von Raul Zibechi*
(Quito, 24. September 2012, alai-poonal).- In einem Land, das sich für modern erklärt und einen Platz unter den Schwellenmächten beansprucht, verstört die Möglichkeit, dass ein Kandidat der Pfingstkirchen bei den Kommunalwahlen vom 7. Oktober 2012 das Bürgermeisteramt von Sao Paulo gewinnen könnte.
Der Kandidat der Universalkirche des Gottesreiches, Celso Russomanno, liegt als Kandidat der Republikanischen Partei PRB (Partido Republicano Brasileño) in Sao Paulo mit 35 Prozent der Stimmen in Umfragen vorne[1], hinter ihm folgen Jose Serra von der rechten Sozialdemokratischen Partei Brasiliens PSDB (Partido de la Social Democracia Brasileña) und der PT-Kandidat Fernando Haddad, für den Lula sein Prestige in die Waage warf. Sao Paulo zu gewinnen, hat strategische Bedeutung für die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores).
Kirchen gewinnen an Terrain
Die Stadt kann der Schlüssel sein kann, auch den gleichnamigen Bundesstaat zu gewinnen, der 42 Millionen Einwohner*innen hat und ein Drittel des brasilianischen Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Bisher war diese Hochburg der Rechten uneinnehmbar. Die Vakuen, die die soziale Bewegung hinterlässt, werden von den Kirchen besetzt, die die größte Übereinstimmung mit dem herrschenden konsumistischen Modell aufweisen.
Die brasilianische Linke ist eine Tochter des Basis-Christentums mit ihren Kirchengemeinden als Protagonisten und durch die Befreiungstheologie theoretisch untermauert. Die Landlosenbewegung, der Gewerkschaftsverband CUT (Central Única dos Trabalhadores), die Obdachlosenbewegung und die Arbeiterpartei PT selbst ließen sich durch diese Strömung inspirieren, welche die Religiosität der Bevölkerung als Rüstzeug nutzte, um die Ärmsten der Armen zu organisieren.
In den 1970-er Jahren gab es 80.000 kirchliche Basisgemeinden, in denen jeweils Dutzende Gläubige die Bibellektüre miteinander teilten. Diese Lektüre half ihnen, die soziale Realität zu analysieren und trieb sie an, diese zu verändern. Die Basisgemeinden gaben dem Land der Militärs und Technokrat*innen, die ohne eine Opposition zu regieren gedachten, ein anderes Gesicht. Die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra) entstand aus der Mitte der Landpastorale. Paulo Freire gab mit seiner Pädagogik der Unterdrückten dem sozialen Engagement der Christ*innen einen Impuls und der Gewerkschafter Lula bewegte sich ständig zwischen der Arbeitswelt und der Welt der Basisgemeinden.
Historisch: Volksreligiosität und Marxismus
„Ein Grossteil der sozialen Bewegungen Brasiliens entstand aufgrund des christlichen Einflusses, der Volksreligiosität sowie des marxistischen Einwirkens“, erklärt der Sozialpsychologe Nadir Lara Junior. Lara widmete seine Dissertation „Die Mystik der MST als soziales Bindeglied“ dem Verständnis der Rolle religiöser Praxis in den Volksorganisationen. Die Mystik, kollektive Rituale, bei denen die Hymnen der Bewegung und Volkslieder gesungen werden, artikuliere „religiöse, politische und kulturelle Elemente“, so seine Analyse. Jeder, der an Treffen oder Kongressen der MST teilgenommen hat, kann hautnah die Rolle der Mystik feststellen, wenn es darum geht, das Engagement der Mitglieder zu bestärken. Die Mystik vermittelt ein Gefühl kollektiver Stärke, weil prägende, einende Momente mit anderen Menschen geteilt werden.
Es ist ein schwierig zu vermittelndes Gefühl, das jedoch in der Lage ist, das Leben der teilnehmenden Menschen zu verändern. Gleichzeitig handelt es sich um eine Praxis, die in allen brasilianischen Bewegungen und auch bei universitären und berufsständischen Zusammenkünften präsent ist. Dies, obwohl letztere von einem Vernuftdenken geprägt sind, das wenig mit der Volksreligiosität zu tun hat.
Nach Meinung Laras gab es im vergangenen Jahrzehnt drei bedeutende Veränderungen: das explosive Wachstum der Evangelikalen, die Wahl Lulas zum Staatschef und den Rückschritt in der katholischen Kirche, die die Befreiungstheologen diskriminierte und sie bei neuen Bischofsernennungen ausschloss.
