„Amazonien ist in den Händen des Drogenhandels“

von Paolo Moiola

(Lima, 26. Juni 2011, noticias aliadas).- Interview mit dem Anthropologen Roberto Jaramillo – Der kolumbianische Jesuitenpriester Roberto Jaramillo lebt seit 15 Jahren im brasilianischen Amazonasgebiet. Seit 2005 ist er regionales Oberhaupt der Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu im Bundesstaat Amazonas. Als Anthropologe forscht er an Problemen im Zusammenhang mit den „städtischen Indígenas“.

Paolo Moiola, Mitarbeiter von Noticias Aliadas, sprach mit Jaramillo in Manaus über die Einwohner*innen Amazoniens – wer sie sind und wie sie leben -, und auch über die indigenen Gemeinden und dem Stand der Entwicklung.

Noticias Aliadas: Häufig entspricht die Vorstellung, die man von Amazonien hat, nicht der Realität. Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Jaramillo: Ja, die Vorstellung Amazoniens spiegelt die Realität nicht wider. Das Bild ist ein menschenleeres Land, während dort in Wirklichkeit 40 Millionen Menschen leben, davon der Großteil in Stadtgebieten mit all den Problemen, die für die Urbanisierung in Lateinamerika typisch sind. Manaus hat fast zwei Millionen Einwohner, aber nur 17 Prozent davon sind an die Kanalisation angeschlossen. Folglich verteilt sich der Großteil der biologischen und chemischen Abfälle in der Umwelt – das heißt im Wasser.

Ein weiterer Widerspruch ist, daß in einer Stadt, die am Rande des längsten Flusses der Welt liegt, nur 32 Prozent der Einwohner*innen Trinkwasseranschluss haben; der Rest muss mit ungereinigtem Wasser zurechtkommen. Diese Tatsachen heben einen weiteren Aspekt hervor: In den Städten des Amazonasgebietes wie Manaus, Santarém, Belém und anderen kleineren Städten ist die Kluft zwischen Arm und Reich stärker ausgeprägt als in den Küstenstädten. Mit anderen Worten, im Amazonasgebiet ist der Reichtum viel stärker konzentriert.

Wir haben viele Menschen aus anderen Staaten Brasiliens kennengelernt, die nach Manaus gezogen sind um dort zu arbeiten. Wie erklären Sie das?

Jaramillo: In den 1980er Jahren errichtete die Militärjunta [die zwischen 1964 und 1985 regierte] die freie Handelszone von Manaus [ein Ort, an dem die Besteuerung niedriger ist], die einzige Freihandelszone Brasiliens. Wir sprechen hier von etwa 500 Industriebetrieben, vor allem aus der Elektronikbranche: Sony, Thompson, Philips, aber auch die Firma Honda mit ihren Motorrädern und viele andere, die zusammen etwa 100.000 Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. 90 Prozent der Arbeiter*innen haben jedoch zeitlich begrenzte Verträge, darunter vor allem Frauen. Das bedeutet, dass viele von ihnen zwei oder drei Monate lang arbeiten und dann ohne jegliches Recht auf Entschädigung gekündigt werden. Dazu kommt, dass einige lokale Familien – jene, die alles in Manaus besitzen – Geschäfte mit Investoren aus São Paulo, Rio de Janeiro oder Paraná machen. Kurzum, das Geld gehört weder Manaus noch kommt es der Stadt zu Gute.

Brasilien ist ein Land in rasantem Aufschwung, das von vielen bewundert wird.

Jaramillo: Es gibt demokratische Strukturen wie das Wahlrecht oder die Tageszeitungen, aber die Art zu denken ist unzeitgemäß. Die Regierungen machen weiterhin Klientelpolitik. Man stelle sich kleine Städte in Amazonien vor, wo der Bürgermeister die Wirtschaft kontrolliert. Wer wird es wagen, ihn herauszufordern und gegen ihn zu stimmen, wenn man weiß, dass man später seine Arbeit verlieren könnte oder sogar seine Verwandten? Um diese Situation zu ändern braucht es Bildung und einen angemessenen Zeitraum.

Gibt es neben der Urbanisierung und dem politischen Klientelismus noch andere Situationen, die Sie als Missionäre beobachtet haben?

Jaramillo: Ein weiteres großes Problem – vielleicht sogar eines der schlimmsten -, von dem die Menschen keine Vorstellung haben, ist die Tatsache, dass Amazonien in Händen des Drogenhandels ist. Die Siedlungen an den Stadtränden sind Geiseln von Drogenhandel und Drogenkonsum. 50 Prozent der Gewalt in Manaus wird durch Drogen hervorgerufen. Die Jugendlichen der Vorstädte sehen keine andere Lösung für ihr Dasein als Marihuana zu rauchen oder Kokain zu schnupfen.

Sie sprachen von 40 Millionen Einwohner*innen im ganzen Amazonasgebiet. Wieviele davon sind Indígenas? Wir haben sehr unterschiedliche Zahlen gefunden.

