Poonal Nr. 526

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen vom 11. Juni 2002

Inhalt


MEXIKO

PARAGUAY

BRASILIEN

KOLUMBIEN

GUATEMALA

URUGUAY

ECUADOR

HONDURAS

ARGENTINIEN


MEXIKO

Ericka Zamora frei – ERPI-Gefangene weiter im Hungerstreik

(Mexiko-Stadt, 10. Juni 2002, poonal).- Ericka Zamora und Efrén Cortés Chávez sind am 30. Mai aus dem Gefängnis entlassen worden. Die beiden waren wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in der Guerilla-Gruppe Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente (ERPI) sowie illegalen Waffenbesitzes in erster Instanz zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sie wurden am 7. Juni 1998 beim Massaker von El Charco verhaftet. Mexikanische Sicherheitskräfte erschossen damals elf Menschen und nahmen 22 fest, die gerade an einer Versammlung zur Organisierung einer Alphabetisierungskampagne im mexikanischen Bundesstaat Guerrero teilgenommen hatten. Auf dem Treffen sollen sich auch Mitglieder der ERPI befunden haben.

Das Urteil gegen die beiden wurde nun in zweiter Instanz aufgehoben, nach dem sie bereits vier Jahre im Knast saßen. Ericka Zamora hatte sich zum Zeitpunkt ihrer Freilassung schon über 20 Tage in einem Hungerstreik befunden. Um eine „bundesweite Amnestie für alle politischen Gefangenen“ in Mexiko durchzusetzen, ist auch Jacobo Silva Nogales, einst „Comandante Antonio“ der ERPI, seit über 50 Tagen im Hungerstreik. Seine Lebensgefährtin Gloria Arenas Agis, „Coronela Aurora“, sowie rund 20 gefangene Bauern aus Guerrero haben sich der Aktion angeschlossen. Auch ihnen werfen die Behörden vor, dem ERPI angehört zu haben.

Silva und Arenas, deren Verhaftung 1999 als wichtigster Schlag gegen die Gruppe galt, sollen 1996 an einem Hinterhalt auf ein Militärfahrzeug teilgenommen haben – ein Vorwurf der einzig auf unter Folter erzwungenen Aussagen basiert. Silva, dessen Gesundheitszustand in der vergangenen Woche zunehmend bedrohlicher wurde, hat indes angekündigt, an seinem Hungerstreik festzuhalten: „Was auch immer passiert, ich werde nicht davon abweichen, die Hoffnung auf meine Freiheit zu stärken.“

27 Menschen starben bei einem Massaker in Oaxaca

Von Wolf-Dieter Vogel

(Mexiko-Stadt, 10. Juni 2002, poonal).- 27 Menschen starben am 31. Mai bei einem Überfall in der Sierra Sur im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Unbekannte hatten den Lastwagen der Arbeiter in der Nähe des Ortes Aqua Fria gestoppt und das Feuer eröffnet. Die Männer aus dem zapotekischen Dorf Santiago Xochiltepec waren gerade auf dem Heimweg von der Arbeit. Lediglich drei Personen überlebten den Angriff.

Erklärungen waren schnell zur Hand. Oaxacas Generalstaatsanwalt Sergio Santibáñez hatte gleich mehrere Motive parat: Illegaler Holzabbau, Drogenhandel, Landkonflikte. José Murat Casab, der Gouverneur des Bundesstaates, verwies auf die soziale Lage in der Region. Die Menschen „sind so arm, dass sie sich umbringen, um etwas zu erreichen,“ ließ der Politiker vergangene Woche wissen.

Die mexikanischen Sicherheitsbehörden reagierten ungewöhnlich schnell: Kaum hatte man von dem Blutbad erfahren, ließen sie die gesamte Zone von Soldaten umstellen. Die Bundesregierung in Mexiko-Stadt schickte gleich zwei Elitetruppen der Polizei in die Sierra Sur, 66 Beamte der Staatsanwaltschaft reisten aus der Landeshauptstadt Oaxaca an. Schon am darauffolgenden Tag nahmen die Polizisten 17 Bewohner des nahegelegenen Dorfes Santo Domingo Teojomulco als Verdächtige fest.

Dass die Beschuldigten tatsächlich hinter dem Massaker stecken, wird in Teojomulco heftig bestritten. Die Festnahmen seien eine „verzweifelte“ Antwort des Gouverneurs Murat, „um sich aus der Verantwortung zu ziehen und sich selbst reinzuwaschen“, sagt Gemeindesprecher Laurencio Gutiérrez. Am vergangenen Sonntag (9. Juni) sind fünf der Gefangenen wegen der „willkürlichen Festnahmen“ in den Hungerstreik getreten.

Doch nicht nur in Teojomulco, dem einzigen mestizischen Dorf der Region, hält man wenig von den Verlautbarungen aus Oaxaca und Mexiko-Stadt. Vertreter aus 15 Gemeinden des „Forstforums Sierra Sur“ erklärten in einem offenen Brief an Präsident Vicente Fox und Gouverneur Murat, dass „weder in unseren Kommunen noch in der Region“ Drogenhandel oder „illegale Geschäfte mit Forstprodukten“ existierten. Murat müsse endlich „gegen die wirklich Verantwortlichen ermitteln,“ forderte Sprecher Nicolás Sánchez Sánchez, obwohl zahlreiche der indigenen Gemeinden schon seit über 60 Jahren im Streit mit den Mestizen von Teojomulco liegen.

Ungeklärte Nutzungsverhältnisse sorgen seit 1941 regelmäßig für harte Auseinandersetzungen. In deren Folge starben mindestens 100 Menschen. Nicht zuletzt deshalb steht nun nach dem Massaker von Aqua Fria das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (Semarnat) im Zentrum der Kritik. Semarnat habe Genehmigungen zur Rodung in der umstrittenen Zone bewilligt und damit den Hass erst geschürt, wirft Oaxacas Gouverneur Murat der bundesstaatlichen Behörde vor. Eine Kritik, die das Umweltministerium zurückweist. Man habe nur Erlaubnisse für Grundstücke erteilt, in denen es keine Agrarkonflikte gebe. Auch Gemeindesprecher Gutiérrez aus Teojomulco hält an seiner Kritik gegen die Ermittler fest. Ja, es habe viele Auseinandersetzungen mit den Leuten aus Santiago Xochiltepec gegeben, aber die Behauptungen der Regierung, hinter dem Überfall stünde ein Streit zwischen den beiden Kommunen über die Nutzung eines Edelholzgebietes, sei „absurd“.

Wer auch immer an diesem 31. Mai geschossen hat, für Octavio García, den evangelischen Pfarrer von Teojomulco, sitzen die Verantwortlichen ohnehin woanders. Seit Murat von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) 1998 an die Macht gekommen sei, wisse er von den Konflikten in der Sierra Sur. Die Menschenrechtsorganisation Barca habe der Bundesregierung und auch Murat regelmäßig Informationen gesandt. „Aber die Antwort war immer die Gleiche: Schweigen,“ berichtet Garcia.

Ähnliche Erfahrungen machte auch Domingo Hernández Sánchez, der Präsident der Organisation „Vereinigte Dörfer der Sierra Sur“. Schon Mitte März, so erinnert sich Hernández, hätten die Verwaltungen der betroffenen Dörfer ein amtliches Schreiben an Murat geschickt, in dem sie ihre Besorgnis über einen möglichen „bewaffneten Angriff der Nachbarn aus Santo Domingo Teojomulco“ zum Ausdruck brachten. Auch diese Warnung wurde von den Behörden ignoriert. „Warum haben sie keine Polizisten geschickt, als wir sie darum gebeten haben,“ fragen sich nun die Witwen aus Xochiltepec.

Pfarrer García liefert eine simple Erklärung. Die Regierung wolle „die Gewaltbereitschaft in den Kommunen am Leben halten“. Auch die Menschenrechtsorganisationen „Centro de Derechos Humanos Miguel Agustin Pro Juárez“ macht die Landesregierung von Oaxaca für das Massaker verantwortlich. Sie habe durch ihr Nichthandeln die unsichere Situation für die indígenen Kommunen verstärkt. Die Menschenrechtler werfen noch eine weitere Frage auf: Woher hatten die mutmaßlichen Täter jene schwere Armeewaffen, die am Tag danach beschlagnahmt worden waren? Und warum ausgerechnet jetzt die Region so militarisiert? Pfarrer García verweist darauf, dass es in der Region viele Interessen gebe. Hinter dem Massaker könnten politische Interessen stecken, „möglicherweise von Fremden, die eine Situation der sozialen Instabilität schaffen wollen“.

Tatsächlich spielt die Region eine zunehmend größere Rolle, seit Präsident Fox im vergangenen Jahr seinen „Plan Puebla Panamá“ (PPP) bekannt gegeben hat. Die südmexikanischen Bundesländer sollen demnach mit den mittelamerikanischen Staaten zu einem „Entwicklungskorridor“ zusammengefasst werden. Fox träumt von einer Freihandelszone, in der billige Arbeitskräfte Investoren für Weltmarktfabriken anziehen und zahlreiche Pflanzen den Pharmamultis neue Patente ermöglichen sollen. Oaxaca, eines der ärmsten Länder Mexikos, ist hier von besonderer geostrategischer Bedeutung. Im Istmus von Tehuantepec, wo nur 300 Kilometer den atlantischen Golf von Mexiko von der pazifischen Küste trennen, soll eine Frachtverbindung geschaffen werden, um den Panama-Kanal zu entlasten. Zudem zählt die Gegend zu den wertvollsten Rohstoffregionen. Im Norden etwa lagern rund 90 Prozent der mexikanischen Ölvorkommen.

Doch neben den angrenzenden Bundesstaaten Chiapas und Guerrero gilt Oaxaca auch als einer der wichtigsten Schauplätze des Widerstandes. Im Westen werden noch immer Guerilleros und Guerilleras des EPR, der „Revolutionären Volksarmee“ vermutet, im Istmus von Tehuantepec organisieren sich zahlreiche indígene Gemeinden gegen den PPP, in dem sie ein Projekt sehen, das mehr als 65 Millionen Menschen „zur Armut verurteilt“. Ebenso wie in Chiapas stehen sie den Plänen aus dem Präsidentenpalast erheblich im Weg, und ebenso wie dort wird man ihnen letztlich nur mit militärischer Gewalt beikommen können.

Naheliegend also, dass nach dem Massaker von Aqua Fria Parallelen gezogen werden. Etwa mit jenem Angriff paramilitärischer Einheiten vom Dezember 1997, bei dem im chiapanekischen Actéal 45 Indígenas ermordet wurden. Heute zweifelt niemand mehr daran, dass staatliche Stellen in das Verbrechen involviert waren, während damals nur von Streitigkeiten verschiedener Bevölkerungsgruppen die Rede war. Die Folge: Tausende von Militärs wurden ins rebellische Chiapas verlegt, um, wie es hieß, für Sicherheit in der Region zu sorgen.

PARAGUAY

Die Regierung von González Macchi gerät ins Schwanken

Von Marlon Carrión C.

(Asunción, 7. Juni 2002, alai-poonal).- Nach einer dreiwöchigen ununterbrochenen Protestwelle, die sich über das gesamte Land erstreckte, versucht die Regierung von Präsident Luis González Macchi nun, die Lage unter Kontrolle zu bringen und die öffentliche Ordnung wieder herzustellen.

Schritt für Schritt nahm das Regierungsoberhaupt von seinen bisher geplanten Änderungen Abstand, um sich an der Macht zu halten. Zunächst zog der Kongress einige Gesetzesvorhaben zurück: ein von der US-Botschaft in Asunción eingefordertes Antiterror-Gesetz, ein Gesetz zur Fusion der staatlichen Banken, das diese zur Privatisierung freigeben sollte und von der Regierung in Zusammenarbeit mit der Interamerikanischen Entwicklungsbank erarbeitet worden war, sowie ein Gesetz zur Privatisierung des paraguayischen Straßennetzes. Weiterhin wurde von der Erhebung einer Mehrwertsteuer auf landwirtschaftliche Produkte abgesehen, die vom Finanzministerium gefordert worden war.

Angesichts dieser Entscheidungen beschloss der Demokratische Volkskongress, die Straßenblockaden zu beenden. Allerdings warnte man davor, dass man wachsam und in permanenter Mobilisierung bleiben werde, um auch die noch ausstehenden Punkte des Forderungskatalogs durchzusetzen: die Streichung des Allgemeinen Privatisierungsgesetz 1615 und die Ablehnung des Verkaufs der Paraguayischen Telekommunikationsgesellschaft Copaco.

Die Bauernverbände hatten jedoch eigenständig entschieden, ihren Protest nach Asunción zu tragen. Sie organisierten einen Sternmarsch auf die Hauptstadt. Die Regierung reagierte, in dem sie das Militär zur Unterstützung der Polizei mobilisierte. Die darauf folgenden Zusammenstöße waren unvermeidbar. Vor der Stadt Coronel Oviedo, 150 km östlich von Asunción, eröffneten am Abend des 4. Juni etwa 400 Polizisten das Feuer auf die Bauern. Der Bauer Calixto Cabral wurde durch die Schüsse getötet, ein anderer schwer verletzt. Zudem gab es weitere leichte Schussverletzungen und Dutzende von Verhaftungen.

Die Reaktion der Bevölkerung und der im Demokratischen Volkskongress zusammengeschlossenen Organisationen ließ nicht auf sich warten. Die Proteste wurden ausgeweitet und der Rücktritt des Innenministers, Francisco Oviedo, und des Generalstaatsanwalts, Oscar Latorre, gefordert. Sie seien die direkten Verantwortlichen für die Repression der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten.

Macchi wich daraufhin einen weiteren Schritt zurück und verfügte bis auf weiteres die Aussetzung des Verkaufverfahrens der staatlichen Telefongesellschaft. Das aber führte dazu, dass ihn seine Parteigänger für einen schwächlichen Staatsmann halten, der dem Druck der Straße nicht standhält und unfähig sei, das Land in kritischen Situationen zu regieren.

Der Präsident der Zentralbank von Paraguay beklagte sich über die Entscheidung des Staatsoberhauptes und wies darauf hin, dass der Nicht-Verkauf von Copaco die Abkommen mit dem IWF gefährden werde. Dies würde die seit 1995 andauernde wirtschaftliche Krise noch verschärfen.

Schon wurde die Forderung nach einem Amtsenthebungs-Verfahren und der Absetzung von González Macchi gestellt. Ein entsprechender von der oppositionellen Radikalen Liberalen Partei (Partido Liberal Radical Auténtico) des Vizepräsidenten Julio Franco eingebrachter Antrag wurde von einzelnen Abgeordneten der regierenden Colorado-Partei sowie den Parteien País Solidario und Patria Querida getragen. Hunderte Bauern, Indígenas, Lehrer, Studenten, Arbeiter, Angestellte und Delegierte von Volksbewegungen und Gewerkschaften haben den Platz gegenüber dem Kongresshaus in Asunción besetzt. Sie fordern ebenfalls den Rücktritt des Colorado-Präsidenten, dem sie Korruption und Unfähigkeit bei der Führung der Staatsgeschäfte vorwerfen.

