(Mexiko-Stadt, 10. Mai 2021, cimacnoticias).- Zehn Jahre nach dem ersten „Marsch für die nationale Würde. Mütter auf der Suche nach ihren verschwundenen Töchtern und Söhnen“ ist die Zahl der Vermissten in Mexiko um das Siebenfache auf 85.000 Fälle gestiegen. Jedes Jahr kommen neue Mütter hinzu, die ihr Kind suchen, viele andere wiederum sterben, ohne ihre Kinder gefunden zu haben. Hunderte Mütter nahmen am Protestmarsch am 10. Mai in Mexiko-Stadt teil und forderten, dass ihre Töchter und Söhne, von denen viele vor mehr als einem Jahrzehnt verschwunden sind, lebendig auftauchen.
Drohungen, Suchaktionen und gemeinschaftliche Organisation
Eine der Initiatorinnen der Aktion ist María Elena Salazar, Mutter von Hugo Marcelino González Salazar. Sie sucht seit elf Jahren ihren Sohn, einen jungen Arbeiter, der im Alter von 25 Jahren am 20. Juni 2009 in Torreón im Bundestaat Coahuila verschwand. Daraufhin schloss sich María der Gruppe „Vereinte Kräfte für unsere Verschwundenen in Coahuila“ an, die im Zusammenhang mit der Aufstandsbekämpfung in den 1970er Jahren entstanden ist. Als der erste große Protestmarsch stattfand, war María 50 Jahre alt, heute ist sie fast 60 und hat ihren Sohn immer noch nicht gefunden. Damals hatten sich 20 Familien zusammengeschlossen, die mithilfe ihrer Ersparnisse und der Unterstützung anderer in die Stadt kamen: „Wir haben erkannt, dass wir keinen Grund zum Feiern haben, dass wir stattdessen auf die Straße gehen und herausschreien müssen, dass unsere Kinder nicht da sind.“
Auch Lourdes Hernández Salazar, nahm am ersten Protestmarsch teil. Ihre Tochter Pamela verschwand 2010 in Chihuahua-Stadt, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats. Das letzte, was Lourdes über Pamela in Erfahrung bringen konnte, war, dass diese auf dem Heimweg von einer Polizeieinheit verhaftet wurde, die sich aus Stadt-, Autobahn-, Staats- und Militärpolizei zusammensetzte. Da auch ein Militärangehöriger vermisst wird, gehen die Behörden davon aus, dass es sich um eine vom organisierten Verbrechen geklonte Einheit handelte. In den zehn Jahren, in denen die Suche läuft, gab es keine weiteren Informationen zu diesem Fall. „Sie wollen sie nicht suchen. Obwohl sie so viele Informationen haben, arbeiten sie nicht weiter. Wir sind diejenigen, die weitermachen. Manchmal bringt unsere Suche uns an Orte, zu denen man besser nicht gehen sollte, aber alles, was wir wollen, ist ein Hinweis auf den Aufenthaltsort unserer Kinder“, meint Lourdes. Ihr heutiges Leben ist darauf ausgerichtet, ihre Tochter zu finden, aber ihre Nachforschungen bringen sie in Lebensgefahr. Sie erhielt Drohungen, musste sie ihren Wohnsitz wechseln und war über Monate in einem sicheren Haus untergebracht, das sie nicht verlassen durfte. „Ich habe mich am Ende dazu entschieden, das Haus zu verlassen: Ich war eingesperrt, während die Täter draußen weiter herumliefen. Auf die Leibwächter, die mir gestellt wurden, musste ich leider auch verzichten, denn die sollten in Wirklichkeit nur dafür sorgen, dass die Regierung über jeden meiner Schritte auf dem Laufenden blieb.“ Zu dieser Zeit wurde ihre Leidensgenossin Marisela Escobedo vor dem Regierungspalast in Chihuahua ermordet, wo sie gegen den Mord an ihrer Tochter Rubí protestierte.
Mütter müssen die Suche wegen Untätigkeit der Behörden selbst in die Hand nehmen
Am 12. März 2011 verschwand in Nuevo León der Student Roberto Iban Hernández García, nachdem ein bewaffnetes Kommando von angeblichen Bundespolizisten ihn für eine Untersuchung abgeführt hatte. Seine Mutter Claudia Irasema García Mendoza berichtet über die Anfänge des Protestmarschs gegen das gewaltsame Verschwindenlassen: „Wir begannen zu protestieren, weil die Regierung nie auf uns hörte. Es kam ein Präsident nach dem anderen, aber keiner von ihnen hat uns zugehört. Das Thema Verschwundene ist weder für sie noch für irgendjemanden wichtig. Also haben wir Mütter uns dazu entschieden, uns zusammenzuschließen, hinauszugehen und Gerechtigkeit zu fordern.“ Bisher ohne Erfolg. „Seit zehn Jahren suche ich nach meinem Kind, ohne irgendeine Nachricht zu bekommen.“ Obwohl es jetzt eine Suchkommission gebe, seien die Mütter die einzigen, die wirklich suchen, meint Claudia. Sie sind es, die den Behörden die Hinweise und Beweise liefern, damit die Schuldigen verhaftet werden und die Wahrheit über ihre Töchter und Söhne ans Licht kommt. Im Laufe dieses Jahrzehnts hat Claudia zwar erreicht, dass die Verantwortlichen für das Verschwinden ihres Sohnes inhaftiert wurden. Jedoch wurden sie nach kurzer Zeit von der Regierung auf freien Fuß gesetzt, angeblich aus Mangel an Beweisen. Jetzt fürchtet Claudia um ihr Leben.
Am 20. Februar 2021 verschwand der Bundespolizist Juan Luis Lagunilla García. Auch dieser Vorfall ereignete sich in Nuevo León. Seine Familie, die aus Mexiko-Stadt stammt, kam daraufhin in den Bundesstaat an der Grenze zu den USA, um den jungen Mann zu suchen, der kurz zuvor Vater eines kleinen Mädchens geworden war. Auf dem Weg traf sich seine Mutter mit der Gruppe „Suchende aus Nuevo León“, die sie noch immer begleiten. Damals waren es 20 Familien, die ihre verschwundenen Kinder suchten, heute sind es mehr als 150. Die Mutter von Juan, die gemeinsam mit ihrer Tochter am 10. Mai am Protestmarsch teilnahm, reist mindestens zweimal im Monat nach Nuevo León, um dort weiter nach ihrem Sohn zu suchen, während der Rest der Familie sich um Juans Tochter kümmert. Die Zehnjährige hielt während des gesamten Protestmarschs das Plakat ihres vermissten Vaters.
Mütter fordern Antwort auf die internationale Menschenrechtskrise
Der erste Protestmarsch dieser Art fand am 10. Mai 2011 in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua statt. Die Initiatorinnen waren Mütter von vermissten jungen Frauen, die sich im Norden des Landes organisiert hatten. Das Verschwinden und die Ermordung von Frauen machten damals internationale Schlagzeilen. Wie zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen nachwiesen, hatte der von Ex-Präsident Felipe Calderón Hinojosa ausgerufene „Krieg gegen die Drogen“ eine internationale Menschenrechtskrise in Mexiko ausgelöst. Die betroffenen Mütter forderten an diesem Tag vor der Staatsanwaltschaft der nördlichen Grenzstadt öffentlich die strafrechtliche Verfolgung der Fälle. Ein Jahr später gingen die Mütter, die sich in der Zwischenzeit zur „Nationalen Bewegung für unsere Verschwundenen” zusammengeschlossen hatten, erneut auf die Straße. Allerdings reisten sie diesmal nach Mexiko-Stadt, um ihre Forderungen auf Bundesebene vorzubringen und „das Land zu sensibilisieren.“ In diesem Jahr waren die ersten sieben Forderungen der Familien:
- Vollständige Bearbeitung aller Fälle mithilfe von Notmaßnahmen zur sofortigen Suche
- Sofortige Befassung des Bundes mit allen Fällen
- Erfassung aller Vermisstenmeldungen und Anlegen eigener Akten für jeden Fall.
- Einrichtung einer gesonderten Unterstaatsanwaltschaft für die Suche nach verschwundenen Personen
- Standardisierte Untersuchungsprotokolle für die gesamte Republik
- Bundesweites Unterstützungsprogramm für die Familien von Verschwundenen
- Annahme aller Empfehlungen des Berichts der UN-Arbeitsgruppe über das Verschwindenlassen von Personen
Mehrere Regierungen haben die Forderungen bisher ignoriert
„Seit dem ersten Protestmarsch hatten drei unterschiedliche Parteien die Exekutivgewalt inne, doch an diesem zehnten Jahrestag sehen wir mit Bedauern, dass unsere Forderungen nicht erfüllt wurden, und wenn überhaupt, dann nur zur Hälfte. Wenn die Notmaßnahmen zur sofortigen Suche angeordnet worden wären und es schon vor zehn Jahren effektive Untersuchungsprotokolle gegeben hätte, wären wir heute nicht hier. Aber dem war nicht so“, sagte eine der Mütter in einer Erklärung und fügte hinzu: „Am 7. April gab Alejandro Encinas Rodriguez, Unterstaatssekretär für Menschenrechte, Bevölkerung und Migration, in einem Bericht bekannt, dass bis zu diesem Tag 85.053 Meldungen über vermisste Personen eingegangen sind. Das sind fast sieben Mal so viele wie 2012. Diese humanitäre Tragödie, die sich nun auf ganz Mexiko ausgeweitet hat, ist der Grund, warum wir unseren Protestmarsch weiterführen. Solange wir unsere vermissten Angehörigen nicht wiederhaben, werden wir nicht schweigen. Der mexikanische Staat ist durch seine Gleichgültigkeit und seine Untätigkeit verantwortlich. […] Die Ungewissheit zermürbt unsere Familien. Unsere Mitstreiterin Panchita, die fast 16 Jahre lang vergeblich nach ihrem Sohn gesucht hat, ist vor einem Monat gestorben. Möge sie in Frieden ruhen.”
Trotz der Pandemie kamen die Mütter aus den Bundesstaaten Chihuahua, Coahuila, Nuevo León, Guanajuato, Estado de México, Mexiko-Stadt und Chiapas am 10. Mai auf der Hauptverkehrsstraße „Paseo de la Reforma” in Mexiko-Stadt zusammen. Zusätzlich organisierten hunderte Mütter in der ganzen Republik lokale Märsche, beispielsweise in den Bundesstaaten Puebla, Veracruz und Michoacán. Fast zwei Stunden lang riefen die Teilnehmerinnen – unter ihnen viele ältere oder körperlich beeinträchtige Frauen –Sprechchöre, die mittlerweile schon zur Tradition geworden sind: „Hör mir zu, Tochter, deine Mutter kämpft für dich“ und „Warum wir euch suchen? Weil wir euch lieben.” Viele trugen Plakate mit den Steckbriefen der Vermissten und das Bild der Tochter oder des Sohnes, die sie noch immer suchen.
Übersetzung: Hannah Hefter
„Marsch für die nationale Würde“ jährt sich zum 10. Mal von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar