Graphic Novels. Einfacher Zugang zu schwerem Stoff

Graphic Novel
Autor Carlos Reyes und Zeichner Rodrigo Elgueta bei der Internationalen Buchmesse in Santiago de Chile, 2015.
Foto: Rodrigo Fernández via wikimedia
CC BY-SA 4.0 Deed

(Berlin, 15. Dezember 2023, npla).- Comics und Graphic Novels erreichen als zugängliche Bildergeschichten seit Jahrzehnten weltweit ein immer größeres Publikum. In Südamerika ist das nicht anders. Wo sich Zeichner*innen und Autor*innen auch an die schwierigen Themen wie die vergangenen Militärdiktaturen herantrauen, leisten Comics einen wichtigen Beitrag zur Bildungs- und Erinnerungsarbeit.

Traurige Realität: Viele Täter der Diktaturen bis heute straffrei

Die Militärdiktaturen der 70er/80er Jahre in Südamerika sind keinesfalls überwunden: Viele Täter sind bis heute unbehelligt geblieben oder mit milden Strafen davongekommen. Der chilenische Zeichner Javier Rodríguez stellt in seinem Werk „Anticristo“ heraus, wie unfassbar und verstörend das ist: „[…] Sie haben sich für die Lockerung und Milderung der Strafen für inhaftierte Militärs eingesetzt. Mit einem verzerrten und relativierenden Menschenrechts- und Geschichtsverständnis sowie unablässiger Lobbyarbeit im Kongress haben sie sich darum bemüht, dass viele der für Verbrechen gegen die Menschheit inhaftierten Terroristen ihre Strafe im Pflegeheim, im Krankenhaus und sogar bei sich zuhause verbüßen können.“ (Javier Rodríguez: Anticristo, S. 19). Die Aufarbeitung bleibt schwierig, denn die heutigen Gesellschaften sind nach wie vor gespalten. Filme und literarische Werke haben sich der schmerzlichen Geschichtskapitel angenommen, manche fiktional, andere dokumentarisch. Auch in Comics versuchen Autor*innen und Zeichner*innen seit einigen Jahren, die Erinnerung an die Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktaturen aufrecht zu erhalten.

Ganz nah an der wahren, ungeschönten Geschichte

Von Menschen, die sich damals nicht den Zuständen beugten, handelt die chilenische Graphic Novel „Historias clandestinas“. Sie schildert, was es vor und nach dem Putsch 1973 bedeutete, das eigene Leben für das Projekt eines anderen, gerechteren Chile zu riskieren. Geschrieben und gezeichnet ist der Comic von den Geschwistern Sol und Ariel Rojas. Sie schildern eindrucksvoll, wie sie als Schulkinder nach außen hin einer ganz normalen Familie anzugehören schienen – während ihre Eltern im Garten unterm Schuppen dabei waren, einen Raum auszuheben, der als Versteck für verfolgte Mitstreiter*innen und für die Herstellung von Flugblättern und linken Schriften dienen sollte. In seiner Ansprache auf der Comic Con in San Diego im Juli 2023 anlässlich der Veröffentlichung auf Englisch sagt Ariel Rojas: „In dieser Graphic Novel sind wir beides: Autor*innen und Protagonist*innen unserer eigenen Geschichte. Und darum hat diese nichts von Fantasy, von Hollywood. Nichts von einer kühlen akademischen Intellektualisierung. Es ist die wahre Geschichte einer Familie, die im Untergrund lebte, in einem sogenannten sicheren Haus, zehn Jahre lang, in Chile während der Diktatur Pinochets. […] In solch einem sicheren Haus zu leben, das eine Scheinnormalität vortäuschte, bedeutete, von vielen Dingen nichts zu wissen. Je weniger der Einzelne weiß, desto besser für alle. Unsere Familie erlebte die chilenische Geschichte am eigenen Leib, und unsere individuellen oder persönlichen Erfahrungen sind wie eine Blaupause für die politischen und historischen Ereignisse in Chile und Lateinamerika in Militärdiktatur-Zeiten. Unsere Erlebnisse und unsere Stimme stehen für tausende von Chilen*innen und Lateinamerikaner*innen.“

