Leben ohne Hunger, eine Utopie? Diskussion über Ernährungssouveränität

(Buenos Aires, 30. Oktober 2019, ANRed).- Ist ein Argentinien ohne Hunger denkbar? Wer bestimmt über die Lebensmittelpreise? Welche Maßnahmen müsste der Staat dringend ergreifen? Welche Rolle spielen die Agrarökologie und die Landarbeiter*innenverbände bei der Abwendung der Krise? Diese und andere Fragen wurden auf dem Podium des Kulturzentrums Torquato Tasso im Stadtteil San Telmo von Buenos Aires diskutiert. Organisiert wurde das Event von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Cono Sur anlässlich der Eröffnung eines neuen Stiftungsgebäudes. Das Regionalbüro der argentinischen Hauptstadt verbindet die Arbeit der Mitarbeiter*innen verschiedener Büros mit sozialen Initiativen, feministischen Gruppen, Gewerkschaftsverbänden, Mieter*innenvereinen, besetzten Fabriken, Landarbeiter*innenbewegungen und Aktivist*innen für Ernährungs-und Energiesouveränität in Chile, Uruguay und Argentinien. Gerhard Dilger, Leiter des Regionalbüros Cono Sur, eröffnete die Veranstaltung mit den Worten: „Dies ist ein besonderer Augenblick. Der Neoliberalismus hat in den letzten Tagen gleich drei heftige Nackenschläge erlitten: erst in Ecuador, dann in Chile und am Sonntag auch hier.“ Gemeint waren die Unruhen in Ecuador und Chile sowie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Argentinien, das als Linksruck gewertet wird.

„Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen“

Eröffnet wurde die Diskussion von Victoria Tolosa Paz, Stadträtin aus La Plata und Mitentwicklerin des Programms „Argentinien gegen den Hunger“. „Wir brauchen ein umfassendes politisches Konzept. Welche Lebensmittel kauft der Staat zum Beispiel  für die Schulen, die Gefängnisse? […] Ernährungssicherheit stellt in Argentinien ein Problem dar, das sich in den letzten dreieinhalb Jahren massiv zugespitzt hat. Dabei geht es nicht allein um das Ernährungsdefizit. Es stellt sich die Frage: Welche Funktion übernimmt der Staat bei der Garantie des Rechts auf Nahrung, und welche Rolle hat er bei der Linderung der diversen Nahrungskrisen gespielt, die wir hatten? Wir haben darauf eine klare Antwort: Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen. Wir dürfen uns nicht auf den Programmen zur Lebensmittelversorgung der bedürftigen Teile der Gesellschaft ausruhen, sondern müssen uns die Frage stellen: Wie und wo werden die Nahrungsmittel für 45 Millionen Argentinier*innen hergestellt, und was für Nahrungsmittel sind das?“

Der Hunger ist zurückgekehrt

Ähnlich argumentierte Nahuel Levaggi von der Vereinigung der Landarbeiter*innen UTT: „Wir müssen die Produktionsweise verändern. Wir brauchen die Landwirtschaft, um uns zu ernähren. Jahrelang verstand sich Argentinien als Lebensmittelexporteur, große Mengen an Soja wurden für die Ausfuhr in andere Länder produziert. Das hat einige wenige reich gemacht, in deren Besitz sich große Flächen Ackerland befand. Diese wurden überwiegend unter Einsatz schädlicher Agrargifte bewirtschaftet“.
Zur Rolle der Landarbeiter*innen bemerkte er: „Die Erzeuger der Lebensmittel, von denen wir alle uns ernähren, sind erst in den letzten Jahren öffentlich aufgetreten. Niemand wusste, wo das Essen herkommt für ein Land, dessen Bewohner zu mehr als 90 Prozent in Städten leben und seine Lebensmittel fast ausschließlich einkauft. […] In den letzten Jahren sind zwei neue Phänomene aufgetreten: Der Hunger kehrt zurück, wobei, vollständig gelöst war das Problem nie, und auf der anderen Seite gewinnt eben dieser gesellschaftliche Sektor, also wir, an Sichtbarkeit, das heißt, wir, die Hersteller von Nahrungsmitteln, erzeugen einen positiven Kreislauf, indem wir sie aus Protest an das hungrige Volk, an Nachbarinnen und Nachbarn, weitergeben, die sich natürlich über preiswertes Gemüse freuen. Hier liegt eins der Hauptthemen, die überdacht und diskutiert werden müssen, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie Herstellung und Verkauf von Lebensmitteln organisiert werden soll. Unsere Nahrungsversorgung liegt zu wesentlichen Teilen in den Händen multinationaler Konzerne.

