Strikte Sparmaßnahmen und harte Hand gegen Sozialproteste

Milei Massa Inflation
Konnte nicht überzeugen: Der ehemalige Wirtschaftsminister Sergio
Massa.
Foto: Christian Rollmann

(Berlin, 11. Dezember 2023, npla).- Argentinien hat einen neuen Präsidenten. Mit Javier Milei regiert fortan ein rechtsradikaler Politiker das Land, das bekannt ist für seine progressive Diktaturaufarbeitung, die starken Gewerkschaften und eine kämpferische feministische Bewegung. Der politische Shootingstar war vielen vor kurzem noch völlig unbekannt. Wie kam es dazu, dass Milei innerhalb von kürzester Zeit die Mehrheit der Argentinier*innen von sich überzeugen konnte?

„Unsere Errungenschaften drohen zu verschwinden“

Am Abend der Präsidenten-Stichwahl in Buenos Aires. Der monatelange Wahlkampf ist vorbei, und um 20 Uhr herrscht Gewissheit: Der marktradikale Rechtspopulist Javier Milei wird der nächste Präsident Argentiniens. Eine Mischung aus Wut, Trauer und Trotz breitet sich bei den Aktivist*innen aus, die bei der Wahlfeier auf den Sieg ihres Kandidaten gehofft hatten. Der unterlegene Peronist Sergio Massa gestand seine Niederlage ein, noch bevor die ersten Hochrechnungen bekannt wurden. „Ich bin sehr traurig, weil die Errungenschaften, für die wir hart gekämpft haben, durch einen tiefsitzenden Hass zu verschwinden drohen“, sagt Federico. Der Aktivist hatte mit vielen anderen bei der Wahlfeier des peronistischen Parteienbündnisses auf den Sieg Massas gehofft. Ihm gehe es um die Diktaturaufarbeitung, eine eigene, nationale Industrie zu haben und demokratische Werte insgesamt, erläutert er. Wie viele andere Unterstützer*innen war der 31-Jährige den Tränen nahe. Dass die Rechte so klar gewinnen konnte, war ein Schock. Dass Argentinien nun von einem Präsidenten regiert wird, der mit seinem toten Hund redet, und von einer Vizepräsidentin, die die Militärdiktatur verharmlost, sei wirklich schlimm, sagt Federico.

In Argentinien liegt die Inflation aktuell bei knapp 150 Prozent. Mit Massa den amtierenden Wirtschaftsminister für das Regierungslager antreten zu lassen war durchaus gewagt – und letztlich auch nicht von Erfolg gekrönt. Der Ökonom Milei hatte seine Partei La Libertad Avanza (dt.: die Freiheit schreitet voran) erst 2021 gegründet. Mit dieser schaffte er es aus dem Stand in die Stichwahl und vereinte knapp 56 Prozent der Stimmen auf sich. Der 53-jährige ist ein politischer Quereinsteiger, er wurde durch Fernseh-Auftritte bekannt.

Medienprodukt und politischer Outsider

„Milei entstand vor allem als Medienprodukt,“ erläutert die Medienwissenschaftlerin Natalia Aruguete. Der Ökonom wurde seit einigen Jahren in Talkshows eingeladen. Diese hätten, so Aruguete, in Argentinien oftmals einen Klatsch-Charakter, es werde harsch miteinander gestritten. „Dass Milei dem charakterlich entsprach, machte ihn für die Medien attraktiv,“ sagt die Wissenschaftlerin. Im Wahlkampf fiel Milei vor allem durch seine schrillen, aggressiven – und vielfach bizarren – Auftritte auf. Mit Kettensäge oder Superhelden-Kostüm setzte er sich immer wieder in Szene. Die regierenden Peronist*innen bezeichnete er als scheiß Zecken, den Pabst hält er für einen Kommunisten, und die gesamte politische Konkurrenz war für ihn Teil der Kaste, die ausgelöscht werden müsse. „Dass er die Wahl gewinnen konnte, hat maßgeblich mit einer großen politischen Unzufriedenheit zu tun,“ sagt Aruguete, „insbesondere mit den beiden letzten Regierungen, für die die anderen Kandidaten standen.“ Die Professorin der Universität Quilmes ist sich sicher: Breite Teile der Bevölkerung stimmten für Milei, weil er ein politischer Outsider war. Milei schaffte es, sich als libertär darzustellen. In Wirklichkeit ist seine Agenda ebenso wie seine Partei jedoch stramm rechts. Die designierte Vizepräsidentin Victoria Villarruel leugnet die Opferzahlen der letzten Militärdiktatur. Geht es nach ihr, soll aus der zentralen Gedenkstätte Ex-Esma ein Park werden. Milei will Abtreibungen wieder kriminalisieren, Waffen freigeben und Studiengebühren einführen. Dazu unterstützt er den Handel mit Organen und Leihmutterschaft. Nicolas Welschinger, der an der Universität von La Plata zur neuen Rechten forscht, sagt: „Milei wird von einer Internationalen der extremen Rechten unterstützt.“ In der Tat: Von Vox in Spanien über Bolsonaro in Brasilien und Kast in Chile bis zu Donald Trump in den USA – Milei wurde von zahlreichen Rechtsradikalen im Wahlkampf unterstützt. „Von Trump hat er auch den Slogan ‚Macht Argentinien wieder groß‘ kopiert,“ erläutert Welschinger.

Inflation, Verarmung und die junge Wähler*innen

Mileis Seilschaften waren vielen Wähler*innen schlicht egal. Vielmehr waren es wirtschaftliche Gründe, die den Ausschlag gaben, ihm die Stimme zu geben. Die galoppierende Inflation, die Preise mehrmals pro Woche steigen lässt, sowie die harten Maßnahmen während der Corona-Pandemie haben viele Menschen arm gemacht. 40 Prozent der Bevölkerung lebt aktuell unter der Armutsgrenze, der Staat ist hoch verschuldet. Große Teile der argentinischen Bevölkerung erlebten seit mindestens zehn Jahren eine Entrechtung und einen Kaufkraftverlust, so Welschinger. „Milei konnte die allgemeine Unzufriedenheit gegenüber dem Staat kanalisieren,“ so der Sozialwissenschaftler. „Er machte die reale Verarmung und Ungleichheit, die die Menschen tagtäglich erleben, zum Thema.“ Immer neue Korruptionsskandale vertieften das Misstrauen in die peronistische Regierung und den Staat. In diese Kerbe haute Milei. Nun will er die Staatsunternehmen privatisieren, hat die Hälfte der Ministerien abgeschafft, plant Staatsbedienstete im großen Stil zu entlassen und Subventionen für Bus und Bahn streichen. Dazu soll der US-Dollar zum einzigen Zahlungsmittel und die Zentralbank aufgelöst werden. „Viele junge Menschen, die den Neoliberalismus der 90er und die Krise von 2001 nicht erlebt haben, gaben ihm ihre Stimme,“ schildert Natalia Aruguete. Die Maßnahmen von damals ähnelten denen, die Milei jetzt umsetzen will. Für Milei war die Regierung in den 90er Jahren eine der besten der argentinischen Geschichte.

Große Beliebtheit bei jungen Menschen

Gemeint sind die beiden Regierungsperioden von Carlos Menem (1989-99). Dieser privatisierte staatlichen Besitz im großen Stil und koppelte den argentinischen Peso an den Dollar. Das ging ein paar Jahre gut, bis 2001 der große Crash kam. Milei konnte vor allem bei den Jüngeren punkten, die diese Zeit gar nicht erlebt haben. Auf Social Media verbreiteten sich seine Botschaften rasant. Er gewann junge Influencer*innen für seine Sache, und auf Tiktok schauten Millionen Menschen seine Kurzvideos mit den Wahlversprechen. Dass er dabei oftmals populistisch, verkürzend und verfälschend argumentierte, gefiel. Natalia Aruguete glaubt, dass das menschlich ist. „Wir verinnerlichen leichte Erklärungen schneller als komplexe,“ sagt die Kommunikationswissenschaftlerin. „Viele Menschen in Argentinien wollen sich in dieser tiefen Krise an der Illusion festhalten, dass es eine schnelle Lösung gibt.“ Aber eine solche zu versprechen habe nichts mit dem zu tun, was es brauche, um eine Krise zu überwinden. Milei selbst glaubt an Übersinnliches. Mit seinem toten Hund kommuniziert er zum Beispiel über ein Medium. Derartige Verrücktheiten, seine exzentrische Art und sein rauer Ton wurden ihm vielfach als Authentizität ausgelegt. Wie konnte so einer die Politiklandschaft in kürzester Zeit aufmischen? Der Sozialwissenschaftler Nicolas Welschinger attestiert Milei, er habe etwas von einem charismatischen Führer im traditionellen Sinn. Aber im Gegensatz zur klassischen Rechten habe er eine eigene, neue Sprache entwickelt. „Er stellt sich selbst als Löwe in der Wildnis des Marktes dar, für den das Gesetz des Stärkeren gilt und der für sich selbst sorgt,“ analysiert Welschinger.

Der Löwe in der Wildnis

Ein echter Löwe braucht keinen Staat, denn Löwen lassen sich nicht von Regeln und Steuern einengen. Sie finden im direkten Wettkampf mit der Konkurrenz heraus, wer stärker ist und es verdient zu überleben. So zumindest die Logik von Javier Milei. Er machte Wahlkampf damit, dass er die politische Kaste absägen wolle. Seiner Meinung nach seien es diese Privilegierten, die breiten Teilen der Gesellschaft ihre Aufstiegschancen verwehrten. „Erst machte er die Politiker verantwortlich, dann alle die Staatsbediensteten, und jetzt hetzt er verschiedene Sektoren der Zivilgesellschaft gegeneinander auf,“ sagt Welschinger. Damit setze er den sozialen Frieden in Argentinien aufs Spiel. Im Wahlkampf setzte Milei auf Protest, seine Partei sei die einzige echte Alternative im politischen Geschäft. Von Protesten gegen seine eigene Politik hält er jedoch nicht viel. Den Anspruch auf freien Verkehrsfluss bewertet er höher als das Demonstrationsrecht, und den Arbeitslosen-Organisationen, die oftmals Straßen blockieren, drohte er bereits mit der harten Hand des Gesetzes. Welschinger geht davon aus, dass es in der nächsten Wahlperiode zu vielen sozialen Spannungen kommen wird. Denn der Anarcho-Kapitalist werde viele seiner Wahlversprechen nicht einhalten können.

Milei will gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft umfassende Einschnitte durchsetzen, die Zeit der kleinen Schritte sei vorbei. Klar ist: Das wird Proteste hervorrufen. Die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften, die traditionell dem Peronismus nahestehen und in den letzten Monaten erstaunlich leise waren, machen sich bereit. Sie werden sich ihre Errungenschaften nicht einfach wegnehmen lassen. Oder wie es ein Aktivist aus einem Armenviertel in Buenos Aires ausdrückt: Milei werde schon noch lernen, was es heißt, sich mit der argentinischen Bevölkerung anzulegen.

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