„Es findet ein systematischer Angriff auf die Lehrerschule von Ayotzinapa statt“

von Carmen Herrera

(Lima, 06. November 2015, noticias aliadas-adital).- Maribel González Pedro ist Rechtsanwältin und arbeitet im Menschenrechtszentrum Tlachinollan im Bundesstaat Guerrero im Südwesten von Mexiko. Das Menschenrechtszentrum unterstützt die Familienangehörigen der 43 Studenten, die im September 2014 in Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero gewaltsam verschwunden sind. Es bietet rechtliche Unterstützung bei der Aufklärung dieses Falles, der nicht nur in Mexiko sondern auch international die Öffentlichkeit erschüttert hat.

Carmen Herrera, Journalistin der lateinamerikanischen Nachrichtenagentur Noticias Aliadas, sprach mit Maribel González über die Entstehung der ländlichen Lehrerseminare, die eine Besonderheit in der mexikanischen Bildungslandschaft sind. Sie sprachen über eine Bildungspolitik, die sich für die stark benachteiligte Bevölkerung in Guerrero einsetzt und über die systematische Unterdrückung der Schüler- und Lehrer-Gemeinschaft des Lehrerseminars Escuela Normal Rural Raúl Isidros Burgos in Ayotzinapa (siehe poonal Nr.1139).

Noticias Aliadas: Weshalb sind Ihrer Ansicht nach die 43 Studenten aus Ayotzinapa gewaltsam verschwunden?

Maribel González: Extreme Straflosigkeit, überall herrschende Gewalt, Korruption auf verschiedenen Regierungsebenen – all das trägt dazu bei, dass schwere Menschenrechtsverletzungen wie in Ayotzinapa geschehen können. Aufgrund dieser Situation gibt es bis heute keine ernsthafte Untersuchung durch den Staat.

Dieser Fall ist international bekannt geworden. Warum haben andere, ähnliche Fälle nicht diese Wirkung gehabt?

Das gewaltsame Verschwindenlassen von 43 Studenten hat die mexikanische Gesellschaft aufgerüttelt, da es junge Menschen, junge Indigene in der Ausbildung sind, die aus stark benachteiligten Gegenden aus Guerrero stammen und weil staatliche Stellen, Staatsbedienstete, sowohl durch Unterlassung als auch durch Beteiligung dabei mitgewirkt haben. Schon bevor dieses beklagenswerte Verbrechen geschehen ist, haben wir diese Tatsachen öffentlich gemacht.

Es war bekannt, dass staatliche Stellen schon seit langer Zeit in illegale Machenschaften verwickelt waren und dass es dazu auch schon Untersuchungen gegeben hatte, aber die Regierung hat nichts unternommen. Im Gegenteil, sie hat sogar zugelassen, dass Personen, die darin verwickelt waren in Machtpositionen gekommen sind, in denen sie den Staat repräsentieren. Ich glaube, dass die mexikanische Gesellschaft so betroffen war, weil es junge Menschen in der Ausbildung waren und Mexiko hat eine lange Geschichte von Angriffen auf die Jugend und das trifft uns sehr stark, da wir Brüder, Schwestern und Mütter sind.

Diese Tat erinnert uns an das Massaker von Tlatelolco [das am 2. Oktober 1968 stattfand und bei dem Hunderte von Studierenden in Mexiko-Stadt starben]. Schon immer in der mexikanischen Geschichte wurden Jugendliche angegriffen und kriminalisiert und deshalb hat dieses Verbrechen die Gesellschaft so stark bewegt, so viele Menschen mobilisiert, hat so viel Bewusstsein geschaffen, so viel Empörung und Wut.

Verschiedenen Personen, die die Situation analysieren, auch Akademiker*innen sind der Meinung, dass dieser Fall als Botschaft zu verstehen ist und die indigene Bevölkerung ausgerottet werden soll. Was sagt Ihre Organisation dazu?

Das Thema Ayotzinapa bietet Raum für Vieles, man kann es aus den verschiedenen Blickwinkeln analysieren und viele haben das so gemacht. Bei einem Großteil der Studenten des ländlichen Lehrerseminars in Ayotzinapa handelt es sich um Kinder aus Bauernfamilien. aus indigenen Familien. Sie kommen aus bescheidenen Familienverhältnissen, sind marginalisiert, arm, haben keinen Zugang zu Bildung.

Deshalb bietet das Lehrerseminar mit seinem Internat und seiner Politik, vor allem Kinder aus Bauernfamilien und Indigene aufzunehmen, die einzige Ausbildungsmöglichkeit für Jugendliche aus dieser Gegend.

Wir sehen dies als systematischen Angriff an, der nicht neu ist. Dieser Fall ist sehr schlimm, aber der Angriff auf das Lehrerseminar ist nicht neu. Seit Gründung dieser pädagogischen Ausbildungsstätte [1926] war sie schon mehrfach das Ziel von Angriffen. Die jüngsten Angriffe waren das gewaltsame Verschwindenlassen der 43 Studenten und der Angriff vom 12. Dezember 2011. Damals protestierten die Studenten und forderten Stipendien und die Möglichkeit, sich zum Studium einschreiben zu können. Dies verweigert der Staat jedes Jahr aufs Neue, dabei ist es kein Gefallen, um den die Studenten bitten, sie fordern ein verfassungsmäßig verankertes Recht ein. Nachdem ihre Forderungen abgelehnt wurden und der Dialog mit dem Gouverneur gescheitert war, protestierten die jungen Studenten auf der Landstraße, die die Städte Chilpancingo [der Hauptstadt des Bundesstaates Guerrero] und Acapulco miteinander verbindet.

An diesem Tag reagierte die Regierung mit einem Polizeieinsatz und bei dieser gewaltsamen Aktion wurden Jorge Alexis Herrera Pino und Gabriel Echeverría de Jesús getötet, zwei Studenten des Lehrerseminars von Ayotzinapa. Bis jetzt wurde nur zwei Bundespolizisten der Prozess gemacht und beide wurden wieder freigelassen. Das beweist, dass es tatsächlich einen systematischen Angriff auf das Lehrerseminar von Ayotzinapa gibt.

Aus welchem Grund ist der Staat gegen das Lehrerseminar von Ayotzinapa?

Damit man verstehen kann, warum es diese Angriffe auf das Lehrerseminar gibt, muss man erst einmal über die Art von Bildung sprechen, die die Schule vermittelt und man muss die Geschichte der Lehrerseminare in Mexiko verstehen.

Die ländlichen Lehrerseminare in Mexiko gehen auf die mexikanischen Revolution [von 1910] zurück. Die weltliche und kostenlose Bildung ist ein Recht, das man durch die Revolution erlangt hat. Daher stammt auch Artikel drei der Verfassung [der das Recht auf Bildung garantiert] und es wird ein langer Prozess angestoßen bei dem es darum geht, wie man die indigenen Völker anerkennt, die Bäuerinnen und Bauern, ihr Recht auf Land und auch ihren Zugang zu Bildung. Im Süden Mexikos, im Bundesstaat Guerrero sind die meisten Menschen Indigene. Es gibt Gemeinschaften, die kein Spanisch sprechen oder sie sind zweisprachig.

Man greift die Lehrerseminare wegen ihrer Ideologie an, da dort Lehrer*innen für den ländlichen Raum ausgebildet werden, junge Menschen, die dann in indigenen Gemeinden Unterricht erteilen, in die keine anderen Lehrer*innen kommen. Sie geben den Gemeinden die Bildung weiter, die sie selbst im Lehrerseminar erhalten. Als man in Mexiko 1920 die Lehrerseminar gründete, gab es 36, davon sind im Jahr 2015 nur noch 16 Seminare übrig. Die Regierung geht mit ihrer Politik gegen diese Art der Ausbildung vor. In Guerrero gehen die Menschen im Durchschnitt 2,3 Jahre zur Schule.

Der Fall von Ayotzinapa ist kein Einzelfall. Im Lehrerseminar wird den Studierenden vermittelt, bewusst zu sein, nachzudenken, sich für soziale Veränderungen einzusetzen. Ayotzinapa hat immer der repressiven Regierungspolitik mit ihren Transferleistungen für die Armen die Stirn geboten, hat das neoliberale Wirtschaftsmodell und das Parteiensystem kritisiert und hat sich immer gegen die Politik der Regierung gestellt. Es hat der Regierung nicht gefallen, dass dort engagierte junge Leute sind, die nicht unterwürfig und gehorsam sind. Die Studenten erhalten dort keine Ausbildung, bei der der Lehrer vorn steht und spricht und der Student zuhört und passiv ist. In Ayotzinapa sind die Studenten engagiert und aktiv.

Sie hören den Lehrern zu, sie erabeiten aber auch selber Lösungsansätze. Sie besitzen eine größere Analysefähigkeit und sind stärker lösungsorientiert als andere Studierende und das missfällt der Regierung. Aktive Studierende, die Ideen und bestehende Modelle hinterfragen, sind eine Bedrohung für das derzeit in der Welt herrschende System.

Könnte man sagen, dass die Studierenden eine ganzheitliche Ausbildung bekommen, bei der die fachliche Ausbildung mit einer Bildung kombiniert wird, die neue Lösungen für ihre Gemeinschaften sucht?

Bei der Ausbildung der jungen Menschen aus Ayotzinapa werden verschiedene Schwerpunkte berücksichtigt, zum einen das soziale Umfeld, in dem sie leben und in das sie nach der Ausbildung zurückkehren. Während der Ausbildung machen sie in ihren Gemeinden Praktika. Sie entwickeln viel Empathie für die Menschen aus Guerrero, denn zusätzlich zu den Praktika, helfen sie dort bei Bedarf beim Säen und Ernten. Als 2013 der Hurrikan Ingrid Guerrero verwüstete, halfen die Studenten von Ayotzinapa in den nahe gelegenen Gemeinden beim Wasser schöpfen und bei der Rettung von Menschen. Sie waren noch vor der staatlichen Hilfe da.

Was passiert jetzt, welchen Plan hat das Lehrerseminar um die Verschwundenen zu finden?

Bis jetzt weiß man noch nicht, wo die Leichen sind, die sterblichen Überreste wurden noch nicht identifiziert. Die Untersuchungen laufen noch und von Seiten des Staates gibt es keine ernsthafte Untersuchung, es ist nicht klar, was passiert ist. Auf legalem Weg wurde deshalb die Mitarbeit der Expert*innengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) gefordert, die bei diesen Untersuchungen mithilft. Es wurden weitere Verfügungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission gefordert und der Fall liegt jetzt bei der Generalstaatsanwaltschaft.

Sowohl die Familienangehörigen der Verschwundenen als auch die Studenten und das Lehrerseminar wollen starke Netzwerke mit den verschiedenen Organisationen und Bewegungen auf nationaler Ebene bilden. Sie stimmen sich auch mit den verschiedenen Friedensinitiativen ab, um Druck auf die Regierung auszuüben, damit eine umfassende Untersuchung gemacht wird. Der Unterricht im Lehrerseminar geht weiter.

Die Feiern zum Abschluss des Schuljahres waren den Verschwundenen gewidmet. Die Fortsetzung des Studiums ist eine Art des Kampfes, ein Ausdruck des Widerstands. Für die Gemeinden im Bundesstaat Guerrero und für die jungen Menschen aus Bauernfamilien und die Indigenen ist es die einzige Möglichkeit, eine laizistische, kostenlose, fachliche und volksnahe Bildung zu erhalten.

 

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts:

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