Staatliche Souveränität braucht Ernährungssouveränität

Diego Montón vom Indígena-Bündnis Vía Campesina erklärte: „Ernährungssouveränität ist ein grundlegendes Thema für ein Land, das insgesamt nach Souveränität, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit strebt. Solange die Bevölkerung eines Landes Hunger leidet und solange die Lebensmittelproduktion eines Landes von außen kontrolliert wird, kann keins dieser drei Ziele erreicht werden. In Argentinien hat sich das Problem mit dem Hunger durch die Idee der ökonomischen Öffnung zugespitzt, denn im Grunde geht es bei dieser Öffnung um die internationalen Finanzmärkte, und unser Land ist in den Club derer eingestiegen, die glauben, das Finanzkapital sei ein Segen. Es hat sich der Diskussion über den Hunger angeschlossen und fragt nun: Was machen wir mit dem Hunger? An dieser Stelle möchte ich gern an den Brasilianer Josué de Castro erinnern, der in seinem Buch „Geopolitik des Hungers“ nachweist, dass in den südlichen Regionen Brasiliens, wo mehr Nahrungsmittel angebaut werden, mehr Hunger herrscht als im Nordwesten, der am wenigsten produktiven Region des Landes. Darauf stellte er die These auf, dass nicht die Produktivität eines Landes über den Hunger entscheidet sondern wie Produktion organisiert wird.“

