Von Nils Brock
(Rio de Janeiro, 03. Mai 2016, npl).- Die staatliche brasilianische Universität Campinas liegt in einem Industriegebiet, gut anderthalb Autostunden entfernt von São Paulo. Hier wo die Militärs in den 1970ern ihr Kernwaffenprojekt „Solimões” versteckten, trifft sich am heutigen Nachmittag ein bunter Haufen Medienaktivist*innen. Der Seminarraum ist voll mit indigenen Radiomachenden aus Ecuador und Peru, Videokollektiven aus dem Amazonas, non-profit Wifi-Initiativen aus Rio de Janeiro und nicht zu vergessen, den technikaffinen Hacker*innen von Nebenan. Versammelt um die Basisstation eines Handynetzes und ein Laptop texten und callen sie sich gerade gegenseitig an. „Eo, eo, chica loca. Hörst du mich?“, ruft einer der Teilnehmenden in sein Handy. Der Praxisworkshop Community-Mobilfunknetze macht hörbar Spaß.
Hier minutenlang zum Nulltarif zu telefonieren hat etwas Befreiendes. In Lateinamerika sind die Mobilfunkgebühren und auch die Internetnutzung im weltweiten Vergleich sehr teuer. Staatliche Konzepte zu nachhaltiger Kommunikation gibt es kaum, kommerzielle Medienriesen wie América Móvil, TIM und NET haben den Äther in Beschlag. So wie ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts Televisa und Rede Globo den Rundfunk monopolisierten, beanspruchen heute Telekommunikationsunternehmen die besten Frequenzbänder, behaupten, nur finanzstarke Player seien in der Lage, ein schnelles Internet und mobile Kommunikation zu gewährleisten.
Community-Mobilfunknetze sind heute leichter und billiger zu erstellen
Doch solche Mythen werden hier auf dem Workshop sprichwörtlich in ihre Einzelteile zerlegt. Die Mobilfunktechnik unterscheidet sich wenig von der kommerzieller Anbieter. Genutzt wird sie bereits von 17 indigenen Gemeinden im südlichen Mexiko. Das so etwas möglich ist, habe vor allem mit einigen technologischen Neuerungen der letzten Jahre zu tun, erklärt Peter Bloom vom Medienkollektiv Rhizomatica, das die Gemeinden im Bundesstaat Oaxaca bei der Selbstorganisation ihrer Telekommunikation unterstützt und technischen Support organisiert. „Hochfrequenzsender, sogenannte software defined radios machen es heute einfach viel leichter und billiger, ein voll funktionales Handynetzwerk zu betreiben, von einem Computer aus mit noch ein bisschen Funktechnik.“ Die Kosten für ein solches Netzwerk, das mehrerer Kilometer Reichweite hat und auf das gleichzeitig viele Hundert Nutzer*innen zugreifen können, liegt inzwischen weit unter 10.000 Dollar.
Das sind Kosten, die, auf viele Schultern verteilt, durchaus aufzubringen sind. Eine nachhaltige Kommunikation ist längst möglich – nur interessiert sich kaum jemand
dafür. Die aktuellen Entwicklungsziele (SDG) der Vereinten Nationen beispielsweise, formulieren keine einzige Absichtserklärung, um die ungleichen Zugänge zu mobilen Netzwerken zu überwinden. Dabei zeigt Rhizomatica, dass sich bereits mit einem geringen Monatsbeitrag von nicht mehr als drei Euro ein Mobilfunknetz nachhaltig betreiben lässt. Rita Muñoz, eine Radiomacherin aus dem peruanischen Nauta ist jedenfalls begeistert, denn im Amazonas sei es derzeit nicht nur teuer mit dem Handy zu telefonieren, auch die Verbindungen seien schlecht. „Die Unternehmen sind eben nicht vor Ort um die Gemeinden zu stärken, sondern orientieren sich am Bedarf von infrastrukturellen Megaprojekten und dem Rohstoffabbau,“ sagt Muñoz. Wenn indigene Gemeinden diese Technologie nutzen wollen, seien die Verbindungen sehr schlecht, Gebühren für einen Service, der nie richtig funktioniert, dafür hoch. Community-Handynetzwerke könnten deshalb eine wirkliche Alternative darstellen.