Jaramillo: In der Volkszählung aus dem Jahr 2000 [des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik] haben sich 750.000 Personen als Indígenas bezeichnet; zehn Jahre zuvor waren es nur halb so viele. Was ist passiert um eine Veränderung dieser Größenordnung zu erklären? Es hat sich etwas geändert am nationalen politischen Bewußtsein, so dass es nun angebracht ist, sich als Indígena zu bezeichnen. Etwas ähnliches ist auch in der ganzen Welt passiert: Früher wurde es als Demütigung betrachtet Indígena zu sein, später ist daraus eine Eigenschaft geworden, auf die man stolz sein kann.

Wie dem auch sei, erkennt die staatliche Nationale Stiftung der Indigenen FUNAI (Fundação Nacional do Índio) von diesen 750.000 Personen nur 380.000 bis 400.000 als Indígenas an. Einer der Nachteile der brasilianischen Indigenen-Politik ist, dass ein Indígena auch in Gebieten der Indígenas leben muss. Folglich betrachtet der Staat die Hälfte dieser Personen, welche in den Städten von Rio bis São Paulo und Manaus leben, nicht als Indígenas.

Diese Menschen sind in der Stadt geboren und sprechen keine indigenen Sprachen. Jedoch sind sie Indígenas und fühlen sich wie Indígenas. Das ist eine Realität, die die weiße Bevölkerung und die Regierung stört, da sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Es ist aber auch eine Realität, die häufig zu Problemen auch innerhalb der indigenen Gemeinden führt: Die Betroffenen werden beschuldigt, nicht die Sprache der Indigenen zu sprechen, nicht ausschließlich indigenes Blut zu haben, usw. Kurzum, für manche Probleme gibt es weder Lösungen von der einen noch der anderen Seite.

Können Sie uns ein Beispiel geben?

Jaramillo: Ein Beispiel sind die Ehen zwischen verschiedenen Ethnien: Die Kinder eines indigenen Mannes und einer weißen Frau sind Indígenas, aber die Kinder einer indigenen Frau und eines weißen Mannes sind keine Indígenas. Welche Logik steckt dahinter? Oder auch die Frage nach der Sprache: ist das ein grundlegendes Merkmal, um jemanden als Indígena bezeichnen zu können oder nicht?

Außerhalb des brasilianischen Amazonasgebietes vor allem in Peru und Ecuador ist die indigene Bevölkerung zahlreicher als in Brasilien.

Jaramillo: Dafür gibt es auch eine historische Erklärung. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Portugiesen viel aggressiver im Umgang mit den indigenen Völkern waren als die Spanier. Außerdem hatten die Indigenen der Andenkultur viel höhere Entwicklungsstufen erreicht als die indigenen Völker der Tiefebene. Denken wir nur an den Maisanbau oder die Bautechniken. Folglich hatte die Kollision zwischen den weißen Invasoren und den Indígenas im brasilianischen Amazonasgebiet viel stärkere Auswirkungen. Daneben hatte auch das Klima großen Einfluss auf die Verbreitung von Krankheiten und das Leiden der Menschen. Die optimistischsten Antropologen behaupten, in der Kolonialzeit hätte es hier etwa sieben Millionen Indígenas gegeben. Heutzutage sind es in ganz Amazonien ungefähr zwei Millionen.

Die brasilianische Regierung und die multinationalen Unternehmen machen sich den enormen Reichtum Amazoniens zu Nutzen. Was bleibt der lokalen Bevölkerung?

Jaramillo: Die politische und wirtschaftliche Macht sowie die Gesetze stehen im Dienst des großen Kapitals, das oft dem Ausland gehört. Denken Sie nur an die Infrastrukturinitiative zur regionalen Integration Südamerikas IIRSA (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Sudamericana), deren Megaprojekte den Leuten unbekannt sind: Kanäle zwischen den Ozeanen, überall neue Autostraßen und elf weitere Wasserkraftwerke, anstatt einige der 24, die bereits existieren, zu modernisieren. Leider steuern alle großen Projekte im Amazonasgebiet auf eine Entwicklung zu, die weder im Einklang noch im Einverständnis mit der Bevölkerung liegt.

Was haben die acht Jahre Amtszeit des Präsidenten Luiz Ignácio Lula da Silva hinterlassen?

Jaramillo: Lula hat Großartiges erreicht, aber nicht das, was er versprochen hatte. Sein Problem war es, sich dem internationalen Kapital anzuvertrauen. Lula händigte vier Millionen Familien, die nie zuvor Geld vom Staat empfangen hatten, monatlich 50 bis 60 Reales (22 bis 26 Euro) aus. Bedenkt man, dass ein Land wie Brasilien sich nicht in acht Jahren ändert, war seine Einkommensverteilung beeindruckend. Die brasilianischen Politiker sind jedoch mehr und mehr in Händen des großen Kapitals. Dies spiegelt auch die Philosophie des Wachstumsbeschleunigungsprogramms PAC (Programa de Aceleração do Crescimento) wider, bei der es allein darum geht, wirtschaftlich zu „wachsen, wachsen, wachsen“, ohne Interesse an Gesundheit, Bildung, Partizipation und Demokratie.

Allerdings ist daran nicht Lula schuld, sondern die sozialen Bewegungen, die mit ihm kamen, sich an der Seite der Macht niederließen und es sich bequem machten. So auch die Landlosenbewegung der Landarbeiter*innen MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), wie es die unendlich kleine Zahl an vielmehr symbolischen als ernstzunehmenden Landnahmen zeigt, die während der Amtszeit Lulas verzeichnet wurden.

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