Von Darío Aranda, Resumen Latinoamericano
(Mexiko-Stadt, 3. Januar 2018, desinformémonos).- Die Ermordungen von Santiago Maldonado und Rafael Nahuel waren die hervorstechendsten Ereignisse einer ganzen Serie von Gewalttaten gegen die indigenen Gemeinden. Die wichtigsten Fakten im Überblick: Im vergangenen Jahr wurden zahlreiche Versuche unternommen, indigene Gemeinden zu vertreiben. Damit einher gingen Repression, Kriminalisierung, Verhaftungen und Mord.
Die Angriffe auf die Mapuche-Gemeinden liefen in ähnlicher Weise ab, allerdings weniger bekannt, unter anderem in den Provinzen Formosa, Tucumán, Misiones, Santiago del Estero, Salta und Jujuy. Eine der erfreulichsten Nachrichten des Jahres: den Beschluss, die Gültigkeit des Gesetzes 26.160, das sich gegen Zwangsumsiedlungen ausspricht und somit den Räumungen Einhalt gebieten soll, zu verlängern. Die schlechtesten Nachrichten: die Ermordung von Rafael Nahuel, die gewaltsame Repression in der Mapuche-Gemeinde Lof Cushamen und das mit ihr einhergehende Verschwinden und die anschließende Ermordung von Santiago Maldonado.
„Dialogbereite“ Stiftung auf Seiten des Privatsektors
Es war ein Ereignis mit Signalwirkung, und doch geschah es fast unbemerkt: Im August ernannte die Regierung Jimena Psathakis von der NGO Stiftung demokratischer Wechsel (Fundación Cambio Democrático) zur Präsidentin des Nationalen Instituts für Indigene Angelegenheiten INAI (Instituto Nacional de Asuntos Indígenas). Bei Umweltverbänden und sozialen Initiativen steht die dialogbereite FCD in dem Ruf, die Positionen des Privatsektors zu unterstützen, und zwar von Esquel (wo sie sich hinter das Bergbauunternehmen stellte) bis nach Vaca Muerta, wo sie vorgab, im Dialog mit den Mapuche zu stehen, aber eigentlich nur das Fracking-Vorhaben unterstützt hat.
Lange Liste gewaltsamer Angriffe
Die Liste der gewaltsamen Angriffe auf die Gemeinden ist lang. Am 26. Juni wurden 16 Familien der Gemeinde Colalao in Tucumán gewaltsam geräumt. Dutzende Polizisten und Soldaten gingen gegen die Bewohner*innen vor. Die Angehörigen der Diaguita machten dafür die Staatsanwältin Adriana Cuello Reinoso und den Richter Eudoro Albo verantwortlich. Am 8. Juli wurde die Gemeinde Tekoa Kokuere’i in San Ignacio in Misiones von einer Schlägerbande angegriffen. Mit Macheten und Motorsägen zerstörten sie die Häuser und setzten sie vor den Augen der Frauen und Kinder in Brand.
Die gewaltsamen Räumungen fanden trotz zahlreicher Gesetze statt, die die Rechte der indigenen Bevölkerung garantieren (Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, Gesetz 20160 gegen Zwangsumsiedlungen). Zu den Verantwortlichen gehören demnach auch die Staatsanwält*innen und Richter*innen, die das Recht nicht im Sinne der indigenen Bevölkerung anwenden. Die Diaguitas in Tucumán haben bei ihrer Demonstration vor das Provinzgericht am 6. Juli die Schuldigen in den obersten Rängen der Justiz konkret benannt und daran erinnert, dass man seit 2009 darauf wartet, dass die Mörder des Diaguita Javier Chocobar vor Gericht gestellt werden. Sie kritisierten zudem Staatsanwält*innen und Richter*innen, die grünes Licht für die Räumung indigener Gebiete geben.
In der Wichí-Gemeinde “Barrio 50 Viviendas” in Ingeniero Juárez ging die Polizei von Formosa am 20. Dezember mit Schusswaffen gegen die Bevölkerung vor. Vier Menschen wurden verletzt, zwei davon durch Schrotkugeln.
Schusswaffengebrauch und Inhaftierungen
Zwei Beispiele für die Kriminalisierung der Bevölkerung sind das Vorgehen gegen Agustín Santillán, ein Wichí aus Formosa, der fünf Monate im Gefängnis saß; sowie gegen den Lonko (Sprecher) der Mapuche Facundo Jones Huala, weil sie vor der Regierung des Gouverneurs Gildo Insfrán ihre Grundrechte eingefordert hatten. Facundo sitzt weiterhin in Esquel in Haft und wartet auf sein Auslieferungsverfahren.
Über die Repression gegen die Mapuche wurde den Medien der argentinischen Hauptstadt am umfangreichsten berichtet. Im Januar 2017 kam es an nur zwei Tagen (9. und 10.1.) zu drei gewaltsamen Angriffen auf Pu Lof – Gemeinde im Widerstand in Cushamen. Nationalpolizei und die örtliche Polizei von Chubut gingen mit Schrotgewehren und Tränengas vor. Wie in den Medien berichtet wurde, traf ein Schuss den Bewohner Fausto Emilio Jones Huala in den Hals. Einem weiteren riss das Trommelfell. Nur durch Zufall wurde niemand getötet. Am 1. August kam es zu einem weiteren Überfall. Ohne Gerichtsbeschluss drang die Polizei in das Gemeindegebiet ein. In der Folge verschwand Santiago Maldonado, der später tot aufgefunden wurde.
Zu gewaltsamen Angriffen kam es auch in Campo Maripe (Vaca Muerta, 21. Juni), in Vuelta del Río (Chubut, 18. September) und Lof Fvta Xayen (in Neuquén, 19. September); in der Gemeinde Vuelta del Río wurden Häuser niedergebrannt (20. September).
Am 23. November stürmten über 300 Sicherheitskräfte den Lof Lafken Winkul Mapu (35 km von Bariloche entfernt). Frauen waren stundenlang mit Handschellen gefesselt, sogar Kinder wurden verhaftet. Zwei Tage später wurde Rafael Nahuel, ein junger Mapuche, durch einen Schuss in den Rücken ermordet. Verantwortlich für die Repression war die Gruppe Albatros der Nationalpräfektur.
Vielen Indigenen mangelt es an Trinkwasser, Hygieneversorgung, Strom und Wohnraum
Die dargestellten Fakten sind nur eine kleine Auswahl der Gewalttaten gegen die Indígena-Völker. Dazu kommen weitere Tote und Gewaltopfer. Die Gemeinde Cruce Buena Fe Cañaveral meldete innerhalb von 23 Tagen 26 Sterbefälle in Santa Victoria Este im Norden Saltas. Die Menschen starben aufgrund mangelnder Gesundheitsversorgung. Nach Angaben des Gemeindevorstehers Pedro Lozano handelte es sich um zwei Erwachsene und 21 Kinder, alle unter zwei Jahre. Die indigenen Bewohner*innen blockierten gemeinsam mit Criollo-Familien die Provinzstraße 54, beschuldigten die Leiterin der Krankenstation und prangerten das Fehlen von medizinischer Grundversorgung und sauberem Wasser an (bei Temperaturen von über 40°). Am 17. Dezember starb ein weiterer 7-jähriger Wichí in Santa Victoria Este.
In den ersten Tagen dieses Jahres wurden die großen Medien durch ein Foto für einen Moment auf die Situation der indigenen Bevölkerung aufmerksam. Es zeigt ein Mädchen der Ethnie Mbya in Misiones, das auf einem Boulevard der Stadt Posadas aus einer Pfütze trinkt.
In ihrem Bericht “Armut und Menschenrechte” spricht die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) von 43 Prozent der indigenen Ethnien, die weltweit in Armut leben. Dem Bericht zufolge sind indigene Bevölkerungsgruppen am meisten von Analphabetismus und Mangelernährung betroffen und haben nur sehr schwer Zugang zu medizinischer Versorgung in Städten sowie zur allgemeinen Grundversorgung, darunter Trinkwasser, Hygieneversorgung, Strom und Wohnungen. Sie sind die am meisten Betroffenen unter den Marginalisierten. Seit Jahrzehnten erleben die indigenen Völker die erschreckenden Fakten des Berichts am eigenen Leib, und sie selbst benennen die Ursache dafür: die Vertreibung aus ihren Gebieten (durch Land- und Forstwirtschaft, Bergbau, Ölförderung, große infrastrukturelle Projekte), die systematische Missachtung ihrer Rechte, den mangelnden Schutz seitens der Politik, ohne den sie sich nicht entwickeln können, und den strukturellen Rassismus.
2017: Ein Jahr voller Repression und Unterdrückung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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