Welche Gesetze und Institutionen aus der Diktatur gelten bis heute?

(Buenos Aires, 10. Dezember 2020, Red Eco Alternativo/poonal).- Am 10. Dezember jährte sich der Todestag des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet (1915-2006) zum vierzehnten Mal. Unter dem Militärregime Pinochets (1973-1990) wurde in Chile im Jahr 1980 eine Verfassung erlassen, deren Gesetze und Institutionen bis heute Gültigkeit haben und in Kraft sind.

Die massiven und kontinuierlichen Proteste der chilenischen Bevölkerung gegen ein neoliberales Wirtschaftssystem und die soziale Ungleichheit im Land seit Oktober 2019 haben dieses Jahr ein Referendum über eine neue Verfassung ermöglicht. Am 25. Oktober, etwa ein Jahr nach Beginn der Proteste, stimmte eine deutliche Mehrheit der Chilen*innen für eine neue Verfassung und einen eigens dafür zu wählenden Verfassungskonvent. Diese Forderung verfolgt vor allem das Ziel, die Verfassung von 1980, die auf den ideologischen Grundlagen der Diktatur erlassen wurde, zu ersetzen. Die Bevölkerung fordert eine neue Verfassung, die Gerechtigkeit und soziale Gleichheit im Land garantiert und nicht mehr von der Militärdiktatur Pinochets geprägt ist. Denn obwohl Chile im Jahr 1990 formell zur Demokratie zurückgekehrt ist, sind bis heute Gesetze und Institutionen in Kraft, die während des Militärregimes geschaffen wurden und die soziale Ungleichheit im Land bis heute festschreiben. Eine Übersicht:

Etablierung eines neoliberalen Modells

Mit der Verfassung von 1980 wurde in Wirtschaft und Gesellschaft eine Kultur nach neoliberalem Modell etabliert. Es verfestigte sich eine ideologische Ausrichtung, in welcher der sogenannte conservadurismo vorherrscht. Der Begriff conservadurismo beschreibt politische Leitlinien, Strömungen, Meinungen und Positionen des politisch rechten Spektrums. Die politische Ausrichtung lehnt progressive Positionen, u. a. im Hinblick auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen ab und tritt für traditionell konservative Werte ein. Chile galt während der Militärdiktatur als Versuchslabor des Neoliberalismus, u.a. wurden das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert.

Bildungssystem

Das Bildungssystem Chiles weist von den Ländern, die an der PISA-Studie teilgenommen haben, eine der höchsten Privatisierungs- und Segretationsraten auf. Die Hochschulausbildung in Chile ist kein Grundrecht. Viele der ehemals öffentlichen Universitäten erheben aufgrund ihres akademischen Prestiges heute sogar höhere Studiengebühren als die privaten Hochschulen. Die kostenlose Hochschulbildung wurde unter Pinochet 1981 privatisiert. Viele junge Menschen müssen sich somit um hohe Beträge verschulden, um ein Studium aufzunehmen und abschließen zu können.

Gesundheitssystem

Im Jahr 1981 wurde auch das Gesundheitssystem privatisiert. Die sogenannten privaten Einrichtungen zur Gesundheitsvorsorge (ISAPRES), die die Gesundheitsleistungen finanzieren, sind eine teure Alternative, die sich die meisten Chilen*innen nicht leisten können. Für einen großen Teil der chilenischen Bevölkerung wurde 1979 mit dem sogenannten Nationalen Gesundheitsfonds (Fondo Nacional de Salud, Fonasa) eine Krankenversicherung geschaffen, die das alte System der öffentlichen Gesundheitsfinanzierung ersetzte.

Rentensystem

1980 wurde das öffentliche und auf solidarischer Grundlage funktionierende Rentensystem abgeschafft und durch die sogenannten Pensionsfondsverwaltungen (AFP) ersetzt. Die AFP sind ein System, das aus privaten Unternehmen besteht, die die Rentenleistung erbringen und zu 100 Prozent von den Arbeitnehmer*innen bezahlt werden.

Öffentlicher Verkehr

Im südamerikanischen Vergleich hat Chile eines der teuersten öffentlichen Verkehrssysteme der Region. In Chile beträgt der Fahrpreis für die U-Bahn umgerechnet 1,13 US-Dollar; in Brasilien 0,99 US-Dollar; in Kolumbien 0,67 US-Dollar; in Argentinien sind es 0,43 US-Dollar.

An der Erhöhung der Fahrpreise für den öffentlichen Verkehr hatten sich die Proteste entzündet, die im Oktober 2019 begannen und bei denen bis Dezember 2020 nach Regierungsangaben mindestens 17 Personen starben und tausende Menschen inhaftiert und verletzt wurden.

Schwangerschaftsabbruch

Von 1939 bis 1989 war es in Chile möglich, eine Schwangerschaft freiwillig, sicher und kostenlos abzubrechen. Unter der Pinochet-Dikatur wurde die Abtreibung zur Straftat und ist bis heute verboten. Seit August 2017 ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich, wenn er aufgrund einer Vergewaltigung vorgenommen wird, wenn Lebensgefahr für die Mutter besteht oder der Fötus nicht lebensfähig ist.

Polizeigesetz (Carabineros)

Bereits seit mehreren Jahren fordern zivilgesellschaftliche Gruppen von der chilenischen Regierung, insbesondere von der aktuellen Regierung Sebastián Piñeras, das Gesetz zu reformieren, welches der chilenischen Polizei, den sogenannten Carabineros, einen militärischen Charakter verleiht. In den vergangenen Jahren wurden die Carabineros immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen und Amtsmissbrauch stark kritisiert. Exzessive Gewaltanwendung und deren Duldung sowie die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen, die durch die Polizist*innen begangen werden, sind Teil eines langjährigen Musters. Die chilenische Polizei steht zudem aktuell wegen Folter und Misshandlungen der Demonstrierenden während der Proteste im vergangenen Jahr in der Kritik. Amnesty International deckte eine Serie von Unterlassungen entlang der Befehlskette auf und zeigte, dass es sich bei den Gewalttaten nicht um Einzelfälle handelt, die von Polizist*innen in Eigeninitiative begangen wurden, sondern dass diese wahrscheinlich deshalb verübt wurden, weil die Polizei die Proteste um jeden Preis unterbinden wollte.

Übersetzung und Ergänzungen: Katharina Greff

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