„Der Staat tötet Menschen aus Berechnung“

(Montevideo, 8. Januar 2022, la diaria).-  Der diesjährige Preis für den Kampf um Menschenrechte und Solidarität der uruguayischen Mario-Benedetti-Stiftung ging an die kolumbianische Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen (Movimiento de Víctimas de Crímenes del Estado, kurz: Movice). Martha Giraldo reiste im Dezember nach Montevideo, um den Preis im Namen der Bewegung entgegenzunehmen. Ihr Vater José Orlando Giraldo starb als sogenannter falso positivo durch die Kugeln der kolumbianischen Armee. Die Soldaten hatten den Bauern posthum als im Kampf getöteten Guerillero dargestellt und für seine Ermordung vermutlich Urlaub oder andere Vergünstigungen erhalten. Nach dem Tod ihres Vaters entschied sich Giraldo, für Menschenrechte zu kämpfen und sich Movice anzuschließen. Die Organisation vereint unter ihrem Dach rund 250 Organisationen aus verschiedenen Teilen des Landes, die für die Opfer von Verschwindenlassen und Ermordung eintreten. Hier nun ein Interview mit Movice-Mitglied Martha Giraldo.

Wie ist Movice entstanden?

Wir haben 1990 mit unserer Arbeit als Bewegung von und für die Opfer staatlicher Gewalt begonnen. Im Jahr 2000 oder 2002 haben wir angefangen, uns als Movice zu organisieren, und seit 2005 sind wir als offizieller Verband unter diesem Namen aktiv, der heute etwa 250 Organisationen umfasst. Unser Ausgangspunkt war, Fälle von staatlicher Kriminalität zu sammeln und zu untersuchen, vor allem, um zu beweisen, dass es das gibt: Staatsverbrechen. Dass es eine Politik mit dazugehörigen Regeln gibt, die vom Staat entwickelt werden, um Andersdenkende zu eliminieren. Menschen, die Rechte fordern, die für soziale Gerechtigkeit eintreten. Das hat nichts mit der extremen Linken zu tun. Hier geht es um staatsbürgerliche Rechte, um das Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, um die Rechte der Opfer, aber auch um gesellschaftliche Rechte, das Recht auf Bildung, das Recht auf Gesundheit. Das sind bei uns nämlich keine Rechte, sondern Dienstleistungen, mit denen ein Riesengeschäft gemacht wird und die nur von denjenigen in Anspruch genommen werden können, die sie sich leisten können. Das Grundprinzip unserer Bewegung ist, in Kolumbien sagen zu können, was hier eigentlich passiert. Mittlerweile haben wir mehr als 40.000, 41.000 Fälle dokumentiert.

Was sind das für Fälle?

Häufig sind es Zwangsumsiedlungen. Bäuer*innen, Indigene und Afrokolumbianer*innen werden durch Terror und Gewalt von ihrem Land vertrieben und gezwungen, woandershin zu ziehen. Das ist bereits ein Verbrechen, das der Staat gegen seine Bewohner*innen verübt – mit Hilfe der Armee, der regulären Streitkräften also, aber auch mit Unterstützung der paramilitärischen Strukturen, der Autodefensas Unidas. Die sind quasi als inoffizieller Arm des Staats an den Enteignungen beteiligt. Menschen von ihrem Land zu vertreiben, sie zu zwingen, in eine Stadt zu gehen, wo sie den Armutsgürtel vergrößern und auf den Straßen um Essen betteln müssen – das sind verbrecherische Handlungen. Und was noch dazu kommt: Das Land, das diesen Menschen gehört hat, nehmen sich die multinationalen Konzerne und ziehen darauf ihre Megaprojekte hoch. Da kommen ihre geostrategischen Interessen ins Spiel. Die Vertreibung geht einher mit Enteignung. Deshalb sagen wir, dass eine bestimmte Absicht dahintersteht, nämlich die Menschen zu enteignen.Und das muss einfach dokumentiert werden. Wir haben auch den politischen Völkermord an Mitgliedern der Unión Patriótica [Aktivist*innen der linken Partei wurden in den 1980er Jahren von Paramilitärs verfolgt und ermordet] mit aufgenommen, denn an diesen Fällen wird exemplarisch deutlich, dass es in Kolumbien einen Völkermord gibt, der sich gegen alle Andersdenkenden richtet, gegen alles, was nicht in die Vorstellung einer Oligarchie passt. Diese Oligarchie ist seit ewigen Zeiten an der Macht und vererbt sie einfach weiter. Die Präsidentschaft der Republik wird alle vier Jahre einfach weitergegeben wie bei einem Staffellauf.

Auch Folter und gewaltsames Verschwindenlassen von Menschen sind häufig praktizierte staatliche Verbrechen. Was das Verschwindenlassen angeht, hat sich der Modus Operandi im Laufe der Jahre sehr verändert. Diese Form der Repression wurde in den 1970er Jahren vom Staat höchstselbst eingeführt, und mittlerweile tun es alle: kriminelle Banden, der organisierte Drogenhandel, die Autodefensas Unidas und ihre Nachfolger. Wenn wir solche Fälle dokumentieren, fragen wir jedesmal: Inwieweit ist der Staat involviert? Was haben die verschwundenen Menschen beruflich gemacht, falls sie gearbeitet haben? Was an dem, was sie getan haben, hat den kolumbianischen Staat veranlasst, diese Verbrechen zu begehen? Denn es gibt immer wieder Morde an Zivilist*innen, die der kolumbianische Staat durch die Sicherheitskräfte begehen lässt. Und dann gibt es noch die Fälle der sogenannten falsos positivos.

Einer von ihnen war Ihr Vater.

Ich bin die Tochter von José Orlando Giraldo. Mein Vater war Bauer. Die Armee hat ihn außergerichtlich hingerichtet und ihn als Guerillero hingestellt, der im Kampf getötet wurde. Mein Vater war ein Bauer, ein Campesino. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, was das in Kolumbien bedeutet. Ein Campesino ist jemand, der sein ganzes Leben lang auf einem Stück Land verbringt. Es ist nicht sehr groß, aber es gehört ihm. Dort baut er Nahrungsmittel an, und es gibt Platz für ein paar Tiere. Er verkauft Obst, Getreide, Tiere, Milch und Käse, alles selbst erwirtschaftet, und sein Einkommen reicht, um den Hof zu erhalten. Genauso lebte mein Vater. Und dann kamen eines Tages ein paar Soldaten, Mitglieder der dritten Brigade des Cali-Bataillons, und behaupteten, er sei ein Guerillero. Sie töten ihn, und anschließend berichten alle Medien, sie hätten einen hochgefährlichen Guerillero aus der FARC-Einheit Libardo García getötet. Es hat 13 Jahre gedauert, bis die Unschuld meines Vaters offiziell festgestellt wurde. Erst 2019 galt es offiziell als bewiesen, dass er kein Guerillakämpfer war, sondern Bauer. Sieben Soldaten, darunter ein Major der Armee, wurden zu 32 Jahren Haft verurteilt.

In Kolumbien sind es vor allem die Opfer, die die Beweise liefern müssen, deshalb war es ein sehr langer Kampf. Und extrem viel Arbeit. Dabei haben nicht alle Opfer staatlicher Straftaten die gleichen Möglichkeiten. Mein Vater hatte drei Töchter, und wir haben alle drei studiert, das macht einen Riesenunterschied. Ich will damit nicht sagen, dass wir etwas Besseres sind, sondern dass Studieren in meinem Land ein Privileg ist. Nicht alle haben diese Möglichkeiten. Meine Eltern haben große Opfer gebracht, um ihre Töchter zur Uni schicken zu können, und zu meiner Zeit war das für Bauernfamilien überhaupt nicht üblich. Normal war, weiter auf dem Land zu arbeiten, aber mein Vater und meine Mutter wollten, dass wir es einmal besser haben. Das hat einen ziemlichen Unterschied ausgemacht. Als mein Vater ermordet wurde, waren zwei von uns schon fertig, eine studierte noch. Dadurch hatten wir ganz andere Voraussetzungen, um für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten, schon allein unter wirtschaftlichem Aspekt. Wir hatten ja schon unsere Jobs, nur so konnten wir überhaupt weitermachen, denn der ganze Prozess war sehr teuer.

