von Luis Hernández Navarro, Mexiko-Stadt
(Mexiko-Stadt, 11. Oktober 2011, La Jornada).- Am kommenden Freitag den 21. Oktober wird in Mexiko das Ständige Tribunal der Völker TPP (Tribunal Permanente de los Pueblos) eingerichtet. Es soll sich mit der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen in Mexiko befassen und bis Ende 2013 oder Anfang 2014 fortbestehen. Dabei soll gezielt darauf geachtet werden, dass die Arbeit des Tribunals nicht für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert wird.
Gründung der Tribunals 1979
Das TPP wurde 1979 in Bologna gegründet. Aufgabe des nichtstaatlichen Tribunals ist es, Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen und die angezeigten Vorfälle rechtlich zu beurteilen. Als Vorbilder dienten das erste und zweite Russell-Tribunal (1966 bis 1967 zur Beurteilung der Verbrechen im Vietnamkrieg und 1974-1976 zu den Diktaturen in Lateinamerika). Die Gründung des TPP beruht auf der Idee, diese Grundsätze in eine ständige Institution einfließen zu lassen.
In Mexiko begann der Prozess vor zwei Jahren, als soziale, zivilgesellschaftliche und Menschenrechtsorganisationen sowie Einzelpersonen Kontakt zu der italienischen Lelio-Basso-Stiftung aufnahmen, die das TPP seinerzeit ins Leben gerufen hatte, und um die Einrichtung eines Tribunals in Mexiko baten.
Menschenrechtsverletzungen in Mexiko
Ihrer formalen Anfrage fügten die Antragsteller*innen zahlreiche Beweise für Menschenrechtsverletzungen auf mexikanischem Boden bei. Kürzlich stimmte das TPP dem Vorschlag zu, eine Akte mit Zeugenvernehmungen anzulegen und konkrete Berichte, die die in dem Antrag dargelegten Positionen festigen, zu sammeln, um eine formale Anklage auszuarbeiten. Diese soll vom Tribunal in einer abschließenden Sitzung Ende 2013 bzw. Anfang 2014 verhandelt werden.
Das Tribunal hat 130 Mitglieder, die vom Vorstand der Lelio-Basso-Stiftung für Menschenrechte und Freiheit der Völker ernannt werden. Bis heute ist es über 40 Mal zusammengekommen, um in zahlreichen Ländern über Verbrechen zu urteilen, die von Völkermord bis Umweltzerstörung reichen.
Ständige Instanz der Völker
Das Tribunal hat sich der Aufgabe verschrieben, als ständige Instanz den Völkern, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, eine Stimme zu geben und die Verbrechen sichtbar zu machen. Das Tribunal beruft sich bei seiner Arbeit auf die am 4. Juli 1976 in Algier verfasste Universelle Erklärung der Rechte der Völker. Es proklamiert das Recht der Völker auf freie Existenz und Selbstbestimmung.
Die Geschichte des TPP lässt sich anhand seiner Interventionen, der gesprochenen Urteile, der Entwicklung seines Konzepts oder seines juristischen Vorgehens nachzeichnen. Das Tribunal versteht sich nicht als Initiative, sondern als Instrument. Die Beiordnung „ständig“ hat weniger eine temporale Konnotation und dient insofern nicht dazu, die Dauer seines Bestehens auszudrücken, sondern verweist auf das Fortdauern seines Auftrags und seine beharrliche Arbeit.
Sieben Anhörungspunkte in der „Akte Mexiko“
Das TPP ist nicht nur ein Instrument, sondern auch eine Bühne, ein Raum für Erinnerungen, ein Mechanismus, der Unterdrückung und Unterdrückte sichtbar macht, ein Ort, an dem das Geschehene zur Sprache gebracht wird. Die „Akte Mexiko“ des TPP trägt den Titel „Freihandelsverträge, schmutziger Krieg, Straflosigkeit und Völkerrechte“. Es wurde vorgeschlagen, sieben Anhörungsverfahren mit jeweils einem der folgenden thematischen Schwerpunkte durchzuführen: Gewalt, schmutziger Krieg, Straflosigkeit und Zugang zum Justizsystem. Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen. Gewalt gegen Migrant*innen und erzwungene Migration. Arbeit, Prekarisierung und Deregulierung des Arbeitsmarkts, Verletzung kollektiver Arbeitsrechte. Angriffe auf den Mais, Gefährdung der Ernährungssouveränität und der Autonomie: die Angriffe der globalen Ernährungsindustrie auf das Leben von Landwirt*innen und Indígenas. Umweltzerstörung: die Auswirkungen der kapitalistischen Industrialisierung auf die von Indígenas bewohnten Gebiete und die Bevölkerung im Allgemeinen. Medien und ihre Möglichkeiten zur unabhängigen Berichterstattung.
