
(Bern, 31. Oktober 2025, Radio RaBe).- Bei einer massiven Polizeirazzia in einer Favela in Rio de Janeiro sind am Dienstag über 130 Menschen getötet worden – darunter vier Polizisten. Die Bilder von Bewohner*innen, die Leichen aus dem Wald schleppen, haben in Brasilien Entsetzen ausgelöst. Andreas Behn ist Leiter des Büros der Rosa Luxemburg Stiftung in Brasilien. Sarah Heinzmann von Radio RaBe Info hat mit ihm darüber gesprochen, wie das Land auf die Gewalteskalation reagiert – und welche politischen Hintergründe sie haben könnte.
Andreas, du bist in Brasilia, der Hauptstadt Brasiliens. Wie wird die Razzia in Rio dort aufgenommen?
Auf der Straße passiert nicht viel, aber die Nachricht hat Schock und Entsetzen ausgelöst. Zunächst war von 60 Toten die Rede, später von rund 130, darunter vier Polizisten. Bilder zeigten, wie Anwohner Leichen selbst aus dem Wald trugen und auf einem Platz ablegten – eine grauenhafte Vorstellung.
Die Razzia die richtete sich ja eigentlich gegen die Drogenkartelle. Wer genau war denn unter den Todesopfern? Was genau ist deren sozialer Status oder Hintergrund?
Im offiziellen Polizeibericht heißt es, es handle sich um Kriminelle oder Verdächtige. So steht es regelmäßig in den Berichten solcher Polizeieinsätze. Die kommen ja oft vor, allerdings nicht mit so vielen Todesopfern. In den Bildern sieht man: Es sind fast immer junge, schwarze Männer aus armen Vierteln. Viele Anwohner*innen sagen, viele der Getöteten hätten nichts mit Drogenhandel zu tun gehabt.
Der Einsatz war nach Angaben der Polizei schon lange geplant. Die hohe Opferzahl der Operation sei erwartet, aber nicht erwünscht gewesen. Das sagte etwa Victor Santos, der Chef der Sicherheitsbehörden des Bundesstaates Rio. War dieses Risiko also kalkuliert?
Ja, das kann man so sagen. Solche Einsätze enden fast immer mit vielen Toten und wenigen Festnahmen. Es gab 60 bis 100 Haftbefehle. Klar ist: Wenn die Polizei in diese armen Viertel geht, dann erwartet sie eine entsprechende, auch sehr brutale bewaffnete Gegenwehr. Und dann ist natürlich völlig klar, dass das Ergebnis viele Tote sind, so wie das immer wieder in Rio passiert. Inwiefern das auf das Einverständnis der Bevölkerung trifft, ist schwierig zu sagen. Einige fühlen sich mit dem Drogenhandel geschützter als durch die Polizei. Aber andere sind auch unglücklich darüber, dass so ein rechtsloser Zustand herrscht und junge Männer mit schweren Waffen das Alltagsleben kontrollieren.
In Brasilien werden jährlich so viele Menschen durch Polizeikräfte getötet wie kaum in einem anderen Land der Welt. Wie genau positioniert sich denn die Regierung rund um den eher links positionierten Präsidenten Lula da Silva zu der Polizeigewalt? Gibt es da schon Stellungnahmen?
Die Arbeiterpartei (PT) kritisiert solche Exzesse klar, hat aber selbst kein schlüssiges Konzept, wie sie der Gewalt der Drogenbanden begegnen will. Der Gouverneur von Rio, Cláudio Castro, ein Verbündeter des rechtsextremen Ex-Präsidenten Bolsonaro, verteidigte den Einsatz und zeigte sich unbeeindruckt angesichts der hohen Opferzahlen. Man stünde zu allem, was getan wurde, erklärte Castro am Tag nach dem Einsatz.
Wird nach diesen Berichten nun die Kritik an Cláudio Castro lauter?
Ja, und sie ist heftig, von verschiedenen Seiten. Der Fall zeigt die tiefe politische Spaltung zwischen Bolsonaros rechtsextremem Lager und dem eher linken Spektrum, zu dem auch die Regierung Lula gehört. Die öffentliche Sicherheit wird dabei zum Wahlkampfthema. Diese beiden Spektren werden ja bei den Wahlen im Oktober 2026 aufeinandertreffen. Dieser Polizeieinsatz muss sicherlich auch schon in diesem Kontext gesehen werden. Das Thema öffentliche Sicherheit sollte durch diesen skandalösen Polizeieinsatz und die vielen Toten auf die politische Agenda gesetzt werden. Das rechtsextreme Spektrum hofft auf mehr Unterstützung seitens der Bevölkerung. Dieser Polizeieinsatz vom Dienstag muss auch als Vorwarnung gesehen werden für das, was von der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zu erwarten ist. Und in zehn Tagen startet in Brasilien ja die Weltklimakonferenz.
Stehen die Razzien damit irgendwie im Zusammenhang?
Das ist natürlich Spekulation. Aber die Weltklimakonferenz ist natürlich ein Schaufenster für die Regierung, für den Präsidenten Lula da Silva, wo er sich und das eigene Land als wichtig und auch in der Klimapolitik konsequent vorstellen möchte. Und wenn wenige Tage zuvor ein so grauenhafter Polizeieinsatz und so viele Tote dann in einer anderen Stadt auftauchen, ist das natürlich eine starke Beeinträchtigung für das internationale Bild. Und dadurch ist jetzt Brasilien in der ganzen Welt sehr negativ in den Schlagzeilen. Also es ist durchaus möglich, dass sich seitens der Rechtsextremen, in diesem Fall dann der Gouverneur in Rio, Claudio Castro, überlegt hat, wenn wir jetzt so einen Skandal provozieren mit diesen grauenhaften Bildern, dass sich das dann auch negativ auf die Regierung auswirkt die in wenigen Tagen die ganze Welt hier in Brasilien in Belém, im Amazonasgebiet empfangen möchte.
Massaker in Rio: Politische Sprengkraft vor der Weltklimakonferenz von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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