Was waren das für Kosten, die da anfielen?

Wir lebten außerhalb und mussten immer in die Hauptstadt des Landes reisen, um unsere Ansprüche geltend zu machen, um Dokumente und Beweise vorzulegen. Wir haben den vermeintlichen Tatort gefilmt und gesagt, dass unesr Vate  dort nicht ermordet wurde, und die Justiz konnte das dann auch irgendwann beweisen, aber wir haben es von Anfang an gesagt und alles an Beweisen gebracht, was wir bekommen haben. Als ich nach der Ermordung meines Vaters auf den Hof kam, habe ich herumtelefoniert und gesagt: Wir brauchen hier einen Fotoapparat und eine Videokamera, bevor sie mit den Untersuchungen anfangen. Man hat auf einem Bauernhof nicht einfach so eine Kamera. Und Handys, mit denen man filmen oder fotografieren kann so wie heute, gab es damals auch nicht.  Dafür gibt es aber heute Menschen, die sagen: Wenn sie es geschafft hat, Gerechtigkeit zu kriegen, dann kann das bei anderen auch klappen. Es gab jedoch in unserem Fall eine Reihe von Besonderheiten. Privilegien, die nicht dem Standard entsprechen. Dinge, die nur einigen Menschen in Kolumbien zugute kommen.

In Kolumbien gibt es nach Angaben der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden etwa 6.400 Fälle von falsos positivos. Wir denken, dass die tatsächliche Zahl viel höher liegt und dass es mit der unzureichenden Berichterstattung und der Unzugänglichkeit des Amazonas-Gebiets zusammenhängt, dass etliche Fälle nicht erfasst werden, denn bei all den Menschen, die so abgeschieden leben, gibt es nicht genügend institutionelle Infrastruktur. Außerdem werden Beamte getötet oder verschwinden. Das schwächt den gesamten Justizapparat ganz erheblich, und es erschwert die Untersuchung dieser Verbrechen. Außerdem wird so getan, als seien außergerichtliche Hinrichtungen ein neues Phänomen. Als ob die Armee erst im Jahr 2000 angefangen hätte, Menschen zu töten und sie als Guerilla-Kämpfer*innen hinzustellen, dabei haben sie das schon immer getan, auf unterschiedliche Art und Weise, aus unterschiedlichen Gründen, aber dass der Staat seine Probleme löst, indem er Menschen tötet, das hat in unserem Land eine lange Tradition.

Schon vor Beginn des bewaffneten Konflikts, in den 1960er Jahren, hat der Staat Menschen getötet. Und nachdem das Abkommen mit der FARC-Guerilla unterzeichnet worden und der bewaffnete Konflikt angeblich beendet war, auch. Bei den sozialen Unruhen vor einigen Monaten haben wir auch gesehen, wie Demonstrant*innen getötet wurden. Das war zwar nicht die Armee, sondern die Nationalpolizei, aber die sind ja auch Teil des staatlichen Sicherheitsapparats, und sie machen genau das gleiche. Sie stellen die Menschen, die sie töteten, als Feinde der Nation dar, als Vandalen, die die Ampeln beschädigen, die den Verkehr behindern. Straßen blockieren und die Autos an der Weiterfahrt zu hindern ist hier mittlerweise ein Verbrechen. Aber die Menschen dafür zu töten, dass sie den Verkehr behindern, ist keins. Und so wird es der Gesellschaft auch verkauft. Die Gesellschaft bezieht ihre Infos aus den Medien und ist entsprechend voreingenommen. Und die Tatsache, dass nicht alle Zugang zu Bildung haben, verschärft die Polarisierung. Wir dokumentieren also diese Verbrechen und sehen, wie es läuft, wie die Armee vorgeht, wenn sie das Geld haben, um Menschen zu töten, wie sie es anstellen, Menschen umzubringen und als Guerillos hinzustellen.

Welcher Platz wird den Opfern in Kolumbien eingeräumt?

