Von Luis Hernández Navarro
(Mexiko-Stadt, 26. April 2016, la jornada-poonal).- Die Form wahrend, ist der letzte Bericht der Unabhängigen Interdisziplinären Expert*innengruppe (GIEI) inhaltlich dennoch demolierend. Er hinterfragt nicht nur die armselige gerichtliche Arbeit der Funktionär*innen, die mit den Ermittlungen zu den Ereignissen der Nacht von Iguala beauftragt waren. Er stellt die ureigene Glaubwürdigkeit des mexikanischen Staates in Frage.
Der Bericht der Expert*innen demontiert und belegt beweiskräftig die Lügen, mit denen die mexikanische Regierung ihre „historische Wahrheit” fabrizierte. Sich der Adjektive enthaltend, entblößt und hinterfragt der Bericht die offizielle Darstellung von vorne bis hinten. Er dokumentiert, wie die für die Untersuchungen Verantwortlichen Indizien säten, Geständnisse durch Folter und Misshandlungen erhielten, zielgerichtete Filtrationen durchführten, die Opfer kriminalisierten und Beweismittel verbargen.
Vorsätzliche Entscheidung, schlechte Arbeit zu leisten
Mehr als zur Aufklärung der Tathergänge und Wahrheitsfindung der Geschehnisse in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 zu arbeiten, beschäftigte sich die Generalbundesstaatsanwaltschaft (PGR) damit, die Wahrheit zu vertuschen. Sie machte dies nicht nur aufgrund der Kompliziertheit des Falles und ihrer eigenen professionellen Unzulänglichkeiten, sondern aufgrund ihrer vorsätzlichen Entscheidung. Die Ermittlung wurde nicht nur wegen fachlicher Fehler schlecht durchgeführt, sondern aufgrund der vorsätzlichen Entscheidung, schlechte Arbeit zu leisten.
Statt die wirklichen Schuldigen zu finden und zu bestrafen, haben die mexikanischen Autoritäten sich dafür entschieden, Schuldige zu produzieren. Indem sie einige Verantwortliche folterten, damit diese aussagten, was sie hören wollten, haben sie ihnen die Tür für die Freilassung geöffnet. Entschlossen, die Ereignisse als Ergebnis des ausschließlichen Vorgehens des organisierten Verbrechens und einer Gruppe korrupter Polizist*innen zu präsentieren, haben sie am Ende höherrangige Politiker*innen und Befehlshaber*innen geschützt. Statt die intellektuellen Verantwortlichen zu finden, haben sie sie gedeckt.
Lehramtsstudenten standen unter ständiger und direkter „Beschattung“
Der Bericht veranschaulicht, dass die Nacht von Iguala nicht nur eine Blutorgie war, die der Irrationalität einer Gruppe irrsinniger und seelenloser Drogenhändler geschuldet war, sondern das Ergebnis der institutionellen Handlung eines mafiösen Staates, der in der Aktion der Lehramtsstudenten eine Gefahr für seine Geschäfte sah. Es handelte sich nicht nur um Ineffizienz und Untauglichkeit der Institutionen, sondern um die Kollusion dieser mit dem organisierten Verbrechen. Es handelte sich nicht nur um das Resultat der Abdankung des Staates von seinen elementarsten Aufgaben, die Sicherheit der Bürger*innen zu garantieren, sondern um ein Produkt des heruntergekommenen Staates – geschaffen durch die Route des Heroins.
Die Kriminalpolizei, die Landespolizei von Guerrero, die Kommunalpolizei von Iguala, die Bundespolizei und die Armee kontrollierten die Studenten von Ayotzinapa ab dem Moment, ab dem sie ihre Ausbildungsstätte verließen. Über das sogenannte C4-System standen die Studenten unter ständiger und direkter „Beschattung“. In Iguala angekommen, gab es laut GIEI „eine perfekte Koordination zwischen den Behörden, um einen Kontrollradius zu etablieren, der die Abfahrt der [von den Studenten „gekaperten“] Busse verhindern sollte“.
Bericht: Studenten verschwanden durch das Handeln staatlicher Kräfte
In ihrem Schlussbericht bestehen die Expert*innen darauf, dass die Opfer Opfer sind, so sehr der Staat auch versucht haben mag, sie zu stigmatisieren. Entgegen der Versicherung der PGR kamen die Studenten von Ayotzinapa nicht nach Iguala, um irgendeine Veranstaltung des Bürgermeisters zu boykottieren. Sie waren weder Teil des organisierten Verbrechens noch von ihm infiltriert.
Bei all den vielen ungelösten Fragen, die bezüglich der Nacht von Iguala noch bestehen, hinterlässt die Lektüre des Expert*innenberichts eine Gewissheit: Die Studenten verschwanden durch das Handeln staatlicher Kräfte.
Vorsichtig, vermieden es die Expert*innen in ihrem Bericht, in Anomalien verwickelte Funktionär*innen namentlich zu nennen. Eine Ausnahme war Tomás Zerón Lucio, der bei der PGR für die Kriminalbehörde verantwortlich ist. Zerón leitete laut GIEI eine Aktion, bei der Knochenreste zusammengetragen wurden. In der Fallakte ist darüber nichts zu finden, ein schwerwiegender Vorgang. Zerón erklärte ebenfalls, Tage nach dem ersten Bericht der Expert*innen im September vergangenen Jahres, auf der Müllhalde von Cocula seien 17 Jugendliche verbrannt worden (und nicht 43, wie ursprünglich gesagt wurde). Die Aussage des Kriminalisten – eindeutig eine Maßnahme, die „historische Wahrheit“ neu zu positionieren – wurde durch absolut nichts in den Unterlagen gedeckt.
Regierung blockierte und behinderte Arbeit der GIEI
Seitdem die GIEI im September 2015 die ersten Schlussfolgerungen ihrer Untersuchung vorgelegt hatte, entschied sich die Regierung kontinuierlich dafür, die Arbeit der Expert*innen zu verzögern, zu behindern und zu blockieren. Am letzten Sonntag waren drei leere Stühle in der Universität Claustro de Sor Juana während der Präsentation des Expert*innenberichtes das Zeugnis für diese Anfeindung. Auf den Stühlen hätten die Staatssekretäre Roberto Campa und Miguel Ruiz sowie der stellvertretende Bundesstaatsanwalt Eber Betanzos als Repräsentanten der Regierung von Enrique Peña Nieto sitzen sollen. Sie kamen nicht zu diesem Termin.
Nur einen Tag zuvor waren die Regierungsfunktionäre auch zu einem nachmittäglichen Schlüsseltreffen mit Mitgliedern der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) einschließlich des CIDH-Präsidenten James Cavallaro nicht erschienen. Dort sollte es um die Nachführung der GIEI-Empfehlungen gehen.
Warum ist der Regierungschef bereit gewesen, einen so hohen Preis zu bezahlen?
Innerhalb und außerhalb Mexikos hat die Regierung von Enrique Peña Nieto mehr als teuer dafür bezahlt, die Aufklärung der Vorgänge in der Nacht von Iguala zu verweigern. Ihr internationales Ansehen liegt am Boden. Wo auch immer der mexikanische Präsident außerhalb des nationalen Territoriums sein Fuß aufsetzt, wird er wegen der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Land und dem Geschehen um die jungen Leute aus Ayotzinapa kritisiert. Warum ist der Regierungschef bereit gewesen, einen so hohen Preis zu bezahlen? Sollte die Präferenz dafür etwa deswegen bestehen, weil der Preis, die Wahrheit zu erfahren, für den mexikanischen Staat noch viel höher wäre?
Die Nacht von Iguala und der mexikanische Staat von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar