100 Tage Lula – Bewegungen ziehen Bilanz

(Brasilia, 10. April 2023, Brasil De Fato).– Die 100-Tage-Marke hat die Regierung Lula inzwischen erreicht – ein guter Anlass, um eine erste Bilanz zu ziehen. Brasil De Fato sprach dazu mit Protagonist*innen der populärsten Bewegungen Brasiliens.

Verteidigung der Demokratie

Vera Chaia, Politikprofessorin an der Pontificia Universidad Católica de São Paulo, lobt den Umgang des neuen Justizministers Flávio Dino mit den Attentaten am 8. Januar (an jenem Tag hatten Anhänger*innen des Expräsidenten Bolsonaro den Regierungssitz, den Kongress und den Obersten Gerichtshof in Brasília gewaltsam gestürmt): „Wer sich gleich zu Anfang gut profiliert hat, war Flávio Dino. Es war wichtig, dass wieder Frieden einkehrt und die brasilianische Politik zur Ruhe kommt. Es hat beeindruckend viele Festnahmen von Bolsonaristas gegeben. Wie Dino und Lula in Brasília reagiert haben, war sehr wichtig”, erklärt Chaia.

Wirtschaft

Auch Fernando Haddad habe seine Sache bisher gut gemacht, meint Chaia. Der neue Finanzminister, der wie Lula aus der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) stammt, hatte seine Finanzpläne vorgestellt. „Sein Ministerium muss sich um die größte Schwachstelle des Landes kümmern, die brasilianische Wirtschaft. Sein Vorschlag, mit neuen politischen Regelungen zu arbeiten, zielt direkt auf den Kern des Problems ab.” Die Politologin Mayra Goulart erklärt dazu: „Es handelt sich um die Verteidigung einer Wirtschaft, die die Sozialpolitik und die gesellschaftliche Entwicklung in den Vordergrund stellt.” Die „steuerlichen Eckpunkte” seien gut ins Visier genommen worden. Haddad und der Planungsminister Tebet „vertreten eine starke Position, jedoch ohne den Markt offen zu konfrontieren”, so Goulart.

Zivilgesellschaftliche Bewegungen

Mehrere zivilgesellschaftliche Bewegungen loben den offenen Dialog mit den Bundesbehörden, den es erstmals seit 2016 wieder gebe. Nach der Amtsenthebung von Dilma Rousseff (PT) 2016 hatte Michel Temer von der Partei Movimento Democrático Brasileiro das Amt des Präsidenten übernommen. Jetzt sei es wieder möglich, die Beschwerden in der Hauptstadt Brasilia vorzutragen, die sich seit sieben Jahren aufgestaut haben. Trotzdem unterstreichen die Organisationen auch die Notwendigkeit konkreter Antworten. Ihre wichtigsten Anliegen sind die Eigentumsrechte indigener Territorien, Quilombos und anderer Siedlungen. Am 21. März hat die Regierung Eigentumsrechte an drei Quilombos vergeben. Andere Siedlungen warten weiter auf Anerkennung, und auch im Zusammenhang mit indigenen Gebieten stehen Vermessungs- und Anerkennungsverfahren aus. Für Iury Paulino von der Protestgewegung gegen Staudämme (Movimiento de Afectados por Represas) ist die größte Herausforderung, „die Regierung vor faschistischen Angriffen zu schützen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie Fortschritte in den wichtigsten Anliegen macht”. Am dringendsten sei, dass sie eine Position zur Erneuerung von Lizenzen für Staudammprojekte entwickle. Als Beispiel nennt er das Wasserkraftwerks in Belo Monte: Der Bau des Staudamms hat 55.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und 130 Kilometer des Xingu-Flusses im Amazonas ausgetrocknet. „Die Anerkennung unserer Gebiete ist das Hauptanliegen unserer Bewegung. Ohne diese haben wir gar nicht die Möglichkeit, über Themen wie Gesundheits-, Bildungs- oder Familienpolitik zu sprechen”, so Val Eloy Terena, Koordinatorin der Organisation Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens (APIB). Dinaman Tuxá, Exekutiv-Koordinator der APIB, erklärt: „Die wichtigste Entscheidung betrifft die Gründung eines Arbeitsausschusses, der gegen den illegalen Bergbau im Gebiet der Yanomami vorgeht. Wir sind außerdem gerade dabei, Krisenbüros einzurichten und den Dialog an den angespanntesten Orten zu stärken.” Die Landlosenbewegung MST drängt weiter auf eine Strukturierung des Nationalen Instituts für Besiedlung und der Agrarreform (INCRA) und erinnert an die 65.000 Familien, die momentan in Notunterkünften und Camps leben. „Für Landlose ist das INCRA das Pendant zum FUNAI der Indigenen Völker. Das INCRA untersucht und klassifiziert Territorien, kontaktiert Eigentümer, verhandelt und  aktualisiert die staatlichen Register”, erklärt José Damasceno von der landesweiten Koordinierung der Bewegung MST.

Umwelt

Die „Null-Abholzungs-Politik” war eine der zentralen Wahlversprechen Lulas – ein Kontrastprogramm zu der Demontage der Umwelt unter Jair Bolsonaro. Nach seiner Amtsübernahme hat Lula nun wesentliche Maßnahmen in die Wege geleitet, die die Umwelt erhalten sollen. Die bisherige Tendenz der Zerstörung des Amazonas und der Cerrados, der Feuchtsavannen im Südosten des Landesinneren, konnte Lula allerdings noch nicht stoppen. Expert*innen meinen, dass dies auch noch einige Zeit dauern wird. Mehrere Umweltaktivist*innen erklärten jedoch, sie vertrauten auf die Entwicklungen in den nächsten Jahren, vorausgesetzt, dass es künftig strengere Kontrollen und weniger Konzessionen in der Landwirtschaft geben wird. Ane Alencar ist Direktorin des Fachbereichs Wissenschaft am Amazonasinstitut für Umweltforschung und Koordinatorin der Ökosysteme Cerrado und Fogo bei MapBiomas. Das Projekt kümmert sich seit rund 40 Jahren um die Sammlung und Auswertung von Umweltdaten. Nach ihrer Aussage lässt sich im Echtzeitsystem zur Erkennung von Entwaldung (DETER) ein leichter Rückgang der Rodungen erkennen: Im Amazonas sanken sie von 941 km² auf 710 km², im Cerrado von 1.288 km² auf 1.244 km² (Stichtag 24. März). „Das ist schon ein Grund zum Feiern, besonders im Fall der Amazonasregion. Aber wir müssen diesen Rückgang auch in Zukunft gewährleisten. Und dazu braucht es eine besser strukturierte und organisierte Regierung”, mahnt Alencar.

Unterdessen fordert das 2022 gegründete Observatorium für Umweltangelegenheiten Brasiliens (OGAM) Lulas Regierung auf, die Zivilbevölkerung besser in den Nationalen Umweltrat einzubinden. Dieser ist das wichtigste Forum für den Dialog zwischen der Bundesregierung und der Zivilgesellschaft. Unter Jair Bolsonaro hatte der Umweltrat jede Bedeutung verloren.

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