundenen heute Steine geholt und in Erinnerung an ihre Liebsten je einen Kiesel rings um die Marmortafel am symbolischen Gedenkort abgelegt.

Einige „Colonos“ haben an der Zeremonie teilgenommen. „Das war ein sehr feierlicher Moment. Die Trauer um die Verschwundenen war spürbar“, sagt der 40-jährige Rafael Labrin. Er wurde als Kind chilenischer Eltern im Krankenhaus der Colonia Dignidad geboren und von Führungsangehörigen der Sektensiedlung zwangsadoptiert. Erst 2005 konnte er diese verlassen und 2017 fand er seine leibliche Mutter wieder. „Jeder hat sein Leid durchgemacht. Ich unterstütze die Angehörigen der Verschwundenen. Sie brauchen einen Ort, wo sie Blumen ablegen und trauern können. Endlich kommen wir mit ihnen zusammen.“

Auch Iris Leiva und Sergio Campos wurden als Kinder in der Colonia Dignidad unter Druck adoptiert, sind in der Siedlung aufgewachsen und wurden schwer misshandelt. „Wir sind auch Opfer. Auch für uns ist es gut, wenn wir eine Gedenkstätte haben. So würde auch unsere Geschichte dokumentiert und erzählt werden und was wir mitmachen mussten“, sagt Iris Leiva.

Gedenkstein entwendet

Angehörige von Verschwundenen halten Steine In Erinnnerung an ihre Liebsten
Kieselsteine aus dem Fluss Perquilauquén: In Erinnerung an die verschwundenen Angehörigen. Foto: Robinson Riquelme

Wenige Tage später wurde der Gedenkstein von Unbekannten jedoch ausgegraben und entwendet. „Für uns ist das sehr verletzend“, sagt Myrna Troncoso. Sie betont, dass sie den Gedenkstein an einem abgelegenen Ort aufgestellt hatten und nicht im Kern der heutigen Siedlung, wo er für alle Colonos und Besucher:innen immer sichtbar gewesen wäre. „Besonders trifft uns, dass auch die Steine gestohlen wurden, die wir aus dem Fluss Perquilauquén geholt und um die Marmortafel herum gelegt hatten. Die haben eine besondere Bedeutung für uns“, so Troncoso. Denn die Asche der verbrannten Leichen ihrer Angehörigen wurde laut Aussagen von Colonos in den Fluss geworfen.

Manche Colonos fühlen mit den Angehörigen der Verschwundenen. Andere erklären ihr grundsätzliches Verständnis und teilweise auch ihr eigenes Interesse an der Errichtung einer Gedenkstätte auf Teilen des Geländes.
Doch seitens der Führungspersonen, die in Leitungsgremien der Unternehmen der Villa Baviera sitzen, ist niemand zu einer Stellungnahme zur Entwendung der Gedenktafel bereit – geschweige denn zu einem Aufruf, diese und die entwendeten Kieselsteine aus dem Fluss wieder zurückzubringen.
Lediglich die Leiterin des Tourismusbetriebs Anna Schnellenkamp, die sich außerdem in einer „Sozial-AG“ für interne Belange der „Colonos“ engagiert, erklärt: „Wir sind nicht gegen ein Denkmal“, es sei „ganz klar, das Leid muss anerkannt werden. Die Leute müssen endlich Orte bekommen, wo sie trauern und gedenken können.“ Aber es müsste in Abstimmung mit den Bewohner:innen stattfinden und mit denjenigen, denen dieses Grundstück gehört.
„Unser Anliegen ist, Teil zu sein an einer Reparation, am Gedenken, an der Friedensschaffung. Aber wir möchten daran Teil sein und nicht, dass jetzt hier so eine Art „toma“ [Besetzung, Anmerkung der Autorin] entsteht. So fühlen die Leute sich verunsichert und dadurch kommt dann auch die Aggression“, sagt Anna Schnellenkamp. Sie seien nicht im voraus über die symbolische Grundsteinlegung informiert worden. „Wir möchten in den gesamten Prozess eingebunden sein. Und das wurde uns in der CoMixta [Gemischte deutsch-chilenische Regierungskommission, Anmerkung der Autorin] auch bestätigt“, so Anna Schnellenkamp.

Fazit: Um wirklich eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zu errichten, müssten die deutsche und die chilenische Regierung deutlich aktiver vorgehen als sie das bisher tun.

