Kyburg in Berlin angeklagt und verstorben

Demonstrierende halten Transparent und zum Fall Kyburg
Kundgebung am Berliner Wohnort des argentinischen Diktaturverbrechers Luis Esteban Kyburg, 2020. Foto: Ute Löhning

(19. Dezember 2023, LN) – Es hätte der erste Strafprozess gegen einen südamerikanischen Diktaturverbrecher vor der deutschen Justiz werden können. Im November 2023 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen den früheren Offizier der argentinischen Marine, Luis Esteban Kyburg (75). Sie wirft ihm vor, in der Zeit von August 1976 bis Januar 1977 „im Rahmen des sogenannten ‚Kampfes gegen die Subversion‘ für die Entführung, Verschleppung, Folterung und anschließende Tötung von 23 jungen Menschen verantwortlich gewesen“ zu sein. Doch zu einem Prozess wird es nicht kommen, da Kyburg zwischenzeitlich verstorben ist.

„In Argentinien wäre er schon verurteilt“, sagt Anahí Marocchi. Ihr Bruder, Omar Marocchi, wurde 1976 als 19-Jähriger zusammen mit seiner schwangeren Partnerin Haydee Susana Valor in Mar del Plata, 400 km südlich der Hauptstadt Buenos Aires, entführt. Beide wurden in die Marinebasis von Mar del Plata verschleppt, wo ein Gefangenen- und Folterlager eingerichtet worden war. Seitdem gelten sie als Verschwundene. Ihr Schicksal und das des damals noch nicht geborenen Kindes sind bis heute nicht aufgeklärt, ebenso wie das vieler der bis zu 30.000 Verschwundenen der Diktatur in Argentinien (1976 bis 1983).

Kyburg war der verantwortliche zweite Kommandant einer Einheit der „taktischen Taucher“ auf dem Militärstützpunkt in Mar del Plata. Er soll persönlich von Folter und Misshandlung gewusst haben und „als Mitglied eines Gremiums entschieden haben, welche Opfer nicht ausnahmsweise freizulassen, sondern zu töten seien“, so die Generalstaatsanwaltschaft. Die meisten dieser Opfer sollen „ahnungslos unter dem Vorwand der ‚Verlegung‘ bei sogenannten Todesflügen umgebracht worden sein“.

Andere ranghohe Offiziere, die in dieser Marinebasis eingesetzt waren, wurden in Argentinien wegen Beteiligung an Mord und Verschwindenlassen verurteilt. Kyburg, der wegen seiner deutschen Vorfahren neben der argentinischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, setzte sich 2013 nach Deutschland ab, entzog sich damit der argentinischen Justiz und lebte seit 2013 straflos in Berlin. Deutschland lehnte einen Auslieferungsantrag ab, da es seine eigenen Staatsbürger grundsätzlich nicht an Staaten außerhalb der EU ausliefert. Inzwischen ist Deutschland zum Rückzugsgebiet für Doppelstaatler geworden, die in Lateinamerika gesucht werden: wegen Beteiligung an Verbrechen von Diktaturen oder der Colonia Dignidad, wie im Fall von Hartmut Hopp, dem früheren Krankenhausleiter jener deutschen Sektensiedlung in Chile.

Ermittlungen der deutschen Justiz

2019 erstattete Anahí Marocchi zusammen mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin Anzeige gegen Kyburg. „Über Jahre haben wir darauf hingearbeitet, dass die Generalstaatsanwaltschaft Berlin nicht nur umfassend ermittelt, was sie getan hat, sondern auch eine Anklage erhebt, was ebenfalls geschehen ist“, sagt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR. In Zusammenarbeit mit der argentinischen Justiz vernahm die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Zeug*innen in Argentinien und Europa und wertete von Argentinien im Rahmen der internationalen Rechtshilfe bereitgestellte Militärakten, Einsatzpläne und frühere Urteile aus. Bei einer Durchsuchung von Kyburgs Wohnung im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg am 31.1.2023 wurden Dokumente und Datenträger beschlagnahmt.

Biologische Straflosigkeit

Die 224-seitige Anklage war am 30. Oktober 2023 fertig gestellt und bereits an das Schwurgericht in Berlin übermittelt worden, wie Kaleck bestätigt. Da Mitte November bekannt wurde, dass Kyburg bereits am 11. Oktober 2023 eines natürlichen Todes verstorben ist, wird das Verfahren nun aber voraussichtlich eingestellt, erklärt die Generalstaatsanwaltschaft Berlin.