Nach dem Blutvergießen hatte sich auch der Gewerkschaftsdachverband CNT aktiv den Protesten angeschlossen und zunächst den unbefristeten Generalstreik ausgerufen. Die Regierung und der Kongress wurden aufgefordert, von weiteren Versuchen abzusehen, die noch vorhandenen staatlichen Betrieben zu verkaufen, die Repression zu beenden und die Schuldigen am Tod von Calixto Cabral zu bestrafen. Zusätzlich wurde die Beendigung des Streikes an die Bestrafung der Verantwortlichen, die aus dem Verkauf der Telefongesellschaft Copaco Profit ziehen wollten, geknüpft.

Dann warteten die Arbeiter das Ergebnis der Entscheidung über das Privatisierungsgesetz 1615 ab – und gewannen: der Kongress beschloss, das Gesetz aufzuheben, mit dem die rechtliche Grundlage für den Ausverkauf der Telefongesellschaft, der Wasserversorgung und der Eisenbahn geschaffen wurde. Ein Gesetz, das mit nach Korruption stinkenden Verfahren verabschiedet wurde. Mit dieser Entscheidung verhinderten die Abgeordneten den Generalstreik.

BRASILIEN

Brasilien führt Quoten für Schwarze ein. Erster Schritt gegen rassistische Diskriminierung im Erwerbsleben und an Universitäten

Von José Pedro Martins

(Sao Paulo, 8. Juni 2002, npl).- Öffentliche Einrichtungen in Brasilien haben begonnen, Quoten für Schwarze bei der Besetzung freier Stellen einzuführen. In dem südamerikanischen Land sind 38 Prozent Mulatten und knapp sechs Prozent Afrobrasilianer, die entgegen weitläufigen Auffassungen in fast allen Lebensbereichen benachteiligt werden. Trotz einiger Kritik auch von Schwarzenorganisationen wird die Quotierung in Brasilien als Schritt hin zu weniger Diskriminierung zumeist begrüßt.

Als erste verkündeten das Landwirtschaftsministerium und das Oberste Bundesgericht (STF), dass von den seit Anfang 2002 neu zu besetzenden Stellen 20 Prozent schwarzen Bewerbern vorbehalten seien. Im akademischen Bereich sind es bereits sechs Universitäten, davon allein zwei im Bundesstaat Rio de Janeiro, die eine Quotenregelung von bis zu 40 Prozent bei der Vergabe von Studienplätzen eingerichtet haben. Andere Hochschulen debattieren derweil die sinnvollste Art und Weise, mit Quoten der Diskriminierung vorzubeugen.

Besonders intensiv wird an der Bundesuniversität von Bahia, dem Bundesstaat mit den meisten Nachfahren der afrikanischen Sklaven, diskutiert. Unter den Studenten medizinischer Fächer machen Weiße über 85 Prozent, in den Sprachwissenschaften noch immer gut 70 Prozent aus. Mehrere Organisationen der Schwarzenbewegung beteiligen sich hier an der Suche nach einem gerechten Quotensystem.

Die bislang freiwilligen Quoten sollen, so der Plan des Ex-Präsidenten und heutigen Senators José Sarney, bald auch Gesetz werden. Doch sein Gesetzesvorschlag, den er im Namen der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) eingebracht hat, stößt auch auf Kritik, insbesondere bei der Frage, wer Zugang zu den Quoten haben soll. Sarneys Vorschlag, dass Bewerber durch ein offizielles Dokument als Schwarze ausgewiesen werden sollen, weisen Vertreter der Schwarzenbewegung als stigmatisierend zurück. Sie meinen, dass es ausreiche, wenn sich ein Bewerber selbst als schwarz bezeichne. „Angesichts der immensen Vermischung in Brasilien ist es unmöglich festzulegen, wer schwarz ist und wer nicht,“ erklärt Vicente Paulo da Silva, Veteran des Gewerkschaftsverbandes CUT, die Problematik.

Ein weiterer Streikpunkt ist der Umfang der Quoten, von denen die bislang Diskriminierten profitieren sollen. Sowohl Marco Aurélio Mello, Präsident des Obersten Bundesgerichts, als auch Agrarminister Raul Jungmann sind der Ansicht, dass die in ihren Einrichtungen zuerst eingeführten 20 Prozent zu niedrig seien. „30 Prozent wäre gerechter, da mindestens 40 Prozent der Bevölkerung Schwarze sind,“ begründet Mello und ergänzt: „Dennoch, das Wichtige ist, dass wir nicht mehr bei Null Prozent sind.“

Die Diskriminierung der Afrobrasilianer zeigt, dass die „Rassendemokratie“, von der in Brasilien so gern gesprochen wird, ein Mythos ist. Dies wird schon im öffentlichen Sektor offensichtlich: Nur 4,37 Prozent der Kongressmitglieder sind Schwarze, von den 77 Richtern an höheren Gerichten gerade mal einer. Von den 970 Bundesrichtern sind über 90 Prozent Weiße, und auch bei der Kirche stehen sechs schwarze Bischöfe mehr als 300 Weißen gegenüber.

Die Zahlen im sozialen Bereich sind ähnlich. Unter Afrobrasilianern und Mulatten beträgt der Analphabetismus 20, unter Weißen nur 8,3 Prozent. Im Durchschnitt gehen schwarze Jugendliche 4,5 Jahre, ihre weißen Altersgenossen aber 6,7 Jahre zur Schule.

Befürworter der Quotenregelung sagen, die Reservierung von Studienplätzen für Schwarze sei eine Form, die historische Ungerechtigkeit wieder gutzumachen. Derzeit studieren an staatlichen und privaten Hochschulen lediglich 13,5 Prozent Mulatten und gerade mal 2,2 Prozent Afrobrasilianer.

Der Bundesabgeordnete Alceu Colares von der Demokratischen Arbeiterpartei (PDT) bringt es auf den Punkt: „Quoten sind nicht die Lösung, sondern die Anerkennung einer sozialen Schuld, die Brasilien mit seiner schwarzen Bevölkerung hat.“ Allerdings, fährt Colares fort, könne die Quotenfrage eine große Debatte über Rassismus auslösen, die die brasilianische Gesellschaft davon überzeugt könnte, das viele Veränderungen insbesondere in der Erziehung notwendig sind, um Gleichheit zu ermöglichen.

KOLUMBIEN

Verschwundene Gelder

(Bogotá, 4. Juni 2002, na-poonal).- Die US-amerikanische Regierung hat kürzlich einen Teil ihrer Gelder zur Unterstützung der kolumbianischen Antidrogenpolizei zurückgezogen, nachdem die Veruntreuung „einer bedeutenden Summe“ von schätzungsweise zwei Millionen Dollar entdeckt worden war. Die entwendeten Gelder waren Teil des sogenannten „Plan Colombia“, der insgesamt eine Milliarde Dollar umfassenden Antidrogeninitiative der US-amerikanischen Regierung.

General Gustavo Socha, Chef der Antidrogenpolizei, bestätigte, dass Ermittlungen laufen und bereits sechs Offiziere vom Dienst suspendiert worden seien. Gegen weitere fünfzehn werde ermittelt. Präsident Andrés Pastrana gab zu verstehen, man werde „bei der Suche nach den Verantwortlichen nicht zimperlich sein, und nicht zögern, sie die volle Härte des Gesetzes spüren zu lassen“.

Der Skandal flog auf, als im US-Kongress darüber debattiert wurde, ob die Verwendung der Gelder ausschließlich dem Krieg gegen die Drogen vorbehalten oder auch zur Bekämpfung von bewaffneten Gruppen in Kolumbien, von denen vermutet wird, dass sie sich durch das Drogengeschäft finanzieren, ausgeweitet werden sollte.

GUATEMALA

Wirtschaftspolitische Interessen bedrohen Campesino-Gemeinschaften

(Guatemala-Stadt, 4. Juni 2002, cerigua-poonal).- Der Nationale Dachverband der Campesino-Organisationen (CNOC) verurteilt die drohende Vertreibung der 32 Gemeinschaften der Gemeinde Chinique in Quiché durch wirtschaftlich starke und politisch einflussreiche Personengruppen, sagte Marcos García auf einer Pressekonferenz. Die Gemeinde verhandelt seit über 28 Jahren über den Kauf des von ihnen besetzten und bewirtschafteten Landes.

García, der Mitglied der CNOC ist, erklärte, es gäbe eine Gruppe von Leuten, die sich zur Organisation „Bruderschaft Chinique“ zusammengeschlossen habe. Deren Ziel sei es, 946 Indígena-Familien von dem von ihnen bewohnten Land zu vertreiben. Es handele sich um einen seit mehr als 28 Jahren bestehenden Konflikt, der in den letzten Monaten jedoch eine gefährliche Wendung genommen habe, da den Gemeinden nun mit Vertreibung gedroht werde.

Landpastor Marco Tulio Gramajo bezeichnet den Konflikt als Zeitbombe und erinnert an die nur ein Jahr zurückliegende Vertreibung einer Gruppe von Campesinos aus Chajul in Quiché. Diese wurden von ehemaligen Mitgliedern der inzwischen nicht mehr existierenden Bürgerwehr-Patrouillen sowie ehemaligen Soldaten gezwungen, ihr Land zu verlassen. Dabei hatte sie ihr Land legal abgesichert bewohnt.

Gramajo erläuterte, die Betroffenen hätten sich zwar bemüht, den Landfonds (Fontierras), die Regierungsstelle zur Lösung von Landkonflikten (Contierra), den Nationalen Friedensfonds (Fonapaz) sowie das Sekretariat für strategische Analysen (SAE) und nicht zuletzt den guatemaltekischen Präsidenten selbst in dieser Angelegenheit einzuschalten. Diese hätten jedoch darauf verwiesen, dass allein die zuständige Gemeinde als autonome Einheit zuständig und ihnen jegliche Intervention unmöglich sei.

Der zu den betroffenen Gemeinschaften gehörende Vorsitzende der Gesellschaft für umfassende Entwicklung (Asociación de Desarrollo Integral), Francisco García, informierte darüber, dass sie schon seit 28 Jahren erfolglos bei der Gemeinde um den Kauf des Landgutes Patio de Bolas Copón kämpfen. Die Gemeinde habe einen Preis von 150 000 Quetzal festgelegt. Der Vorschlag der Gegenseite belief sich jedoch , auf nur 60 000 Quetzal, nachdem man Gutachten erstellt und die bisherigen Investitionen im Wert von knapp eineinhalb Millionen Quetzal berücksichtigt hatte.

Zuletzt hatten die 32 bedrohten Gemeinschaften einen Aufruf an die für die Lösung von Landproblemen zuständigen Behörden gestartet, um einen landesweiten Notruf zu lancieren und eine Lösung zu erwirken, bevor es zu gefährlichen Vorfällen kommt.

URUGUAY

Verhandlungen mit dem IWF

(Montevideo, 1. Juni 2002, comcosur-poonal).- Während Industrielle und Bäuer*innen, Arbeiter*innen und Opposition und sogar die nationale Allianz des mitregierenden „Partido Nacional“ die Ankurbelung des Produktionssektors fordern, kündigte die Regierung unter Präsident Jorge Batlle andere Pläne an. Beinahe die gesamte Summe von 3 Milliarden US-Dollar, die der Internationale Währungsfond (IWF) dem Land gewährt hatte (dank der gegen Kuba gerichteten Stellungnahme vor der UNO und der Verabschiedung des neuen Gesetzes zur Finanzanpassung) soll demnach für die Zahlung der Auslandsschuld und zur finanziellen Stärkung privater und staatlicher Banken eingesetzt werden.

Am vergangenen Mittwoch forderte die Industrie- und Handelskammer Uruguays eine sofortige Wiederbelebung des Produktionssektors. Die Regierung habe „es nicht geschafft, notwendige Bedingungen dafür zu schaffen, dass Uruguay als geeigneter Ort für Investitionen angesehen wird.“ Die Unternehmer*innen meinen, dass die Regierung des „Partido Colorado“ und des „Partido Nacional“ „vollkommenes Desinteresse an der Unterstützung des starken und wettbewerbsfähigen produktiven Sektors an den Tag gelegt hätte, der durchaus Zukunftsperspektiven“ habe. Aufgrund dieser Überzeugung hat der Arbeitgeberverband bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank einen Kredit beantragt, um den Bereich selber zu beleben.

Bezüglich des Gesetzes zur finanziellen Anpassung, das vor wenigen Tagen vom Parlament verabschiedet worden ist, sagte der Berater in Wirtschaftsfragen des oppositionellen „Encuentro Progresista“, der Wirtschaftswissenschaftler Walter Cancela, gegenüber der Tageszeitung „La República“, dass „diese Art von Anpassung nicht ausreichen wird, um das Defizit auszugleichen, weil seine negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft in den Berechnungen der Regierung nicht berücksichtigt werden“. Cancela äußerte auch seine Besorgnis über die fehlende Öffentlichkeit bei den Verhandlungen zwischen dem IWF und der Regierung. Vor der Ankunft der Delegation des IWF erklärte er, es sei „unklar, welches die neuen Ziele und Kompromisse sein werden, die die Regierung auf sich nehmen werden müssen.“

Der unwissende Außenminister der Diktatur

(Montevideo, 1. Juni 2002, comcosur-poonal).- Juan Carlos Blanco, Außenminister während der Diktatur von Juan María Bordaberry, sagte gestern im Prozess aus, in dem er beschuldigt wird, der Drahtzieher des Verschwindenlassens der politischen Gefangenen Elena Quinteros im Jahre 1976 gewesen zu sein.

Wie zu erwarten war, bestritt der Ex-Senator und jetzige Kolumnist der Tageszeitung „El Observador“, in diese Vorfälle verwickelt gewesen zu sein. Aufgrund seiner Eigenschaft als Zivilist fällt er nicht unter das Immunitätsgesetz, das nur bei Polizist*innen und Militärs Anwendung findet. „Ich hatte damit nichts zu tun und wer etwas anderes behauptet, der lügt.“, sagte er empört nach dem Gerichtstermin. Im Anschluss an seine Aussage erklärte sein Anwalt, dass er beim zuständigen Gericht beantragt habe, von der Kommission für den Frieden alle den Fall betreffenden Informationen überstellt zu bekommen.

Blanco war uruguayischer Außenminister zwischen 1972 und 1976. In diesen Jahren verschwanden die meisten Personen und wurden die meisten Oppositionellen ermordet. Dies geschah sowohl in Uruguay als auch in Argentinien, und zwar im Rahmen des berüchtigten „Plan Condor“. Dennoch will der Mann von alledem nichts gewusst haben.

ECUADOR

Holzfirmen machen Druck gegen Awas

(Quito, 24. Mai 2002, recosur-poonal).- Die 21 indigenen Gemeinden der Föderation der Awa in Ecuador besitzen einen Rechtstitel auf 120 000 Hektar im Nordwesten Ecuadors, die als Awa-Gebiet bekannt sind und auf denen die letzten Choco-Wälder Ecuadors stehen. Diese Wälder sind auf internationaler Ebene als eines der Gebiete mit der höchsten Biodiversität auf dem Planeten anerkannt. Die Awa-Föderation ist Partner des Projekts „Ökoregion Choco“ des World Wildlife Fonds (WWF).

Seit 1998 führt die Awa-Föderation ein eigenes Projekt der gemeinschaftlichen Waldnutzung durch. Die Awa fällen monatlich nur 5 bis 7 Bäume und benutzen dazu innovative Techniken mit Luftkabeln. Sie verarbeiten das Holz selbst und verkaufen es ohne Zwischenhändler direkt an eine Firma in Quito weiter.

Während die Awa ihr Waldprojekt entwickeln, haben verschiedene Holzfirmen, die Interesse an dem Waldgebiet haben, gesetzwidrig den Druck auf die Awa verschärft, damit diese ihnen ihr Holz verkaufen. Während der vergangenen sechs Monate sind diese Firmen mehrere Male illegal in das Awa-Gebiet eingedrungen. Die Awa-Föderation hat mehrere Strafprozesse gegen die Firmen angestrengt, aber alle verloren, weil es den Unternehmen gelingt, Beamte des Umweltministeriums und lokale Richter zu bestechen. Mehrere dieser Fälle werden derzeit von der Bürgerkommission zur Kontrolle der Korruption untersucht.

Seit mehreren Jahren zeigt die Awa-Föderation diese Fälle beim Umweltministerium an. Das aber gestand offen seine Unfähigkeit ein, die Bestechlichkeit seiner eigenen Beamten unter Kontrolle zu bringen. Den Awa bot das Ministerium keinerlei konkrete Unterstützung an, um den illegalen Holzeinschlag und den dauernden Druck der Holzfirmen zu beenden. Wenn die Regierung Ecuadors nicht eingreift und die Korruption und den illegalen Holzeinschlag beendet, wird die Awa-Föderation dem Druck der Holzunternehmen wohl kaum noch länger standhalten können.

HONDURAS

Journalistin wegen Spionage angeklagt

(Tegucigalpa, 26. Mai 2002, comcosur).- Die Journalistin Sandra Maribel Sánchez von Radio América muss sich seit Anfang dieser Woche mit zwei Haftanträgen und einer ausländerrechlichen Untersuchung auseinandersetzen. Sie soll spioniert und ihren Beruf ohne gesetzliche Grundlage ausgeübt haben. Der Fall wird vor dem Ersten Strafgericht in Tegucigalpa erörtert. Dort stellten die Anwälte der ehemaligen Obersten Rechnungsprüferin Vera Rubí im vergangenen Februar Strafanzeige, nachdem Sánchez eine Aufnahme verbreitet hatte, die das moralische Ansehen der ehemaligen Beamtin belastet.

Sánchez, die nachdrücklich für die Kontrolle öffentlicher Macht einsteht, erfuhr erst an diesem Freitag von dem Verfahren, das in den Händen von Richterin Mildra Castillo lag. Diese wurde in den vergangenen Wochen bekannt, weil sie zahlreiche ehemalige Beamte, die wegen Korruption angeklagt waren, freigelassen hatte. Auch wenn Richterin Castillo den Fall aus nicht näher erläuterten Gründen abgab, geht das Verfahren, das die Journalistin einschüchtern soll, weiter. Es liegt jetzt in den Händen von Richter Nery Velásquez, der entweder sofort über die beantragten Haftbefehle entscheiden oder zunächst den Hintergrund des Falls untersuchen wird, in dem es um das Ausspionieren von Beamten durch staatliche Institutionen und die Pflicht für Journalist*innen zur Mitgliedschaft in einer Berufsvereinigung geht.

Beide Anklagen stellen schwere Verletzungen der bürgerlichen Rechte dar, nämlich des Rechts auf Information und auf freie Meinungsäußerung. In diesem Punkt stimmt das Komitee der Angehörigen von Verhaftet-Verschwundenen in Honduras (COFADEH) der Einschätzung des geschäftsführenden Direktors von Human Rights Watch, Miguel Vivanco, zu, dass „ein Land, das zulässt, dass seine Beamten Strafanzeigen gegen Journalisten stellen wegen deren Informationsarbeit, die freie Meinungsäußerung aller seiner Bürger in Gefahr bringt.“

Nicht zum ersten Mal schaltet ein Beamter die Gerichte gegen die Journalistin Sánchez ein. 1996 tat dies der ehemalige Präsident des Nationalen Wahlgerichts, Enrique Ortez Sequeira, nach dem die Reporterin von mutmaßlichen gesetzwidrigen Handlungen des Politikers bei der Beflaggung von Schiffen und dem Verkauf honduranischer Staatsangehörigkeiten an Ausländer berichtete.

ARGENTINIEN

Zwischen Chaos und Krieg – der Exodus der argentinischen Juden

Von Fernanda Sández

(Buenos Aires, 3. Mai 2002, sem-poonal).- „Ich will nicht weg, aber ich habe keine Alternative“ sagt die 39 Jahre alte Cinthia Ch., die in zwei Monaten ihre Heimat Argentinien verlassen und nach Israel, dem Land ihrer Vorfahren auswandern wird. „Warum sollte ich bleiben? Nein, besser gehe ich jetzt, wo es noch nicht zu spät ist“, fährt sie überzeugt fort. Noch nicht einmal der Krieg stellt ihre Entscheidung in Frage. „Wir leben hier auch im Krieg und, schlimmer noch, müssen gegen viele Feinde gleichzeitig kämpfen. Denn hier wirst du nicht nur von Verbrechern umgebracht, sondern die Politiker rauben dir die Zukunft und die Banken dein Geld. Ist das etwa nicht auch eine Kriegssituation?“, fragt Cinthia.