Appell an Verantwortung beider Staaten
Die Initiator:innen der symbolischen Grundsteinlegung appellieren daher vor allem an die Verantwortung der beiden Staaten. Im Vorfeld der für Montag, 20.11. in Santiago anberaumten Sitzung der deutsch-chilenischen Gemischten Regierungskommission zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad, hatten sie in einer öffentlichten Erklärung bereits geschrieben: „Mit großer Sorge beobachten wir, dass der Prozess der Einrichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes blockiert ist.“ Zwar hatten Präsident Boric und Bundeskanzler Scholz sich im Januar 2023 öffentlich für eine Gedenkstätte ausgesprochen. Aber die von der Gemischten Kommission bei ihrer letzten Sitzung im April 2023 beschlossene Einrichtung einer Stiftung oder anderen Trägerorganisation für die Gedenkstätte und auch die Installation von Gedenktafeln wurden nicht umgesetzt.

Die Vertreter:innen der verschwundenen und ermordeten Gefangenen fordern, diese Trägerorganisation nun endlich zu gründen. Sie soll die operativen Aufgaben auf dem Weg zur Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrums erledigen und die Beteiligung aller Betroffenengruppen sicherstellen.

Da Deutschland und Chile Verantwortung für die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen tragen, sollen an einem solchen Träger auch beide Regierungen beteiligt sein, sagt die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski. Zusammen mit einem deutsch-chilenischen Expert:innenteam hat sie im Auftrag beider Regierungen ein Konzept für eine Gedenkstätte für die Colonia Dignidad entwickelt. Demzufolge sollen Ausstellungen an mehreren historisch bedeutsamen Orten oder Gebäuden auf dem Siedlungsgelände die Geschichte und das Leid der verschiedenen Opfergruppen darstellen. Dazu gehören die „Colonos“, die Angehörigen von Verschwundenen, die in der Colonia Dignidad Gefolterten, sowie die chilenischen Opfer von sexualisierter Gewalt oder unrechtmäßigen Adoptionen sowie Landarbeiterfamilien, die Anfang der 1970er Jahre von dem Gelände der Colonia Dignidad vertrieben wurden.

Auch Bundestagsabgeordnete verschiedener Parteien drängen zum Handeln. Der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU, Michael Brand, lobt das von den deutschen und chilenischen Expert:innen bereits 2021 erstellte Konzept und kritisiert fehlende Initiativen der Bundesregierung. So zeigten Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz „erkennbar kein echtes Interesse an dem Thema“. Er drängt zur Eile und hofft, „dass man nicht so lange warten will, bis sich das Thema von alleine erledigt, weil die Überlebenden zu alt oder gestorben sind.“
Renate Künast von den Grünen drängt zur Einrichtung einer Stiftung für den Gedenk-, Dokumentations- und Lernort in Chile, dabei komme es jedoch zentral auf die dortige Regierung an. Der kulturpolitische Sprecher der Linken, Jan Korte, betont die „historisch einmalige Situation, dass beide Regierungen eigentlich die Aufarbeitung voranbringen und eine Gedenkstätte errichten wollen“. Doch dieses Zeitfenster könne sich aufgrund der bevorstehenden Wahlen und einem möglichen Sieg der Rechten möglicherweise bald für längere Zeit schließen. Deshalb müsse jetzt gehandelt werden.

Konkrete Initiativen fehlen, Zeitfenster könnte sich schließen
Konkrete Maßnahmen und Fortschritte seitens der deutschen und der chilenischen Regierung auf dem Weg zur Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes sind jedoch Mangelware.
Im Nachgang der 12. Sitzung der deutsch-chilenischen Gemischten Regierungskommission zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad waren auch Vertreter:innen der Opfergruppen nach Santiago eingeladen. „Wir haben unsere Erwartungen an die Gemischte Kommission dargestellt, aber wir haben keine Antworten bekommen“, berichtet die Vertreterin der Angehörigen von Verschwundenen, Mryna Troncoso, enttäuscht.

In einer von beiden Regierungen nach der Sitzung der Gemischten Kommission veröffentlichten Erklärung heißt es, die chilenische Seite wolle die Arbeit der Kommission in den Kontext des vom chilenischen Präsidenten Gabriel Boric verkündeten Nationalen Plans zur Suche nach den Verschwundenen stellen. In einer ministeriumsübergreifenden Initiative wolle Chile demnach die bisherigen Ansätze und konkrete Vorschläge zur Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrums Colonia Dignidad zusammentragen und bei der kommenden Sitzung in einem halben Jahr präsentieren. Die deutsche Seite wiederholte laut der gemeinsamen Erklärung ihre Bereitschaft, die Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte zu unterstützen. Von der Gründung der dafür benötigten Trägerorganisation ist in der Erklärung allerdings gar nicht mehr die Rede.

CC BY-SA 4.0 Symbolische Grundsteinlegung für Gedenkstätte in Ex Colonia Dignidad von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert