von Lydia Cacho
(Mexiko-Stadt, 13. Oktober 2014, cimac).- Warum so viel Aufsehen um den Fall von Iguala im Bundesstaat Guerrero, wo doch jede Woche Morde in Mexiko geschehen? Das fragte ein italienischer Reporter in zynischem Ton während eines Interviews in dem europäischen Land.
Er ist nicht der einzige, der sich angesichts der Normalisierung der extremen Gewalt diese Frage stellt. Einheimische und Fremde wiederholen hier und dort den Satz, dass es keine Lösung für Mexiko gäbe.
Normalisierung extremer Gewalt
“Das Gewaltproblem lässt sich lösen, indem die korrupten Politiker umgebracht werden”, meinte ein aufgebrachter Jugendlicher in sozialen Netzwerken. Alles deutet darauf hin, dass wir uns inmitten einer falschen Gleichung befinden: entweder die Kapitulation vor dem Chaos oder die Rache aufgrund der Ungerechtigkeit. Es ist offensichtlich, dass uns keine der beiden Optionen aus diesem komplexen Szenario befreien kann, das Mexiko schon seit zu vielen Jahren aufgerieben hat.
Wenn wir neue Antworten wollen, sagen die Expert*innen, so müssen wir uns auch andere als die gewöhnlichen Fragen stellen. Ich denke, um das Massaker zu verstehen, dass durch das Militär im Bundesstaat Mexiko verübt wurde, müssen wir uns fragen: Gibt es nicht tatsächlich einen Teil des Militärs, der davon überzeugt ist, dass das Erschießen von Zivilpersonen ein militärisches Sonderrecht dieser undurchschaubaren Rolle ist, die das Militär seit acht Jahren als eine Art verfassungswidrige Polizei spielt?
Soziale Säuberung
Während der Amtszeit Calderóns wurde immer wieder behauptet, dass die soziale Säuberung, wie es sie in den 1970er Jahren gab, zurückgekehrt sei.
Unbequeme Journalist*innen werden umgebracht; soziale Bewegungen werden von Provokateuren der Regierung unterwandert, die darauf spezialisiert sind, sozialen Protest in Verruf zu bringen; Aktivist*innen, die von Quintana Roo bis Puebla und Chihuahua gegen korrupte und manipulative Regierungen rebellieren, enden als Gefangene mit dem Vorwurf der Sabotage und anderen Delikten, die konstruiert wurden, um es ihnen unmöglich zu machen, sich gegen die Justiz zu verteidigen. Dies ist ganz klar ein Mittel des Spotts der wütenden Regierenden, die angesichts des Gemetzels und der Straflosigkeit beschlossen haben, zu plündernden Politikern zu werden anstatt zu Erneuerern des Systems.
Kritik der UNO an der Rolle des mexikanischen Militärs
Es sind nicht mehr nur wir Mexikaner*innen, die zu den Fragen über die soziale Säuberung zurückkehren, hinter der sich das systematisch erzwungene Schweigen des sozialen Protests und der freien Presse verbirgt.
Kürzlich hat Christof Heyns, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zur Dokumentation von außergerichtlichen Hinrichtungen, welche für diktatorische Regime oder bei Bürgerkriegen typisch sind, die Vermutung aufgestellt, dass es sich beim Tod von 22 Personen durch das mexikanische Militär im Verwaltungsbezirk Tlatlaya im Bundesstaat Mexiko, der von Eruviel Ávila regiert wird, um eine ganz strategisch geplante Hinrichtung handeln könnte. Bei den Vereinten Nationen fragt man sich, ob sich dieses Szenario wiederholen wird, wenn unfähige Regierende nun weiterhin ein militärisches Eingreifen fordern.
Es gibt genügend Beweise, um den Anstieg der Verfolgung durch Angehörige des Staatsapparats von Student*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen zu belegen, die so ungemütlich geworden sind, dass sie für Feinde oder Gegner*innen gehalten werden, die ausgeschaltet werden müssen. Ein Beweis ist, dass Militärs 22 unschuldige Menschen durch Erschiessen getötet haben; ein Beweis ist, dass Regierende verschiedener Bundesstaaten das Verprügeln, Entführen und Töten von Aktivist*innen und Journalist*innen unterstützt haben; ein Beweis ist, dass es Polizist*innen waren, welche die Jugendlichen aus Guerrero “mitgenommen haben”.
Die UNO ist endlich aus ihrem Dämmerschlaf erwacht, in dem sie scheinbar fasziniert war von dem verführenden Diskurs der Glückseligkeit, den Peña Nieto zwei Jahre lang weit und breit gehalten hat.
Auf dem Weg zum Drogenstaat?
Das Europäische Parlament hat seinerseits den Blick auf Mexiko gerichtet mit der Frage, ob diese Täuschung der Partei der Institutionellen Revolution möglicherweise die Türen zu einem wahrhaftigen Drogenstaat öffnet.
Sollte dies der Fall sein, befänden sich die ausländischen Investitionen tatsächlich in Gefahr, was nicht mehr nur die mexikanische Presse, sondern auch Spezialist*innen für Kapitalsicherheit und politische Stabilität sagen. Die Augen der Welt haben sich auf Mexiko gerichtet, aufgrund der scheinbar zwei großen Massaker [in Iguala und Tlatlaya].
Wir wissen bereits, dass es Drogenhändler*innen gibt, die zu Politiker*innen geworden sind und Politiker*innen, die zu Kriminellen und professionellen Zensor*innen mutiert sind. Jetzt nimmt das scheinbar auch Europa ernst.
Vielleicht schaffen sie es ja, die staatliche Regierung dazu zu bringen, die Verantwortung für das zu übernehmen, wofür sie zuständig ist. Vielleicht ist die Tour des Ruhmes von Peña Nieto nun zu Ende und er muss ernsthaft zu arbeiten beginnen. Vielleicht wird es ihm nicht mehr reichen, Erdöl als Allerheilmittel für eine floriende Wirtschaft anzubieten. Ohne Sicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kann eine Wirtschaft weder florieren noch stabil sein. Es ist Zeit, das zu begreifen.
Ein Urteil über die Regierung Peña Nietos von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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