Zeugenaussagen und poetische Bildsprachen

Die Perspektive von Menschen, die in Argentinien als Kinder Opfer der Militärdiktatur wurden, vermittelt der dokumentarische Comicband von María Giuffra „La niña comunista, el niño guerrillero“. Damit keine Zweifel aufkommen, steht „100 % Testimonial“ im Untertitel. Das Buch versammelt die erschütternden Berichte von zehn Interviewpartner*innen, die noch Kinder waren, als die Militärs Gräueltaten an ihren Familien verübten. „Ich erinnere mich, dass mir irgendwas ins Gesicht spritzte, aber ob der Schuss ins Bein mir wehtat, daran erinnere ich mich nicht. Ich ließ mein Gesicht auf das Kinderbett vor mir gerichtet und sah Marcela und Adolfo schreien und heulen. Dann: ein Poltern gegen die Tür und hinein stürmten … ‚Soldaten‘, so dachte ich.“ (Eine Zeitzeugin, die Älteste von mehreren Geschwistern, in María Giuffra: La niña comunista, el niño guerrillero. S. 18). Giuffra dokumentiert, ohne zu kommentieren und findet in einer freien, drastischen wie poetischen Bildsprache in schwarz-weiß eine Form der Darstellung des erlebten Grauens. Doch auch letzte schöne Erinnerungen an die früh verlorenen Eltern hält der Comicband fest, denn sie sind essenziell für die Identität der Betroffenen. Viele Kinder von Desaparecidos – den gewaltsam Verschwundengelassenen – wurden zur Erziehung in Familien von Militärs gegeben. Viele Oppositionelle wurden im Geheimgefängnis in der Marineschule ESMA in Buenos Aires gefoltert und ermordet. Juan Carrá und Iñaki Echeverría versuchen mit ihrer gleichnamigen Graphic Novel „ESMA“ der jüngeren Generation die Geschehnisse der argentinischen Diktatur ab 1976 zu vermitteln. Dieser Comic wird in argentinischen Schulen im Unterricht verwendet.

Comics – einfacher Zugang zu schwerem Stoff

Die Stärke des Mediums Comic für die Vermittlung komplexer historischer Ereignisse liegt im Vorführen von dokumentarischem Material, persönlichen Erfahrungen und Alltagsgeschichten, die durch die visuelle Komponente anschaulich werden und anhand der realitätsnahen Figuren oder auch historischen Persönlichkeiten, die in den Zeichnungen lebendig werden, den Lesenden einen  leichten Zugang zu den meist schweren Stoffen ermöglichen. So auch bei dem Comic „¡Ese maldito Allende!“ von Olivier Bras und Jorge González, original auf Französisch erschienen, zur chilenischen Militärdiktatur. Ein Eindruck daraus: Santiago de Chile im Jahr 2000, Victoria, französische Journalistin und Olivier, Exilchilene der zweiten Generation und Ich-Erzähler des Graphic Novel-Bandes, nehmen ein Taxi. Beim Small Talk mit dem Fahrer Eduardo stellt sich heraus, dass seine Passagiere nicht als gewöhnliche Urlauber im Land waren, sondern aus Interesse an Geschichtsaufarbeitung. Ihr Fazit: „Wir konnten spüren, dass das Thema noch immer das Land spaltet. Bei den Opfern des Putsches bleiben offene Wunden.“ Der Fahrer zögert, bevor er erwidert „Nicht nur bei den Opfern“, und er vertraut ihnen an, dass er 1973 gerade seinen Wehrdienst machte, als es zum Putsch kam. Er war Krankenwagenfahrer und musste Leichen zum Mapocho-Fluss bringen. „Es waren Männer, Frauen, Kinder. Viele Leichen wurden nie gefunden. Die Angehörigen haben nie erfahren, was mit ihnen passiert ist“. Die Ampel ist rot. Ein Bild bleibt weiß. Es wird grün, doch das Auto fährt nicht. Eduardo weint am Steuer. „Die Toten verfolgen mich. Ich lebe mit der Angst, irgendwann für das alles belangt zu werden. Aber ich musste es unbedingt einmal jemandem sagen.“ Das Bekenntnis des anonymen Taxifahrers geht unter die Haut. Über das individuelle Erinnern hinaus geht es jedoch auch um die Beschäftigung mit der Memoria histórica – dem historischen Gedächtnis – und den Menschenrechtsverbrechen. Das Erinnern an die Militärdiktatur als kollektives Trauma ist in Chile inzwischen landesweit Teil des Lehrplans in Schulen.