Bei den Bewegungen macht Lara eine doppelte Problematik aus. Diese befänden sich nicht nur auf dem Rückzug, sondern glichen sich dem Staat so weit an, dass „es schwer wird, zu identifizieren, wer zu den Bewegungen gehört und wer zum Staat“. In diesem neuen Szenarium verschwinde die politische Bildung fast vollständig, nur die MST bleibe eine Ausnahme. Die verbleibende Bildungsarbeit habe instrumentellen Charakter, sie sei „eine Bildung, die lehrt, sich innerhalb der öffentlichen Bürokratie zu bewegen“.
Bewegungen sind keine Protestkräfte von unten mehr
Die kritische politische Bildung ist demnach in einem Ausmaß verschwunden, dass die Ära, in der die Bewegungen Protestkräfte von unten waren, die Vergangenheit darstellt. Unterdessen wurden die Führungen zu Fachpersonal. „Die Bewegung professionalisierte eine Figur für die öffentliche Politik und der Staat stellt die von der Bewegung qualifizierte Arbeitskraft ein. Die Bewegung fragmentiert sich“, urteilt Nadir Lara. Aus einer auf religiöse Praktiken gerichteten Perspektive versichert er, die sozialen Bewegungen hätten „den religiösen, utopischen, marxistisch-christlichen Weg verlassen und ihn gegen einen pragmatisch-kapitalistischen neoliberalen Diskurs eingetauscht“.
Der Schlüssel ist der Pragmatismus. Dieser ist das Bindeglied zwischen dem neoliberalen Modell und den Praktiken der Pfingstler*innen. Das schwindelerregende Wachstum der Pfingstkirchen tritt in einer Periode organisatorischen Rückschritts der Bewegungen auf, die bisher die Lebenswelt der Ärmsten beeinflussten. Der Konsumismus, der kulturell individualistische Verhaltensweisen stärkt, erlebt einen Aufschwung, die Linke ist kaltblütig pragmatisch geworden.
Individualismus und Pragmatismus
Die Evangelikalen und Neopfingstler, die heute ein wichtiger Teil der brasilianischen Gesellschaft sind, „nehmen in den sozialen Bewegungen teil, wollen aber keine weitergehenden Fragen diskutieren, die mit dem Politischen verknüpft sind. Ihnen geht es nur um den Zugang zu Wohnung, Universität, usw.“, beobachtet Lara.
Im Unterschied zu Priestern, die als Vertreter ihrer Kirche in den Bewegungen teilnahmen, gehen die Pfarrer der Pfingstler zu diesen Treffen, um mit ihren Gläubigen zu beten – und ohne ihre Institution zu etwas zu verpflichten.
Die Pfingstler besetzen die städtischen Peripherien, aus denen sich die Bewegungen zurück gezogen haben. Doch ebenso hat die Linke jene Debatten verlassen, in denen sie bisher immer präsent war. Der Kandidat der Universalkirche des Gottesreiches, Celso Russomanno, liegt als Kandidat der Republikanischen Partei PRB in Sao Paulo mit 35 Prozent der Stimmen in den Umfragen vorne, hinter ihm folgen Jose Serra von der rechten PSDB und der PT-Kandidat Fernando Haddad, für den Lula sein Prestige in die Waage warf. Sao Paulo zu gewinnen, hätte strategische Bedeutung für die PT, da die Stadt der Schlüssel sein kann, auch den Bundesstaat zu gewinnen. Dieser hat 42 Millionen Einwohner*innen und erwirtschaftet ein Drittel des brasilianischen Bruttoinlandsproduktes. Bisher war diese Hochburg der Rechten uneinnehmbar.
[1] Anmerkung der Redaktion: Der Pfingstler Celso Russomanno kam bei den Kommunalwahlen am 7. Oktober nur auf den dritten Platz. Wo Stichwahlen nötig sind, werden diese übrigens am 28. Oktober 2012 durchgeführt.
* Raúl Zibechi ist ein uruguayischer Journalist sowie Dozent und Forscher der Multiversidad Franciscana de América Latina. Zudem ist er als Berater mehrerer Kollektive im sozialen Sektor.
Weiterlesen:
Schaukampf zweier inhaltloser Parteiprogramme | von Andreas Behn | in poonal 914 (Septmber 2010) |
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