Vorgänger: Internationales Kriegsverbrechertribunal
Vorgänger des TPP war das ursprünglich zur Aufdeckung von Kriegsverbrechen in Vietnam ins Leben gerufene Internationale Kriegsverbrechertribunal. In seiner Rede anlässlich der Gründung des Kriegsverbrechertribunals hatte der Vorsitzende Jean Paul Sartre erklärt, die Unterordnung der Rechte der Völker und der Menschenrechte unter die Interessen eines Staates sei nicht akzeptabel. Insofern stellten die Nürnberger Prozesse zur Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher des 2. Weltkriegs eine umwälzende juristische und politische Neuheit dar, auch wenn die Idee letztendlich scheiterte: Das Recht, einen Krieg zu führen, wird ausgetauscht gegen das Recht, einen Krieg zu verurteilen.
Da keiner der beteiligten Staaten daran interessiert gewesen sei, über koloniales Verhalten zu urteilen, sei der internationale Gerichtshof in Nürnberg längst verschwunden, so der Philosoph weiter. In Ermangelung einer gerichtlichen Kontrollinstanz habe man das Russell-Tribunal ins Leben gerufen, um einen moralischen Standpunkt zu den Kriegsverbrechen in Vietnam zu entwickeln.
Legitimation durch Autonomie
Die Gründung des Tribunals wurde nicht durch einen Staat oder eine Obrigkeit in Auftrag gegeben. Es besaß auch überhaupt keine eigene Macht. Aus genau dem Fehlen dieser Macht, aus seiner Unabhängigkeit und Universalität bezog das Tribunal jedoch seine Legitimation. Es handelte nicht auf Anweisung von Regierungen oder Parteien. Seine Mitglieder beurteilten die Vorfälle nach ihrem Herzen und ihrem Gewissen. Sie waren keine Staatsanwälte, und sie verhängten keine Sanktionen. Ihre Legitimation erfolgte nachträglich anhand der Ergebnisse, und zwar in dem Maße, in dem die Völker mit ihrem Urteil übereinstimmten. Auch heute noch liegen dem TPP diese Prinzipien zugrunde.
Das Tribunal bedient sich juristischer Mechanismen, die das neoliberale Modell von Grund auf kritisch hinterfragen und sich nicht in den Dienst von Machtstrukturen stellen. Es beruft sich auf die internationalen Menschenrechtskonventionen, ohne sich von den Interessen der politischen Machthaber beschränken zu lassen. Eine der Grundideen ist, dass Menschenrechte rechtlich einforderbar sind und der Kampf um ihre Umsetzung mit juristischen Mitteln gewonnen werden kann. In seiner Urteilsfindung bezieht sich das TPP auf die internationalen Menschenrechtskonventionen.
Geltendes Recht in die Pflicht nehmen
Die von ihm gesprochenen Urteile sind nicht rechtlich bindend. In der Arbeit des TPP spiegelt sich vielmehr das ethische Gewissen der Völker. Das geltende Recht in die Pflicht zu nehmen, um Erinnerung sichtbar zu machen, ist Teil der Grundidee.
Straflosigkeit ist kein ausschließlich gerichtliches Phänomen. Voraussetzung für die Bekämpfung der Straflosigkeit ist der Wille, die Wahrheit ans Licht zu bringen, Gerechtigkeit walten zu lassen und die Völker, deren Grundrechte verletzt wurden, angemessen zu entschädigen. Und genau dazu hat man sich in Mexiko entschlossen.
[Der Artikel erschien am 11. Oktober 2011 in der mexikanischen Tageszeitung “La Jornada”.]
Tribunal Permanente de los Pueblos: Ein Gewissenstribunal für Mexiko von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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