„Für mich als Angehörige von Verschwundenen und auch für die deutsche und die argentinische Gesellschaft ist es sehr bitter, dass Kyburg straffrei ausgegangen ist,“ sagt Anahí Marocchi, die Schwester des in der Marinebasis in Mar del Plata verschwundenen Omar Marocchi. „Es ist auch sehr enttäuschend, dass die Justiz so langsam ist.“ Tatsächlich führen langwierige Abläufe in der Justiz in vielen Fällen zu einem Phänomen biologischer Straflosigkeit. „So schwere Verbrechen wie systematische Entführung, Folter und Mord dürfen nicht straflos bleiben“, kritisiert Rodrigo Díaz, der Neffe des Verschwundenen Omar Marocchi. „Das ist ein schwerer Affront für die argentinische Gesellschaft und die Welt“.

Straflos, aber zumindest angeklagt

Die Enttäuschung, dass das Strafverfahren nun nicht mehr weitergeführt wird, teilt Wolfgang Kaleck. Dennoch betrachtet der Jurist die Anklage „als einen wichtigen Erfolg“ und das ECCHR will sie kommentieren und nach datenschutzrechtlicher Bearbeitung veröffentlichen. „Insbesondere für Argentinien wird es wichtig sein, um das Rollback zu verhindern, dass von der neuen Regierung zu befürchten ist“, so Kaleck, denn „insbesondere die designierte Vizepräsidentin [Victoria Villarruel, Anm. UL] tritt als so genannte Negationistin in der Öffentlichkeit auf, d.h. sie bestreitet und relativiert die Verbrechen der Militärdiktatur“.

Während der argentinischen Diktatur (1976 bis 1983) verschwanden bis zu 30.000 Menschen gewaltsam. Rund 500 Kinder von Oppositionellen wurden geraubt und meist an Miltärs übergeben. Argentinische Strafgerichte haben fast 1500 Personen wegen der Verbrechen der Militärdiktatur verurteilt und damit internationale Standards gesetzt.
„Die argentinische Justiz hat in den letzten Jahren eine eigene unabhängige Position eingenommen und muss darin auch unterstützt werden“, erklärt Kaleck. „Wir verstehen es also auch als unsere Aufgabe, als internationale Experten darauf hinzuweisen, dass die juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in Argentinien dem Goldstandard nach völkerrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Maßstäben entspricht“ betont der Jurist. Kaleck setzt auch „immer noch darauf, dass das Verschwindenlassen der Gewerkschafter bei Mercedes Benz Argentinien wie geplant im nächsten Jahr vor einem Provinzgericht in Buenos Aires in der Verhandlung gegen den ehemaligen Werksleiter Juan Tasselkraut verhandelt wird.“

Gestohlene Kinder

Auch Leonardo Fossati (46) hofft darauf, dass die argentinische Justiz in offenen Fällen weiter ermittelt. Seine Eltern sind ebenfalls in Argentinien verschwunden, in der Polizeistation „Comisaria 5“ von La Plata, wo er, Leonardo, selbst geboren wurde. Als Baby wurde er illegalerweise als Kind anderer Eltern ausgegeben und erfuhr erst mit über zwanzig Jahren, mithilfe der „Großmütter der Plaza de Mayo“, wer seine Eltern waren.

Seine Geschichte wird in der Ausstellung „Gestohlene Kinder“ präsentiert, die von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und von der Elisabeth-Käsemann-Stiftung erstellt wurde und ab 2024 in mehreren deutschen Städten und in Washington zu sehen sein wird. Zur Eröffnung der Ausstellung ist Fossati in Berlin und hat auch vom Tod Kyburgs erfahren. „Dass Diktaturverbrecher sterben, ohne verurteilt worden zu sein, trifft uns sehr“, kommentiert er den Tod Kyburgs und anderer Fälle. „Es ist schmerzlich zu sehen, dass sie ihr Leben so leben konnten, als hätten sie gar keine Verbrechen begangen.“

Heute ist Fossati selbst bei den Großmüttern der Plaza de Mayo aktiv. Er setzt darauf, das Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken, warum Diktaturen in Lateinamerika an die Macht kamen und welche Interessen dahinter standen. So will er dazu beitragen, die Erinnerung wachzuhalten, damit so etwas nie wieder passiert.
„Die neu gewählte Regierung [Javier Milei, Anm. UL] wurde vor allem aus wirtschaftlichen Gründen gewählt“, meint Fossati. Er glaubt, „dass die Bevölkerung immer noch gegen die Verbrechen der Diktatur eingestellt ist und uns im Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit weiter unterstützen wird.“

Eine kürzere Version ist in den Lateinamerika Nachrichten erschienen.

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