Polizei und Sicherheitskräfte agieren zunehmend brutaler – warum?

(São Paulo, 2. Oktober 2020, Brasil de Fato).- Am 2. Oktober 1992 wurden 111 Gefangene in der als Carandiru bekannten Haftanstalt in São Paulo von der Militärpolizei PMSP getötet. Genau 27 Jahre und zehn Monate später wurden in Paraisópolis, einer der größten und ältesten Favelas, neun junge Männer bei einem PMSP-Einsatz getötet. Die Jugendlichen hatten am 1. Dezember 2019 im südlichen Teil der Stadt eine Party besucht. Zwei Ereignisse, die zeitlich weit auseinander liegen und dennoch für eine Kontinuität sprechen. Gewalt und tödliche Brutalität der Polizei sind Teil der öffentlichen Sicherheitspolitik. Diese Grundhaltung beeinträchtigt die gesamte institutionelle Arbeit des Landes.

Tendenz steigend

 Nach Angaben des brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit (FBSP) wurden 2018 6.220 Menschen von zivilen und militärischen Sicherheitskräften getötet. Das bedeutet einen Anstieg von etwa 20% gegenüber dem Vorjahr. Die meisten Todesfälle durch Polizeigewalt ereigneten sich im Bundesstaat Rio de Janeiro (1.534), gefolgt von São Paulo mit 851 Toten. Nach Erkenntnissen des Forums steigt die Zahl seit 2013 kontinuierlich. Warum?

Konstruktion eines Feindbilds während der Militärdiktatur

 Adilson Paes de Souza, Oberstleutnant a.D. der Militärpolizei von São Paulo und zugleich Doktor der Erziehungspsychologie und Humanentwicklung am Institut für Psychologie der Universität von São Paulo, spricht von der Konstruktion eines Feindes, der mit vorgefassten Argumenten bekämpft werden müsse. Das heißt, während einige Personen als Rechtssubjekte betrachtet werden, zählen andere nicht einmal als vollwertige Bürger*innen. Die Aufgabe, diesen Feind zu bekämpfen, sei während der Militärdiktatur in die Hände des Militärs gelangt. Damit sei es zum wichtigsten Bollwerk gegen den Krieg und die inneren und äußeren Feinde der Nation geworden. „Techniken der Infiltration, Entführung, Gefangennahme, das Verschwindenlassen politischer Gegner*innen, Vernichtung, Folter und Verhörtechniken sowie die Konstruktion von Berichten wurden in das Repertoire der Polizeiarbeit aufgenommen. Die Ausbildung übernahmen US-amerikanische und französische Militärs. Die Amerikaner waren inspiriert von der Doktrin der nationalen Sicherheit und die Franzosen von der Doktrin der Revolutionskriege.“

So wurde z.B. 1969 das dienstliche Notwehrrecht für die Einsätze der Sicherheitskräfte eingeführt, bei denen es zum Tod von Zivilpersonen kam. Die Einschätzung der Ereignisse stützte sich dabei ausschließlich auf die Aussagen der Polizeibeamten selbst. „Es handelt sich um eine Instrumentalisierung des Staats durch eine Politik der Auslöschung derjenigen, die als Feinde der Nation gelten“, erklärt Souza. Mit der Bundesverfassung von 1988 habe sich nichts geändert. Das System der öffentlichen Sicherheit konzentriere sich wie während der Diktatur auf die Ausmerzung des Feindes. Daher sei es notwendig, dagegen zu kämpfen. „So erklärt sich auch das Standardprofil der vom brasilianischen Staat getöteten und inhaftierten Verdächtigen: schwarz, arm, jung und am Stadtrand wohnhaft. Die Statistiken lügen nicht“. Wie die Initiative zur Beobachtung der Sicherheitskräfte (Red de Observatorios de Seguridad) im Juli 2020 erklärte, sind 75% der von der Polizei im Land getöteten Personen Schwarze.

Entmenschlichung von angehenden Polizeianwärter*innen

 Angehende Polizeibeamte würden beim Eintritt in die Polizeischule „einer demütigenden, gewalttätigen und erniedrigenden Behandlung“ unterzogen. So solle der frühere Mensch dekonstruiert und der Polizei- und Militärangehörige aufgebaut werden, der sich allen und allem überlegen fühlt und alles im Namen der Sicherheit tun kann, erzählt der Oberstleutnant a.D. Die Behandlungsmethoden haben Folgen. Die Todes- und Selbstmordrate unter Polizeibeamt*innen ist vergleichsweise hoch. „Die Gewalt hat Auswirkungen auf die Psyche der Polizist*innen. Es werden Abwehrmechanismen entwickelt, um das geistige Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Dieser Abwehrmechanismus kann sich sowohl im Selbstmord als auch in der Tötung eines anderen Menschen ausdrücken“, erklärt Souza.

Eine Frage der Klasse

 Nach Ansicht von Martel Alexandre del Colle, pensionierter Militärpolizist des Bundesstaats Paraná, werden gezielt Menschen aus den unteren sozialen Schichten ausgesucht. Diesen gebe man das Gefühl, die Misere hinter sich gelassen zu haben, da es nun zu ihrem Job gehöre, die Arbeiterklasse zu kontrollieren, damit die Elite weiterhin unbehelligt leben kann. Die Ausbildung umfasse spezifische Bereiche, so Del Colle. Bei der Simulation bewaffneter Konfrontationen beispielsweise sei das Szenario immer eine Favela. Ist die privilegierte Klasse Gegenstand des Ausbildungsszenarios, geht es in der Lernsequenz um etwas anderes. Er selbst erinnert sich an einen Einsatz in einer Luxuswohnanlage in Alphaville, der Hauptstadt des Bundesstaats São Paulo. Der Geschäftsmann Ivan Storel beleidigte die Militärpolizisten aufs Heftigste :„Du bist Abschaum, ein Stück Scheiße bist du mit deinen 1.000 Reais im Monat, ich verdiene 300.000. Am Stadtrand magst du ein ganz harter Kerl sein, aber hier bist du nichts als Scheiße. Das hier ist Alphaville, Freundchen“.

Der Arbeitsalltag machte Del Colle schließlich krank. „Ganz gleich, wie sehr der Polizist versucht, alles Menschliche abzulegen – für die große Mehrheit der Polizisten ist es sehr schwierig, dieses Niveau zu erreichen. So gerät man immer wieder in Konflikt mit sich selbst und wird am Ende krank“. Del Colle begann, kritisch zu hinterfragen und seine Zweifel im Internet zu veröffentlichen. Hauptgegenstand seiner kritischen Reflexion waren Polizeigewalt und das brutale Training. Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Es begann mit einer Versetzung. „Danach bekam ich Depressionen. 40 Tage lang war ich in einer psychiatrischen Klinik, um mich zu erholen“. Nach seiner Entlassung wurde er zur Beurteilung an ein polizeiliches Ärztegremium verwiesen. Einen Monat später ging er mit einem Drittel seines Gehalts in den Ruhestand. Heute, ein Jahr später und im Alter von 30 Jahren, laufen gegen ihn immer noch zwei Verfahren: ein administratives, bei dem es darum geht, sein Gehalt komplett zu streichen, und ein strafrechtliches wegen „öffentlicher Kritik an einer Handlung seines Vorgesetzten oder einer Angelegenheit im Zusammenhang mit der militärischen Disziplin“. Dieses Vergehen gemäß Artikel 166 des Militärstrafgesetzbuchs wird mit einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten bis zu einem Jahr belegt.

Anachronistischer Institutionsbegriff

 Robson Rodrigues ist Reserveoberst der Militärpolizei von Rio de Janeiro. Der Anthropologe, Doktorand der Sozialwissenschaften und Forscher am Laboratorium für Gewaltanalyse an der Staatlichen Universität Rio de Janeiro (UERJ) betrachtet das Aufeinanderprallen des aktuellen Kriminalitätsproblems mit dem anachronistischen Institutionsbegriff und dem unzeitgemäßen Polizeiapparat als eine der Ursachen der Polizeigewalt. Innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens sei die Institution Polizei sehr ungünstig konzipiert. Der Polizei ein Machtmonopol in diesem Ausmaß einzuräumen sei ein großer Irrtum. Es verleihe der Militärpolizei zu große Macht und zu viel Verantwortung, nämlich für ungefähr alles von der Verbrechensvorbeuge bis hin zur Sanktion. „Dieses Konzept des Polizeibeamten wurde im letzten Jahrhundert entworfen. Es sind immer noch die gleichen Strukturen. Angesichts der zunehmend globalisierten Kriminalität werden die Anforderungen an die öffentliche Sicherheit jedoch zunehmend komplexer“, so Rodrigues.

Institutionelle Politik

Sämtliche von den Ex-Militärs angeführten Faktoren seien definitiv Basis der institutionellen Politik der öffentlichen Sicherheit in Brasilien, die Polizeigewalt selbst mit tödlichen Folgen offen billige, meint auch Jacqueline Muniz, Professorin der Abteilung für öffentliche Sicherheit an der Universidade Federal Fluminense (UFF).

Der Lehrplan für die Militärpolizei und die örtlichen Polizeikräfte sei 2003 entwickelt worden und verschreibe sich den demokratischen Prinzipien entsprechend dem weltweiten Verständnis von polizeilicher Arbeit. Muniz, ehemals Leiterin der Abteilung für Forschung, Informationsanalyse und Personalentwicklung im Bereich Sicherheit des Justizministeriums, ist der Ansicht, dass es nicht allein um die Ausbildung geht, die die Beamten in den Polizeischulen erhalten. „Die Frage ist, warum diese inhaltlichen Aspekte nicht deutlicher gefördert und in die Polizeipolitik aufgenommen und vor allem im Arbeitsalltag umgesetzt werden, um die Handlungen im Sinne der Staatsgewalt und die taktische Arbeit des polizeilichen Handelns deutlicher abzugrenzen und eine gesellschaftliche Kontrolle über dieses Handeln zuzulassen. Mit anderen Worten: Diese Verfahren sollten nicht im Verborgenen stattfinden sondern öffentlich.“

Rechtsverletzung und Gewalt – für Polizeiinstitutionen Einzelfälle oder strukturelles Problem?

 Nach Ansicht von Muniz handelt es sich bei der Praxis der polizeilichen Gewalt um ein strukturelles Problem, das mit der Politik der Gewaltanwendung, den Kompensations- und Sanktionsmechanismen und den Leitlinien der Polizeiarbeit, also der öffentlichen Sicherheitspolitik der Staaten zu tun hat. Es gebe keine „Klarheit“ über die Politik der Gewaltanwendung in Brasilien, trotz der 2003 festgelegten Richtlinien, die sich eng an den von der Internationalen Vereinigung der Polizeichefs IACP festgelegten Verfahren orientieren.

Tatsächlich existiert in Brasilien keine Gesetzgebung, die zum Beispiel die Anwendung von Gewalt durch die Militärpolizei regelt. Nur einige wenige Dokumente im Strafgesetzbuch und im Militärstrafgesetzbuch nehmen Bezug auf diesen Punkt. Laut Artikel 243 im Militärstrafgesetz ist die Anwendung von Gewalt nur dann gültig, wenn „sie im Fall von Ungehorsam, Widerstand oder Fluchtversuch unerlässlich ist“, und der Einsatz von Waffen nur, „falls unbedingt notwendig“. „Entscheidend ist somit die Frage, ob Polizeiinstitutionen Rechtsverletzung und Gewalt als Einzelfälle oder als strukturelles, wiederkehrendes Problem betrachten“, folgert Muniz.

Wer bestimmt das System?

 Sich auf den Standpunkt zurückzuziehen, dass es nun mal eine Kriegskultur gebe, bedeute, einen kulturellen Determinismus zu schaffen und sich der Verantwortung zu entziehen, findet Muniz. Der Schütze könne sich im Recht fühlen, weil er sich von seiner Kultur bestärkt fühle, da es in einer Kultur des Krieges nicht möglich sei, den Einzelnen zur Verantwortung zu ziehen.

„Auf dem Hintergrund der vorsätzlich konstruierten Politik einhelliger Toleranz und Komplizenschaft wird das Argument der Kultur benutzt, um zu lähmen, um die individuelle und institutionelle Verantwortung auszulöschen. Wer genau ist der Täter? Wo genau wurde der Beschluss gefasst? Man kann nicht den Gouverneur, den Kommandanten, den Chef der Garnison verantwortlich machen. Man kann niemanden zur Verantwortung ziehen, weil alle sich innerhalb dieser Kultur des Krieges bewegen, von der man nicht weiß, wo sie beginnt und wo sie endet“, so Muniz‘ Analyse.

Um das zu ändern, müsse man nicht bei der Bundesverfassung anfangen. Es liege allein am Verhalten der Militärpolizei und den Befehlen des Gouverneurs. Es gehe um administrative und verfahrenstechnische Änderungen. „Wenn diese Entscheidungen nicht getroffen werden, dann vielleicht deshalb, weil es keine Vorteile bringt. Vielleicht sind Angst, Gewalt und Rechtsverletzungen untrüglichere Garanten des Wahlerfolgs“.

Brasil de Fato nahm mit den Sicherheitsdepartments von São Paulo, Rio de Janeiro und Paraná Kontakt auf; bis zur Veröffentlichung dieses Textes antwortete nur das Department São Paulo: Die Arbeit der öffentlichen Sicherheitskräfte gelte dem Schutz des Lebens. Themen, die in der Ausbildung behandelt werden, seien: Gemeindepolizei, Menschenrechte und Staatsbürgerschaft, Polizeieinsätze und Vorfallmanagement. Schließlich heißt es: „Das Department ist durch die Militärpolizei in einer akademischen Arbeitsgruppe vertreten, wo mit dem Institut Zumbi dos Palmares und sieben weiteren Institutionen der Umgang von Polizeibeamtinnen und –beamten mit Gewalt erörtert wird.“

Übersetzung: Lui Lüdicke

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