Cinthia ist nicht die Einzige, die gegen alle Widrigkeiten davon träumt, in den krisengeschüttelten Nahen Osten zu reisen. Argentinische Frauen, Männer, Kinder und ganze Familien jüdischer Herkunft sind bereit, das verlockende Angebot vom anderen Ende der Welt anzunehmen. Sie wollen unter guten Bedingungen nach Israel auswandern, um einer Krise zu entkommen, deren Ende nicht in Sicht ist. Kostenloser Hebräisch-Unterricht für sechs Monate, Gesundheitsversorgung und sogar Geld in Form eines Kredits zum Hauskauf sind nur einige der attraktiven Angebote an die „olim“ (Immigranten) aus Argentinien.

Die wenigen verfügbaren Daten sagen viel aus: in den ersten zwei Monaten des Jahres 2002 wanderten genauso viele Argentinier nach Israel aus wie im ganzen letzten Jahr zusammen. Und obwohl die zunehmende Verschärfung des Konflikts im Nahen Osten einige Ausreisen verzögert hat, geben nur wenige Befragte an, die Pläne aufgegeben zu haben.

„Wir gehen davon aus, dass sich in diesem Jahr etwa 3000 Argentinier in Israel niederlassen werden, die doppelte Zahl von letztem Jahr“, sagt Edwin Yabo, Sprecher der israelischen Botschaft in Buenos Aires. Er erklärt, unter welchen Bedingungen argentinische Juden, gemeinsam mit ihrer Familie oder Ehepartnern (jüdischen oder nicht-jüdischen Glaubens) in Israel aufgenommen werden: „Das Rückkehrer-Gesetz, das seit der Gründung des Staates Israels kaum verändert wurde, legt fest, dass jeder Jude und jede Jüdin ein Recht auf die Einwanderung nach Israel und die Staatsbürgerschaft des Landes hat. Mit der Zeit und als Antwort auf die vielen Mischehen wurde dieses Recht auf die Ehepartner und Kinder ausgeweitet.“

Die Gültigkeit dieses Gesetzes, gekoppelt mit der dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Situation in Argentinien, die sich während der letzten vier Monate zugespitzt hat, haben dazu geführt, dass der Staat Israel, in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Agentur (Organisation, die für die Immigration zuständig ist), die Unterstützung der argentinischen Juden zur Priorität machte. Das ist kein Zufall: nachdem die Gemeinde in den sechziger Jahren sehr wohlhabend war, leben nun 20% von ihnen unter der Armutsgrenze. 17 000 beziehen Unterstützung durch das Netzwerk „Solidarische Allianz“, das 1997 geschaffen wurde, um die Opfer der Wirtschaftskrise aufzufangen.

Wer erhält diese Unterstützung in Form von Medikamenten und Essen? Sonderbarerweise nicht die traditionell armen Sektoren der Bevölkerung, sondern vielmehr eine neue Gruppe, die immer bedürftiger wird: die „verarmte Mittelklasse“, auch „die neuen Armen“ genannt. Ehemals wohlhabende Kaufleute, die heute unter großen Entbehrungen leiden, arbeitslose Fachkräfte, ältere Menschen, denen ihre Ersparnisse genommen wurden. Das sind nur einige der traurigen Aspekte der argentinischen Gesellschaft und einige der Hauptargumente für die hohe Anzahl der Ausreiseanträge.

Trotz der wachsenden Gewalt im Nahen Osten sind die Leistungen, die den auswanderungswilligen argentinischen Juden angeboten werden, unter den gegebenen Umständen zu reizvoll, um außer Acht gelassen zu werden. Besonders, weil viele der potentiellen Auswanderer unter dramatischen Bedingungen leben: sie sind seit einiger Zeit arbeitslos, können die Ausbildung ihrer Kinder und die medizinische Versorgung nicht mehr bezahlen, und es gibt sogar solche, die Familienmitglieder und Freunde um Essen bitten müssen. Erhebungen israelischer Medien zu Folge war über die Hälfte der argentinischen Emigranten arbeitslos, als sie die Reise in ihre neue Heimat in Angriff nahmen.

Sandro Kogan ist 32 Jahre alt. Sein Geschäft ist pleite, er hat viele Schulden und möchte „unbedingt woanders noch einmal ganz von vorne anfangen“. Angst scheint Sandro dabei nicht zu haben: „ich weiß, dass ich wegen meines Alters nicht in die Armee einberufen werde. Ungewissheit erlebe ich auch hier in Argentinien. Hauptsache ich habe Arbeit, egal was für eine“ sagt er optimistisch. Sandro Kogan gibt aber auch zu, dass er sich zu diesem Schritt nie entschieden hätte, wenn seine ökonomische Situation eine andere gewesen wäre. „Ich bin nicht verrückt; ich bin nur verzweifelt.“

 

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