Wir dokumentieren – Angehörige von Verschwundenen fordern Gedenkstätte

Marmorstein mit Inschrift in Gedenken an Gefangene, die in der Colonia Dignidad zu Verschwundenen wurden
Symbolischer Grundstein für eine Gedenkstätte in der Ex Colonia Dgnidad. Foto: Jorge Soto

Verband der Familienangehörigen von Verhaftet-Verschwundenen und Exekutierten der Region Maule

Offener Brief an die Gemischte Kommission zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad (im Vorfeld der Sitzung am 20. November 2023 in Santiago)

 

Dringender Aufruf:

Sieben Jahre nach Gründung der Gemischten Kommission ist es endlich Zeit:
Die Gedenkstätte muss ohne weitere Verzögerungen umgesetzt werden!

 

An den chilenischen Präsidenten Gabriel Boric und den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz
An die Mitglieder der Gemischten Kommission
An die interessierte Öffentlichkeit in Chile und Deutschland

 

 

VERANTWORTUNG
Chile und Deutschland tragen eine gemeinsame Verantwortung für die fünf Jahrzehnte währenden Verbrechen der Colonia Dignidad. Deshalb sind beide Staaten dazu verpflichtet, sich für Wahrheit Gerechtigkeit, Erinnerung und Wiedergutmachung einzusetzen. In den letzten Monaten wurden Recherchen über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Colonia Dignidad und der chilenischen Diktatur in Bezug auf Waffenhandel und Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit, Archive wie das des Bundesnachrichtendienstes (BND) zu öffnen.

Die chilenische Justiz bezeichnete die Colonia Dignidad kürzlich als einen der relevanten Orte für die Aufklärung des Schicksals und des Verbleibs der verschwundenen Gefangenen der Diktatur. Wir begrüßen die Erstellung des chilenischen Nationalen Plans zur Suche der Verschwundenen und fordern konkrete Ermittlungen und Untersuchungen in Bezug auf die Rolle der Colonia Dignidad bei diesen Verbrechen.

2017 wurde die „Chilenisch-Deutsche Gemischte Kommission zur Aufarbeitung der ‚Colonia Dignidad‘ und zur Integration der Opfer in die Gesellschaft“ eingesetzt. Zu deren Aufgaben gehört insbesondere, die Errichtung einer Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsstätte am historischen Ort der Verbrechen, der ehemaligen Colonia Dignidad und heutigen Villa Baviera voranzutreiben. 2018 benannte die Gemischte Kommission vier Expert:innen. Diese erarbeiteten bis 2021 einen Vorschlag für eine Gedenk- und Bildungsstätte, auf den es bis heute jedoch keine Antwort gibt.

 

UNERFÜLLTE VERSPRECHUNGEN
Anfang 2023 erklärten Präsident Boric und Bundeskanzler Scholz öffentlich, dass sie die Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrums vorantreiben werden. Mit großer Sorge mussten wir jedoch feststellen, dass das Thema Colonia Dignidad, das für die zivil-militärische Diktatur in Chile und deren Verbrechen so wichtig war, bei den jüngsten Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Putsches ausgespart blieb. Weder wurden die angekündigten Gedenktafeln in der Colonia Dignidad angebracht, noch kam die Gründung einer Trägerorganisation für die Errichtung einer Gedenkstätte voran – beides Maßnahmen, die die Gemischte Kommission bei ihrer letzten Sitzung im April 2023 in Berlin beschlossen hatte. Die deutsche Regierung zieht sich darauf zurück, dass die Verantwortung in Chile liegt.

 

GESCHICHTE DER DIALOGSEMINARE
Seit zehn Jahren organisiert ein multidisziplinäres Team Dialogworkshops und Aktivitäten mit verschiedenen Betroffenengruppen der Ex Colonia Dignidad. Zu diesen gehören ehemalige politische Gefangene, Angehörige von verschwundenen Gefangenen, Chilenen, die als Kinder sexualisierte Gewalt erlitten haben, frühere und heutige Bewohner:innen der Siedlung, einschließlich jener, die auf betrügerische Art und Weise adoptiert wurden, sowie Landarbeiter:innen, die vom Gelände der Colonia Dignidad vertrieben wurden. Ein Ergebnis dieser Begegnungen und Gespräche ist, dass alle teilnehmenden Gruppen mit der Errichtung einer Gedenkstätte einverstanden sind, zu der Orte der Trauer und des Gedenkens ebenso gehören wie Ausstellungen in historischen Gebäuden, in denen die Geschichte der einzelnen Betroffenengruppen und die von ihnen erlittenen Verbrechen erzählt werden sollen.

Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler:innen und Forscher:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Vertreter:innen der zuständigen Behörden haben bei diesen Dialogen ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Dieser seit zehn Jahren andauernde Prozess ist nicht frei von Konflikten; Meinungsverschiedenheiten sind legitim und gehören zum Prozess der Errichtung von Gedenkstätten dazu. Wir bedauern jedoch, dass diese Spannungen und legitimen Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Akteuren heute als Vorwand herhalten müssen, der Fortschritte und Entscheidungsfindungen auf politischer Ebene blockiert.

 

FESTGEFAHRENER PROZESS
Wir, die Unterzeichnenden dieses Briefes, sind einerseits Betroffene der von oder in der ehemaligen Colonia Dignidad begangen Verbrechen, die an dem beschriebenen Dialogprozess teilgenommen haben. Andere von uns unterstützen die Aufklärung der Verbrechen und die Forderung nach Gerechtigkeit und Erinnerung. Wir beobachten die politischen und juristischen Prozesse in Chile und Deutschland seit Jahren und sehen mit großer Sorge, dass die vorbereitenden Aktivitäten zur Errichtung einer Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsstätte ins Stocken geraten sind. Die Schritte, die unternommen wurden, um Mindestvereinbarungen für einen zukünftigen Ort zu treffen, waren nicht von konkreten Maßnahmen seitens beider Staaten begleitet. Wir sehen ein Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeiten zwischen Chile und Deutschland, einen Mechanismus, der in der Vergangenheit die Verstetigung der Verbrechen ermöglicht und ihre Aufklärung behindert hat.

 

AUFRUF ZUM HANDELN
Jetzt ist es an der Zeit, Entscheidungen zu treffen. Fünfzig Jahre nach dem Staatsstreich in Chile haben beide Regierungen nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung,alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Sie haben eine Verpflichtung gegenüber den Opfern und gegenüber der Gesellschaft, die die Notwendigkeit und das Recht darauf hat, die Geschichte zu kennen und daraus zu lernen. Es eilt. Zum einen sind viele der Personen, die an den Dialogveranstaltungen teilgenommen haben, verstorben, oder können aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr länger warten. Zum anderen haben die derzeitigen Regierungen in beiden Ländern nur ein begrenztes Zeitfenster für die Errichtung einer Gedenkstätte. Es ist offensichtlich, dass in zwei weiteren Jahren – je nach den Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse – die Bedingungen für Fortschritte zum Thema sehr viel ungünstiger sein können.

Im Vorfeld der Sitzung des Gemischten Kommission am 20. November 2023 rufen wir beide Regierungen dringend dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und konkrete Schritte hin zu der Errichtung eines Ortes der Erinnerung, Bildung und Dokumentation in der ehemaligen Colonia Dignidad zu unternehmen. Das ist dringend notwendig, um die Geschichte auf verantwortungsvolle Weise zu erzählen und um eine Menschenrechtsperspektive auf Grundlage der Leidenserfahrungen der verschiedenen Betroffenengruppen zu befördern. Deshalb fordern wir, dass bei diesem Treffen der Gemischten Kommission konkrete Maßnahmen angekündigt werden.

 

FORDERUNGEN
1.- Einrichtung einer Geschäftsstelle und einer Trägerorganisation, die die konkreten operativen Arbeiten für die Errichtung eines Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsortes umsetzt und die Mechanismen für den Dialog und die Teilhabe aller Betroffenengruppen und der Zivilgesellschaft bereitstellt
2.- Symbolischer Akt der Grundsteinlegung, zu Beginn eines Prozesses der Errichtung einer Gedenkstätte.

 

UNSERE SYMBOLISCHE GRUNDSTEINLEGUNG
Am heutigen 18 November 2023 wollen wir vom Angehörigenverband der Verhaftet-Verschwundenen und Exekutierten der Maule Region gemeinsam mit anderen Organisationen und Personen die uns in die ex Colonia Dignidad begleiten ein klares Zeichen setzen, da wir nicht länger warten können. Mit der Kraft, die uns unsere verstorbenen Angehörigen geben, legen wir heute in der Villa Baviera, ehemals Colonia Dignidad, symbolisch den Grundstein der zukünftigen Gedenkstätte, die auch ein Ort der Trauer und der Erinnerung an unsere geliebten Angehörigen sein wird.

Wir laden alle Opferverbände ein, ähnliche Gedenksteine zu errichten, um diesem Ort des Schmerzes eine neue Bedeutung zu geben und ihn zu einem Ort des Friedens, einer Bildungs- und Dokumentationsstätte für die künftigen Generationen umzuwandeln. Nur so
kann ein NIE WIEDER! Wirklichkeit werden und einer Wiederholung solcher Verbrechen gegen die Menschheit Einhalt geboten werden.

 

Wahrheit, Gerechtigkeit, Erinnerung und Wiedergutmachung!
Beendet die Schweigepakte!
Beendet die Straflosigkeit und den Negationismus!
Errichtung der Gedenkstätte jetzt!

Logo de la Asociación de Familiares de Detenidos Desaparecidos
Logo der Vereinigung der Angehörigen der verschwundenen und ermordeten politischen Gefangenen aus der Region Maule in Chile. Foto: AFDD-EP

 

Erklärung auf Spanisch

 

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