30.000 Vermisste und Verhaftete, ungezählte Verbrechen

Diktatur Mapuche
Moira Millán
Foto: Cobertura Colaborativa Ella 2018
via flickr
CC BY-SA 2.0 Deed

(Esquel, 23. März 2024, ANRed).- Am 24. März haben wir der schändlichen Diktatur gedacht, die an jenem Tag vor 48 Jahren ihren Anfang nahm, ermöglicht durch den Zusammenschluss des Militärs mit zivilen und kirchlichen Kräften. Dieses Datum ist heute besonders wichtig, da die aktuelle Regierung die Ereignisse offen leugnet: Sie stellt die Anzahl der Verbrechen, die in der Vergangenheit von Menschenrechtsorganisationen angeprangert wurden, in Frage und versucht, die Theorie der zwei Dämonen erneut zu etablieren, die besagt, dass Verbrechen von staatlichen Akteuren im Rahmen des Staatsterrorismus der Gewalt der Widerstandsorganisationen gleichzusetzen sind. Dies führt zu einer weiteren Eskalation der politischen Gewalt, wie wir sie derzeit erleben. Dazu zählen der Angriff auf die Aktivistin von H.I.J.O.S., einer Organisation von Kindern von Verschwundenen, Exilierten, politischen Gefangenen und Ermordeten der Militärdiktatur, die Morddrohungen gegen Teresa Laborde Calvo, die Tochter der Menschenrechtsaktivistin Adriana Calvo sowie die Telefonüberwachung, die die Aktivistin Estela de Carlotto kürzlich öffentlich gemacht hatte.

Die Anzahl

Aufgrund des illegalen Charakters der Diktaturverbrechen und des klandestinen Vorgehens bei Entführungen, der Folter, Mord und dem Verschwindenlassen von Menschen gibt es keine offizielle Angabe über die Zahl der Verhafteten und Verschwundenen. Eine offizielle Statistik existiert auch deshalb nicht, weil die Täter des Völkermordes bis heute an einem Pakt festhalten, der ihre Straffreiheit garantiert. Die Archive bleiben verschlossen, so dass es bis heute nicht möglich ist, die Namen und die Zahl der Opfer herauszufinden. Die Zahlen wurden während der Militärdiktatur anhand der aus dem In- und Ausland eingegangenen Anzeigen grob geschätzt. LGBTIQ+ Initiativen sprechen von 30.400 Personen, darunter Travestis, Trans-Personen, Lesben und Schwule, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung entführt, gefoltert, verschwunden und ermordet wurden.

Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit

Wenn es bereits in urbanen Kontexten schwierig war und ist, die Ereignisse zu rekonstruieren, welche Möglichkeiten bestanden dann für die indigene Bevölkerung in den ländlichen Gebieten, für die es von jeher schwieriger war, Gerechtigkeit für sich einzufordern? Wie erlebten indigene Völker, die seit der Gründung des Nationalstaates verfolgt und stigmatisiert wurden, die Diktatur in ihren Territorien?

Darüber sprachen wir mit der Weychafe (Mapuche-Kriegerin) Moira Millán vom Volk der Mapuche, die derzeit in der Stadt Esquel für die Freilassung des politischen Gefangenen Matías Santana kämpft und Solidarität mit dem Longko Mauro Millán fordert, der sich derzeit wegen Landbesetzung vor Gericht verantworten muss.

„In unserem Fall existiert die Verleugnung als staatliche Politik seit der Gründung Argentiniens bis heute. In den 40 Jahren Demokratie wurde unsere Existenz, die Existenz der indigenen Völker, fortgesetzt geleugnet. Die kontinuierliche und systematische Verdrängung unseres indigenen Lebens, unser physisches Verschwinden geht weiter. In Argentinien gibt es 40 indigene Völker. Der Staat hat nie versucht, die Zahl der während der Militärdiktatur verschwundenen Menschen zu erfassen. Viele Gemeinden berichten, dass Mitglieder ihrer Familien entführt wurden und dass sie nicht auf der Liste der 30.000 Verschwundenen auftauchen. Schuld sind der Rassismus und die Tatsache, dass die Landbevölkerung nicht den nötigen Zugang zur Gerichtsbarkeit hatte, um eine Klage einzureichen. Wenn dies schon für die Angehörigen der 30.000 Verschwundenen, von denen die meisten weiße Argentinier waren, schwierig war, kann man sich vorstellen, was es die Angehörigen der indigenen Verschwundenen gekostet haben muss, öffentlich zu machen, was geschehen war.

Ich erinnere mich an den Fall einer Longko, Silvia Ranquehue aus der südlichen Gemeinde Ranquehue in Furilofche bzw. San Carlos de Bariloche. Sie erzählte mir, dass sie und andere Mitglieder ihrer Gemeinschaft im Kampf gegen die Armee, die während der Diktatur in ihr Land eingedrungen war, in die Stadt Viedma gebracht und dort inhaftiert wurden. Es seien auch andere Mapuche-Lamien (Schwestern) dorthin gebracht worden, aber danach habe man sie nie wiedergesehen. Sie verlor den Kontakt; es hieß, sie seien verschwunden. Leider gibt es in den Gemeinden viele solcher Zeugenaussagen. Die Untersuchung dieser Fälle und die Erstellung eines Berichts war für keine Regierung, keine Universität und keine Institution je eine Priorität. Wir haben also immer noch keine Gewissheit. Aber da ich von einem erzählenden Volk abstamme, bei dem unsere Wahrheiten und unser Gedächtnis durch mündliche Erzähltradition überliefert wird, glaube ich natürlich an das, was diese Longko mir erzählt hat.

Für uns hatte die Diktatur eine Vielzahl von Facetten. Es geht uns nicht nur um die Verschwundenen, um die Unterdrückung. Ich erinnere mich an das Jahr 1979. Ich war neun Jahre alt, es war das internationale Jahr des Kindes, und wir lebten in der Diktatur. Im jenem Jahr stand die Regierung kurz davor, Chile den Krieg zu erklären. Etliche Familien mit Hunderten von Kindern wurden vertrieben und mitten im Winter in die Berge gebracht. Eines dieser Kinder war mein Schulkamerad, er war Mapuche. Sein kleines Haus wurde von einem Unimog zerstört und er stand auf einmal vor dem Nichts, mitten in Patagonien auf dem Gipfel der Anden. Ich sehe noch seine Augen, die mich anblickten. In seinem Blick spiegelten sich Stolz und Würde. Seine ganze Familie weinte vor Verzweiflung, doch er hielt die Tränen zurück. Was mag aus ihm geworden sein? Vielleicht ein weiterer Verschwundener auf der langen Liste, die auf das Konto dieser wahnsinnigen Diktatur geht.“

 

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