Der Erhalt landwirtschaftlicher Nischen ist nicht im Interesse des Staates

Die Anthropologin Rita Segato wies auf die Bedeutung der Volksgemeinschaften und die Rolle der Frauen* im Kontext der Nahrungsmittelversorgung hin. Die Rolle des Staats als Garant für andere Produktionsformen stellte sie grundsätzlich in Frage. „Hier sehen wir ganz deutlich, was in der Gründung von Staaten bereits angelegt ist, und wir brauchen gar nicht erst davon zu träumen, dass wir diesem Mechanismus entkommen können. Ich bin keine Ökonomin und keine Expertin in Fragen der Agrarwirtschaft. Ich bin Anthropologin, ich habe in Volksgemeinschaften gelebt, und die Leute, die ich da kennengelernt habe, führen ein Nischendasein, sie leben sozusagen im Versteck. Die Menschen versuchen, ihren Lebensunterhalt zu sichern, die Nahrungsmittelvielfalt, die genetische Vielfalt, das heißt, den besten Mais, die besten Kartoffeln, den leckersten Maniok zu erhalten, aber das machen sie in ihrer Nische, im Verborgenen sozusagen, denn sie wissen genau, dass der Staat früher oder später das alles an sich reißen würde. So ist es immer gelaufen, und so wird es auch weitergehen. Daher fühle ich mich hier ein bisschen unwohl, denn ich bin eine Vertreterin dieses Nischenprinzips, und die Frage, die man sich hier stellen sollte, ist doch: Ist der Staat in der Lage, solche Nischen zu schützen? Machen wir uns nichts vor, der Staat erzeugt keinen Wohlstand, ohne Rohstoffe zu entnehmen und diese auf dem Weltmarkt zu verkaufen, das ist unmöglich. Denn es gibt keine andere Möglichkeit in einer Welt, in der Erfindungen, technische und wissenschaftliche Patente sehr knapp sind. Es gibt keine anderen Möglichkeiten, um ein besseres Leben für mehr Menschen zu schaffen. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass man das versteht: Man kann nicht erreichen, dass die Menschen ein bisschen mehr konsumieren oder etwas besser leben, wenn die entsprechenden Rohstoffe nicht da sind. Aber kann der Staat gleichzeitig den Fortbestand der Nischen garantieren? Dazu muss man sagen, dass die Nischen oft auch die Räume der Frauen* sind. Sie wissen, wie man diese Nischen schafft und – im kleineren Rahmen – eine andere politische Ökonomie. Ich war vor kurzem in Madrid und habe dort zugehört, was die Kurdinnen zu sagen haben: Warum wird Kurdistan bombardiert? Das kurdische Volk lebt verteilt auf vier verschiedene Staaten. Aber sie wollen keinen eigenen Staat, sie wollen ein Volk ohne Staat bleiben. Das ist ungewöhnlich. Sie sagen: „Das ist ein neues Leben“. Das muss man akzeptieren, ein neues Lebenskonzept. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in unserer Welt ist nicht dasselbe Verhältnis von Staat und Eigentum in Europa. Die europäischen Staaten sind das Ergebnis gesellschaftlicher Ereignisse, ihrer Konflikte und Allianzen, die Geschichte unserer Staaten nicht. Nach dem Unabhängigkeitskrieg kam irgendein ein Schirm, ein Hut von der anderen Seite des Meeres, hat sich hier festgesetzt und hat im Verhältnis zu allem, was es hier zu verwalten gab, den Menschen, den Dörfern, den Ländereien, den Gütern, ein Verhältnis errichtet, das durch seine eigene Herkunft bestimmt war. Die Verwaltung hatte sozusagen ihren Schreibtisch genommen und ihn hierher transportiert. Und so funktioniert dieser Staat auch heute noch, und deshalb ist er auch nicht vertrauenswürdig: Er wird nicht Teil des Lebens der Menschen. Und die Menschen wissen das, deshalb schaffen sie sich Nischen.“

Traditionelle Landwirtschaft oder Agrarindustrie?

Zuletzt sprachen wir mit Marcos Ezequiel Filardi, Anwalt und Mitglied des Netzwerks freier Dozenten für Ernährungssouveränität, der das Gespräch moderierte. Er sprach mit uns über seine Erwartungen an den Regierungswechsel: „Die Regierung, die nun abgelöst wird, favorisierte ein Staatenkonzept, das wir „dominantes agrarindustrielles Modell“ nennen. Ihr Schwerpunkt lag auf Export im biotechnologischen Bereich: transgene Güter, Agrargifte und synthetischer Dünger. Ein Triumph für die Branche war die Legalisierung transgener Güter durch das Regierungsbündnis Cambiemos. Und das Wenige, was es an Entwicklung im Bereich der bäuerlichen Landwirtschaft gab, wurde komplett zerschlagen. Nun haben wir 40 Prozent Armut, etwa 10 Prozent extreme Armut, hervorgerufen durch die Niedriglohnpolitik. Die Menschen kaufen, was sie sich leisten können, und es reicht nur noch für fett- zucker- und kohlehydrathaltige Kost. Die Bilanz von vier Jahren Macri-Regierung lautet: mehr Hunger, Mangelernährung und immer mehr übergewichtige Menschen. Die Frist zur Lösung des Ernährungsproblems wurde erneut verlängert, diesmal bis 2022. Mit der neuen Regierung stehen wir nun vor einem großen Fragezeichen. Was wir nun entscheiden müssen, ist, ob wir die bäuerliche Landwirtschaft, die traditionellen und die indigene Anbaukulturen fördern sollen oder ob wir die Agrarindustrie weiter ausbauen sollen, um weiter an Devisen zu kommen, die gerade jetzt so dringend gebraucht werden.“

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