Damals wollten die Autodefensas Unidas erreichen, dass ihre Verbrechen als politisch eingestuft werden, aber sie sind eine bewaffnete Gruppe, Vandalen, vom Staat bewaffnet, damit sie in der Lage sind zu töten. So entstand das Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden, dieses Übergangsgesetz 975. Uns sagen sie, das Recht der Welt habe sich weiterentwickelt, es gehe nicht mehr in erster Linie um Strafe, sondern um Erinnerung und Wahrheit, und die Opfer müssten sich damit abfinden, dass Strafen nicht mehr so hoch sind. Sie sagen: „Wir werden die Mörder nicht einsperren, aber sie werden ihnen ein paar Dinge sagen, die euch zufrieden stellen werden, ihr werdet schon sehen. Kommt schon, ihr müsst auch vergeben können, euren Hass und eure Rachegefühle abschütteln.“ Ihr Diskurs über Vergebung ist für uns als Opfer eine  Zumutung. Und dann sagen sie auch noch: „Ihr seid keine Opfer, ihr seid Hinterbliebene.“ Stellen Sie sich das mal vor: ein Land wie Kolumbien mit neun Millionen Opfern, die große Zahl der Binnenflüchtlinge eingeschlossen, vom Staat und vom Kongress als Opfer anerkannt, die dann von sich sagen: „Nein, wir sind keine Opfer, wir sind Hinterbliebene“. Sie wollen mit ihrem Verleugnungsdiskurs alles wegreden, was wir sind. Das bereitet uns großes Unbehagen.

Wir von Movice  haben schon damals gesagt, dass dieses Gesetz 975 das Letzte ist, was uns weiterbringt. Dass das nicht auf „Gerechtigkeit und Frieden“  mit den Paramilitärs hinausläuft. Sie haben Krematoriumsöfen gebaut und mehr als 1.100 Massaker begangen. In Kolumbien sprechen wir von Massaker, wenn mehr als drei Menschen getötet werden. Sie haben so viele Menschen ermordet, in den Fluss geworfen, verschwinden lassen, und diese Menschen, die das getan haben, sollen nun maximal acht Jahre Gefängnis bekommen, wenn sie die Wahrheit sagen. Das bedeutet faktisch doch: weder Haft noch Wahrheit. Wir wissen doch gar nicht, was sie alles getan haben. Ja klar, einige Paramilitärs haben wirklich ein paar Infos preisgegeben, eher die unteren Ränge. Einige haben etwas über die Verbindung zur Armee erzählt, darüber, wie einige Soldaten, darunter General Mario Montoya, die paramilitärischen Strukturen unterstützten. Einige haben ihren Modus Operandi geschildert, wie sie in die Dörfer eingefallen sind und anfingen, Menschen zu töten, weil sie glaubten, das Gebiet werde von der Guerilla beherrscht.

In Kolumbien gibt es im Militärjargon den Begriff „den Fischen das Wasser abgraben“. Und sie denken, einen Campesino, Afrokolumbianer oder Indígena zu töten heißt, der Guerilla die Lebensgrundlage zu entziehen. Aber hier steht das Volk nicht hinter der Guerilla. Das, was die Aufständischen machen, hat für uns nichts Idyllisches oder Romantisches wie in anderen Ländern. Wir haben genug Gewalt, Morde und Verletzung unserer Rechte erlebt, auch durch die Aufständischen. Hier ist die Guerilla kein bewaffneter Akteur des Volkes, sondern ein bewaffneter Akteur im Rahmen eines Konflikts, und auch sie hat Gewalt und Einschüchterung zu verantworten, denn auch sie haben Gewalt mit voller Absicht ausgeübt. Außerdem, und das ist wiederum die Gewalt des Staats: Immer wenn irgendwo Aufständische in der Gegend sind, beschuldigt der Staat die Bevölkerung, ihnen zu helfen.

Zeitgleich mit der Verabschiedung des Gesetzes 975 im Jahr 2005 ist Movice als Bewegung entstanden.