Lehrer*innen als Brücke von Früher zu Heute

Rodrigo Elgueta ist Kunstlehrer und Comiczeichner, und er wird in chilenische Schulen eingeladen, um mit Kindern über die Diktatur Pinochets zu sprechen. „Die Lehrer*innen leisten wichtige Arbeit bei der Vermittlung unseres historischen Gedächtnisses. Sie verdeutlichen den Kindern, wieso es wichtig ist, die historischen Momente unserer Landesgeschichte zu kennen.“ Und Graphic Novels als zugängliche Lehrmittel spielen dabei eine wichtige Rolle, berichtet Rodrigo Elgueta, „denn den Lehrenden ist klar, dass es an ihnen hängt, eine Brücke von den Ereignissen von vor drei bis fünf Jahrzehnten für die heutige neue Generation zu schlagen, die von den eigenen Eltern oft nichts davon erfährt.“ Und je mehr Zeit vergeht, desto weniger ist das Wissen über die sozialistische Regierung Salvador Allendes und den Putsch von 1973 in der Bevölkerung verankert. Gemeinsam mit dem Comicautor Carlos Reyes schuf Rodrigo Elgueta die Graphic Novel „Los años de Allende“ über die Ereignisse Anfang der 1970er Jahre in Chile. Sie erzählen aus der Sicht des US-amerikanischen Journalisten John und seiner chilenischen Freundin Claudia. Farblich ist der Comic in schwarz-weiß gehalten, mit Graustufen; die Zeichnungen sind realistisch, sie greifen Pressefotos und Filmmaterial auf. Die Erzählung nutzt Rückblenden und Originalreden Allendes und wird ergänzt durch einen erläuternden Anhang. Das Buch steht als einzige Graphic Novel auf der Liste der empfohlenen Schullektüren, erzählt Elgueta.

Konstantes Aufarbeiten gegen die Verzerrung der Geschichte

Geschichtliche Aufklärung ist extrem wichtig, um den aktuellen ultrarechten Tendenzen mit ihrer Geschichtsverzerrung entgegenwirken zu können. Eine weitere Graphic Novel zum Putsch 1973 und den Folgen ist „El Golpe“ von Nicolás Cruz und Quique Palomo. Sie beginnt mit Szenen der studentischen Proteste in Santiago 2011, auf die mit brutaler Polizeigewalt reagiert wurde. Über die Konfrontation der jungen Chilen*innen mit der Elterngeneration, die sie für die Misere verantwortlich machen und denen sie Konformismus vorwerfen, schlagen Autoren eine Brücke zu den Erlebnissen der Eltern in den 1970er Jahren. Die Autoren arbeiten ebenfalls mit Zeichnungen in Graustufen. Auch sie bringen Originalzitate und historisches Material, darunter collageartig in die Bilder eingearbeitete politische Plakate und Fotos. „El Golpe“ fokussiert dabei auf den Aktivismus, den gesellschaftlicher Wandel braucht. Indem auch solche Erfahrungen Ausdruck finden und in der Bildungsarbeit aufgegriffen werden, geht das Medium Comic in seiner politischen Aussage noch einen Schritt weiter.

 

Lea Hübners Beitrag erschien zunächst als Audio bei Radio Onda.

 

Die genannten Comics sind größtenteils im Iberoamerikanischen Institut in Berlin zum Ausleihen erhältlich.

Los años de Allende von Carlos Reyes und Rodrigo Elgueta, 2015 Hueders Editorial, Santiago de Chile.

Deutschsprachige Fassing Die Jahre von Allende, übersetzt von Lea Hübner, erschienen 2020 bei bahoe books, Wien.

¡Ese maldito Allende! von Olivier Bras und Jorge Gonzélez, erschienen 2016 bei Grafito Ediciones, Santiago de Chile, spanische Fassung, übersetzt von Claudio Álvarez.

El golpe. El pueblo 1970-1973 von Nicolás Cruz und Quiique Palomo, erschienen 2014 bei Pehuén Editores, Santiago de Chile.

Historias clandestinas von Ariel und Sol Rojas Lizana, erschienen 2014 bei LOM Ediciones, Santiago de Chile.

ESMA von Juan Carrá und Iñaki Echeverría, erschienen 2019 bei Evaristo Editorial, Buenos Aires.

Anticristo von Javier Rodríguez, erschienen 2017 bei Ediciones Metales Pesados, Santiago de Chile.

La niña comunista y el niño guerrillero von Maria Giuffra. erschienen 2021 bei Historieteca Editorial, Buenos Aires.

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