Doch leider, leider vergeben die meisten Regierungen Mobilfunklizenzen ausschließlich an kommerzielle Anbieter. Wieso eigentlich? Auch Medienaktivist*innen orientieren ihren Kampf um das Recht auf Kommunikation im Äther meist nur an Community Radios. Auch hier in Campinas werden in Gesprächen immer wieder Zweifel laut. Es sei schon schwer genug, ein Community-Radio zu legalisieren. Jetzt auch noch Handynetze? „Ja,“ sagt Bloom „denn es ist wichtig, dass wir Community-Radios im Kontext anderer digitaler Netze und Technologien sehen, ein Kontext, der längst über das Radiomachen hinausgeht und die Frage aufwirft, wie sich Radios selbst neu definieren können.“ UKW-Funk, eigene soziale Netze oder Server, Handynetzwerke oder WIFI-Netze – das alles gehöre zusammen, die Herausforderung sei zu schauen, wie sich alles nachhaltig organisieren lässt.
Nachhaltige Telekommunikation für alle
Nachhaltig, dieser Anspruch richtet sich auch an die Inhalte. Es gehe nicht einfach darum zu schreien “Kostenloses Internet für alle! Vielmehr ist es wichtig, eine Sensibilität für die sozialen Folgen einer Technologie zu entwickeln,“ findet TC da Silva vom afrobrasilianischen Netzwerk Rede Mocambos. Ein breiterer Internetzugang allein, der würde vor allem einem nutzen: Facebook, das schon heute 85 Millionen Nutzer und Nutzerinnen in Brasilien zählt. Für den Geschichtenerzähler und Musiker TC ein Graus, denn „wenn ich im Facebook gefangen bleibe, dann bewege ich mich in einem künstlichen Netzwerk, einem, bei dem ich niemandem in die Augen schaue. Damit verschmähe ich alles, was um mich herum geschieht, das Leben“
TCs Vorfahren schufteten in Campinas noch als Sklav*innen auf Kaffeeplantagen. Heute organisiert die afrobrasilianische Community hier fünf selbst verwaltete Kulturzentren, so wie die Casa de Cultura Tainá. Dort prallen Musik, Politik, Design und Bildungsarbeit ungebremst aufeinander. Die Büros, das Aufnahmestudio, das Internetcafé – alles funktioniert mit Freier Software. Eigene Räume besetzen und organisieren, dazu gehöre eben auch, sich Technologien anzueignen, nicht erst im digitalen Zeitalter, meint TC und holt eine große Trommel hervor. „Wenn ich Trommeln will, dann muss ich auch wissen wie eine Trommel hergestellt wird. Das gibt mir Autonomie. Nur wenn wir die Mittel haben, auszudrücken wer wir sind und was wir machen wollen, dann sind wir wirklich frei.“ Und dazu gehöre für die afrobrasilianische Bevölkerung auch, eigene Territorien zu organisieren, die ihnen lange verwehrt blieben.
Selbstbestimmt auf allen Ebenen
Rede Mocambos geht es dabei nicht nur um Wohnraum, Felder und kulturelle Räume, sondern auch um „freie digitale Territorien.“ Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Rede Mocambos organisiert seit vergangenem Jahr ein eigenes soziales Medium: Baobáxia ist ein digitales Netzwerk, zu dem inzwischen 35 afrobrasilianische Gemeinden zählen. Sie produzieren die Inhalte, speichern sie auf lokalen Servern und posten sie auf einer gemeinsamen Plattform. In einem knappen Jahr sind so bereits tausende Audio-, Video- und Textbeiträge zusammengekommen.
Auf Baobáxia gibt es auch ein Lied, das TCs 18-jährige Tochter Layla während des Medienworkshops mit einem jungen Radiomacher aus Ecuador komponiert hat. Es erzählt die Geschichte eines rebellischen Mädchens aus dem Amazonas, das trotzig zum Fest der Trommeln geht, obwohl es eigentlich eine reine Männerveranstaltung ist. Das Recht auf Meinungsfreiheit, es lässt sich immer wieder neu erzählen. Und auch wenn es die Vereinten Nationen gerade nicht so wichtig finden – ohne selbstbestimmte und nachhaltige Kommunikationsmittel wird auch der Rest der globalen Agenda für saubere Energie, gleiche Bildungschancen und würdevolle Arbeitsbedingungen nicht zu haben sein…
Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts „Fokus Menschenrechte“. Einen Audiobeitrag von Radio onda dazu könnt ihr hier anhören.
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