Wir haben gesagt: Das ist ungerecht, das ist nicht wahr. So nahm die Sache Gestalt an. In den Jahren 2004 und 2005 haben wir viel Arbeit in den Regionen geleistet. 2005 hatten wir eine Versammlung mit 1.200 Delegierten, und dort haben wir gesagt: Wir sind die landesweite Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen. Seither setzt Movice sich dafür ein, dass diese Dinge sich nicht wiederholen, und kämpft für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, denn in Kolumbien ist Wiedergutmachung für die Opfer eher ein Verwaltungsakt und wird nur wenigen Menschen gewährt. Es ist kein Recht, sondern ein Almosen. Daraus entwickeln wir unsere Kampfstrategien, Mobilisierungen, Demos, Kundgebungen. Wir machen Fotos, dokumentieren Fälle, sprechen mit den Leuten und machen Menschenrechtsverletzungen öffentlich. Uns geht es darum, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, wie z.B. das Oberkommando der Armee oder Álvaro Uribe. Es ist eine Menge Arbeit, denn Sie werden gesehen haben: An Álvaro Uribe kommt man nicht so einfach ran. Ich bin 2006 zu Movice gekommen, weil mein Vater im März 2006 ermordet wurde. Im Juli fand die Versammlung statt, ich wurde eingeladen, und seither bin ich Teil der Bewegung.

Befasst ihr euch auch mit den ganzen Morden an ehemaligen Guerillakämpfer*innen und sozialen Aktivist*innen?

Ja, natürlich. Die ganze Zeit werden Aktivist*innen ermordet. Wir haben dafür nicht so die einschneidenden Ereignisse wie hier in Uruguay, wo man sagen kann, nach dem Staatsstreich oder nach der Einführung der Demokratie wurden viele Menschen ermordet. In Kolumbien passiert das die ganze Zeit: Morde, Verfolgung, weil es immer wieder bestimmte Gebiete gibt, die aufgrund ihrer Bodenschätze schwer umkämpft sind. Bei der Unterzeichnung des Abkommens mit der FARC, als die Waffen übergeben wurden, war ein großes Gebiet im Amazonas noch nie ausgebeutet worden. Niemand hatte bis dahin irgendwelche  Bodenschätze extrahiert. Niemand ging dorthin. Wenn überhaupt, dann kam Ecopetrol, damals ein staatliches Unternehmen, das später privatisiert wurde. Damals gab es also einiges an Reserven. Kaum war das Abkommen mit der FARC unterzeichnet, kamen die Ausbeutung, und die Ermordungen, und die Verfolgung von Aktivist*innen hat auch zugenommen. Seit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung am 1. Dezember 2016 wurden 1.284 Führungspersönlichkeiten ermordet, Männer und Frauen, oft Vorsitzende der Gemeinden, die von der Nachbarschaft gewählt wurden und als Bindeglied zum Staat fungieren. Sie stellen den Kontakt her, wenn die Gemeinde irgendwas braucht, zum Beispiel einen Lehrer oder einen Arzt. Die Ermordung von Menschenrechtsverteidiger*innen, von lokalen Führungspersönlichkeiten ist die Ermordung der Demokratie. Wer sonst soll ihre Rechte verteidigen?

Werden Sie eigentlich irgendwie beschützt?

Ja, aber das ist eher ein Griff ins Klo. Ich habe seit 2009 zwei bewaffnete Begleiter. Der kolumbianische Staat führt eine Risikoanalyse durch, und zwar durch eine Einrichtung, die dem Innenministerium untersteht und Nationale Schutzeinheit heißt, damals hieß sie Sicherheitsverwaltung. Sie machen eine Risikoanalyse und sagen: Ja, Sie sind gefährdet, die nationale Armee, die Streitkräfte könnten Sie ermorden. Aber das ist doch der Staat selbst. Die Prozedur wiederholt sich jedes Jahr, immer kommt dabei raus: Ja, Sie brauchen Schutz, und dann stellen sie mir diese beiden Männer zur Seite. Das gefällt mir überhaupt nicht. Wir leben in einer Demokratie, ich habe das Recht, mich als Menschenrechtlerin zu betätigen, und der Staat soll mir garantieren, dass das geht, und den institutionellen Rahmen entsprechend umgestalten, und mir nicht zwei Männer zuteilen, die genauso getötet werden könnten wie ich. Was für eine perverse Logik. Hier werden doch keine Rechte umgesetzt! Und dann muss ich auch noch dafür kämpfen, dass sie mir keine ehemaligen Militärangehörigen oder Verwandte von Militärangehörigen schicken. Neulich wollten sie mir zum Beispiel ein Hausmädchen zuteilen. Ich habe mich mit ihr getroffen und fand sie sehr nett. Und im Laufe unseres Gesprächs erzählt sie mir: „Mein Mann ist Leutnant in der Armee in der dritten Brigade.“ Ich sage zu ihr: „Verdammt, Ihr Mann und seine Kameraden haben meinen Vater getötet, ich kann Sie nicht aufnehmen, damit Sie für mich oder meine Tochter sorgen.“ Sie sagen, dass ich übertreibe, und vielleicht ist es irgendwie schlicht, das so zu behaupten, aber für mich ist es genau so, denn ich kann ja niemanden persönlich benennen. Für mich waren es eben die, die Dritte Armeebrigade.

Die Rückkehr der FARC-Guerillas zu den Waffen

Die Leute von der Guerilla kamen in diese kleinen Weiler, nachdem abgemacht war, dass sie ihre Waffen abgeben. Der Staat hatte sich verpflichtet, Lager für sie einzurichten, damit sie dort wohnen, kochen und leben konnten, aber sie sollten auch irgendwas lernen, denn sie mussten von dort weg und sich wieder in das zivile Leben eingliedern. Da viele von ihnen in der Guerilla geboren worden waren, hatten sie keine Ahnung, wie alles geht, wie man ein Bett macht oder fegt, denn außer schießen, töten und stehlen hatten sie ja nie etwas getan. Und der Staat hat seine Zusagen nicht eingehalten. In vielen Fällen bekamen sie kein Lager gebaut, oder sie bekamen eins, aber es gab keine Betten, keine Essensrationen oder nur halbe. Mit Leuten, die quasi auf Befehl zum Frieden überwechseln, funktioniert das nicht. Der Friedensvertrag wurde ja von ihren Befehlshabern unterzeichnet, nicht von der Guerilla. Also sind viele Menschen einfach wieder zurückgegangen. Bei vielen hat es geklappt mit der Wiedereingliederung in das zivile Leben, aber andere sind ohne ihre Kommandanten zurückgegangen in den Krieg. In der Pazifikregion, wo ich arbeite, in Buenaventura, ist die mobile Kolonne Jaime Martínez aktiv, und es wimmelt von bewaffneten Menschen. In vielen Gebieten wie im Cauca hat die Gewalt durch die Ausbreitung dieser Gruppen stark zugenommen. Das geht auf das Konto des Staats, der seine Zusagen nicht eingehalten hat. Sonst wäre vielleicht auch was passiert, aber nicht in einem solchen Ausmaß.

Übersetzung: Lui Lüdicke

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Eine Antwort zu “„Der Staat tötet Menschen aus Berechnung“”

  1. […] Mittlerweile wächst das Unbehagen des kolumbianischen Volkes. Nach dem sozialen Ausbruch im letzten April in Kolumbien herrscht weitherhin Ungewissheit. Laut Zahlen der Menschenrechtsbeobachtungsstelle „INDEPAZ” wurden zwischen Januar und November 2021 in Kolumbien 168 soziale Anführer:innen und Aktivist:innen ermordet und es geschahen 92 Massaker mit 326 Opfern. Im selben Jahr wurden über 72.000 Menschen Opfer gewaltsamer Vertreibung. Das Jahr 2022 beginnt mit Massakern an der venezolanischen Grenze, zahlreichen Angriffen auf Büros der Opposition und dem Mord an dem 14-Jährigen indigenen Umweltaktivisten Breiner Cucuñame. Das Prinzip des Narco-Paramilitärregimes: wer stört, fliegt raus – oder stirbt. Begleitet werden die Ereignisse durch den rechtsextremen Diskurs der amtierenden Regierungspartei, der vor dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ warnt und vor diesem Hintergrund die Hinrichtung von sozialen Anführer:innen, Menschenrechtsverteidiger:innen und Umwelt…. […]

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