von Andreas Behn
(Berlin, 12. Oktober 2010, npl).- Wenn am 1. Januar 2011 ein neues Staatsoberhaupt die Macht übernimmt, blickt Brasilien auf 26 Jahre politische und ökonomische Stabilität zurück. Die 1985 eingeführte Demokratie ist gefestigt und das stetige Wirtschaftswachstum hat auch endlich positive soziale Auswirkungen – die Zahl der Armen verringert sich, während die untere Mittelschicht schnell wächst. Gleichzeitig ist ein neues nationales Selbstbewusstsein erwachsen. Der Traum von Wohlstand wird nicht mehr auf Miami projiziert, kulturelle Identität braucht nicht mehr Frankreich als Vorbild. Auch jenseits von Fußball und Samba ist sich Brasilien mittlerweile selbst genug. Natürlich ist der Weg noch lang, sind Rassismus, Korruption und schreiende Ungerechtigkeit noch an der Tagesordnung, doch es ist mehr als ein Anfang.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Entwicklung nicht alleine das Verdienst von Präsident Inácio Lula da Silva sind. Die Ikone der Arbeiterpartei PT hatte neben seinem Charisma und einer immensem Integrationsfähigkeit auch günstige Voraussetzungen für seine acht Jahre Regierungszeit vorgefunden. Zum einen die günstige Weltwirtschaftslage mit hohen Wachstumsraten vor allem in den Schwellenländern sowie die Konsolidierung von Inflation und Staatshaushalt mittels traditionellen liberalen Rezepten durch seinen Vorgänger, Fernando Henrique Cardoso von der rechts-sozialdemokratischen PSDB. An dessen Wirtschaftspolitik änderte Lula kaum etwas, weswegen auch unter seiner Regie die Reichen viel reicher als die Armen weniger arm geworden sind.
Der programmatische Grundkonsens, der diesen „goldenen Jahren“ zugrunde liegt, hat das größte Land Lateinamerikas auch zu dem gemacht, was es zumindest in den Phantasien vieler Politiker*innen schon längst hätte sein sollen. Eine regionale Führungsmacht, die als Wirtschaftslokomotive und Streitschlichter einer angesehenen Platz im internationalen Gefüge inne hat. Dieser Sprung zum Global Player trägt die Handschrift eines ehemaligen Gewerkschaftsführers, dessen Ansehen und Errungenschaften im Ausland noch höher bewertet werden als im Inland. Und es ist schon fast Ironie, dass Lulas außenpolitische Visionen von regionaler Integration und machtpolitischer Einmischung schneller und weiter gediehen sind als die eines sozial gerechten Brasiliens.
Es sind viele Schauplätze, an denen Brasilien dabei ist, sein Profil einer internationalen Macht zu schärfen. Zum einen die regionalen Staatsverbunde, Unasul, Mercosul und OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) sowie weltweit im Rahmen der Weltwirtschaftsorganisation WTO oder Foren wie die G20. Parallel dazu wird Krisendiplomatie betrieben, sei es im Fall des Putsches von Honduras oder im iranischen Atomstreit. Auch militärische Präsenz gehört zum Repertoire, sei es in Haiti oder die Erhöhung des Verteidigungsetats. An Selbstbewusstsein fehlt es nicht, mehrere Male hat Brasilien in den vergangenen Jahren die US-Dominanz auf diplomatischem Parkett herausgefordert, wenn auch nicht immer erfolgreich.
Die neue internationale Diplomatie Brasiliens basiert auf zwei Säulen, die im Lateinamerika des vergangenen Jahrhunderts sträflich vernachlässigt wurden: Regionale Integration und Süd-Süd-Beziehungen. Die Industriestaaten sind damit nicht mehr Angelpunkt für die wirtschaftsstrategische Ausrichtung und explizit wird die Vorherrschaft des US-Einflusses auf dem Subkontinent in Frage gestellt. Bereits Cardoso hatte damit begonnen, die eigenen Interessen in den Beziehungen zu den USA in den Vordergrund zu stellen. Er war es auch, der seit dem Jahr 2000 die Initiative für regelmäßige Treffen der lateinamerikanischen Staatschefs ergriff, aus denen 2004 die Südamerikanische Staatengemeinschaft hervorging. Es war die Vorläuferorganisation der Unasul (Union der Südamerikanischen Nationen), die 2008 in Brasilia offiziell gegründet wurde und seitdem ein regionales Instrument darstellt, mit dem der Handlungsspielraum der von den USA lange Zeit dominierten OAS eingeschränkt wird.
Der Verbund Unasul ist für Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik bis hin zu einer möglichen Währungsunion zuständig, wird aber auch politisch tätig, indem er als gewichtige (Konsens)Stimme beispielsweise zum Putsch in Honduras oder zu Unabhängigkeitsbestrebungen der Rechten in Bolivien Stellung nahm. Die Tatsache, dass rechte Regierungen derzeit eine Minderheit auf dem Subkontinent darstellen, erleichtert Brasilia die Nutzung dieses Gremiums. Aber auch ohne diese Konjunktur steht der Führungsmacht damit ein Instrument zur Verfügung, aus einer Staatengemeinschaft heraus ordnungspolitisch wirken zu können. Zudem legt Brasilien – zumindest bislang – Wert darauf, jegliche Art militärischer Optionen bei der Schlichtung regionaler Konflikte auszuschließen. Eine Haltung, die angesichts der historischen Erfahrungen Lateinamerikas Vertrauen schafft und sich bislang bewährt hat, sowohl im internen Krieg Kolumbiens wie beim Streit Ecuadors mit seinem nördlichen Nachbarn.
Neben einer Vielzahl weiterer regionaler Foren wie der Rio-Gruppe, die auch Zentralamerika und die Karibik einschließt, ist der Gemeinsame Südamerikanische Markt Mercosul das wichtigste Gremium in Ergänzung zur jungen Unasul. Die langjährige Stagnation der Integrationsbemühungen aufgrund struktureller Unterschiede der Partner Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay und des Tauziehens um die vollständige Aufnahme Venezuelas scheint überwunden. Brasiliens großes Interesse an einem funktionierenden Mercosul erklärt sich – neben der Erschließung neuer Märkte – aus seiner konsequenten Haltung zur WTO und zu Freihandelsverträgen. Im Gegensatz zu den USA und Europa, die schon vor dem offensichtlichen Scheitern der Doha-Runde auf bilaterale Abkommen setzten und ob ihrer Machtposition sehr vorteilhafte Freihandelsverträge aushandeln konnten, besteht Brasilia darauf, nicht alleine sondern nur als Block und wenn möglich unter dem Dach der WTO die Markzugänge zu verbessern. Als großer Agrarexporteur ein durchaus egoistisches Vorhaben, aber – sofern die für weniger industrialisierten Ländern generell fragwürdige Freihandelslogik nicht hinterfragt wird – zumindest ein Ansatz, der auch regionale Interessen mitberücksichtigt und die Doppelmoral der Industriestaaten beispielsweise bei den Subventionen in der Landwirtschaft anprangert.
Die Süd-Süd-Beziehungen sind aus brasilianischer Sicht keine Strohfeuer im Machtpoker. So ist das IBSA-Forum mit Indien und Südafrika eine strategische trikontinentale Allianz, die sich sowohl bei der WTO wie auch 2008 bei der Bewältigung der Finanzkrise bewährt hat. IBSA ist einer der Wortführer in der G20, mittels der Schwellenländer erstmals formal gleichberechtigt bei den großen Entscheidungen der Wirtschaftswelt mitreden können. Wie eng aber die Grenzen der Teilhabe auf dieser Ebene gesteckt sind, zeigt das Beispiel Weltsicherheitsrat. Seit langem beklagt (nicht nur) Brasilien die geopolitische Schieflage dieses obersten Gremiums und plädiert für eine Erweiterung, die dann auch einen ständigen Sitz für die südamerikanische Führungsmacht bedeuten würde.
Grundlage der Verschiebung von Machtpositionen ist neben dem militärischen Aspekt vor allem die Wirtschaftkraft und damit das Vorkommen nicht erneuerbarer Ressourcen, Rohstoffe, Energiequellen und nicht zuletzt ein großer heimischer Markt. Deswegen sind es bevölkerungsreiche Flächenstaaten wie Brasilien und Indien, die nach China auf eine Veränderung ihrer Bedeutung in der Welt pochen können. Brasilien als fünft größtes Land der Welt hat einiges zu bieten. Immer neue Erdölfunde, wenns teils auch noch unzugänglich, machen das Land zu einer zukünftigen Ölmacht. Hinzu kommt die Führungsrolle im Bioalkohol und, wenn auch bisher zögerlich, der Ausbau des Atomprogramms, wobei die technische Rückständigkeit mit großen Uranvorkommen ausgeglichen wird. Neben weiteren Rohstoffvorkommen und einer unendlichen landwirtschaftlichen Fläche kommt hinzu, dass Brasilien als das Land mit der größten Biodiversität gilt. Und nicht zuletzt liegt das weltweit größte unterirdische Reservoir von Süßwasser zum Teil unter brasilianischen Territorium – in anderen Teilen der Welt werden wegen dieser Ressource schon Kriege geführt.
Deutlich wird das neue Machtbewusstsein Brasiliens und die Entschlossenheit, den Kampf um regionale Vormachtstellung mit den USA aufzunehmen, auch im militärischen Bereich. War der offiziell zur Bekämpfung des Drogenhandels entworfene Plan Colombia schon lange ein Dorn im Auge, so ist dessen jüngste Erweiterung mit der Stationierung von US-Truppen auf kolumbianischen Militärbasen 2009 offiziell als Affront gewertet worden. Schon die Reaktivierung der IV. Flotte der US-Marine vor der südamerikanischen Küste im Jahr 2008 war auf heftigen Protest seitens Brasiliens gestoßen.
Der uruguayische Autor Raúl Zibechi analysiert in einem Beitrag für „alai“, dass Washington darauf abzielt, die Region und insbesondere die unzugängliche wie rohstoffreiche Amazonasregion zu destabilisieren. „Die Militärstrategie, mit der das Pentagon Brasilien im Zaum halten will, besteht darin, das immense Land mit Militärbasen (heute in Panama, Kolumbien, Peru und Paraguay) zu umzingeln, um Konflikte und Instabilität an seinen Grenzen zu provozieren.“ Dies sei das strategische Ziel des Plan Colombia, so Zibechi.
Im Dezember 2008 reagierte Präsident Lula mit der Unterzeichnung einer Nationalen Verteidigungsstrategie, die bis 2030 eine Modernisierung der Verteidigungsstruktur, Reorganisierung und Ausbau der Streikräfte sowie Neuerungen in der Militärindustrie umfasst. Der Militärhaushalt stieg seit 2004 um fast 50 Prozent, hinzu kommt jetzt der Kauf moderner Ausrüstung, darunter U-Boote, Kriegshubschrauber und in Kooperation mit Frankreich der Bau von 36 Düsenjägern. Mit dem vorgesehenen Technologietransfer werde erstmals ein autonomer militärisch-industrieller Komplex in einem Landes des Südens entstehen, so der Wissenschaftler Raúl Zibechi. Die Truppenstärke von derzeit 210.000 soll um fast 60.000 Soldaten aufgestockt werden, die ausnahmslos in die Amazonasregion entsandt werden, wo auch über 20 neue Grenzkontrollpunkte eingerichtet werden.
Außerhalb der Landesgrenzen ist brasilianisches Militär aktuell nur in Haiti präsent. Das Kommando der dortigen UN-Mission untersteht einem brasilianischen General; ein Großteil der knapp 10.000 Soldaten kommt aus Brasilien. In Folge des Erdbebens im Januar dieses Jahres kam es zu Unstimmigkeiten mit der US-Militärführung, die unter Verweis auf das Chaos vor Ort die Regie übernahmen und de facto die brasilianische Führungsfunktion übernahmen.
Die Konkurrenz zu den USA zieht sich wie ein roter Faden durch die jüngere Geschichte. Schon 2002 buhlten beide Staaten um den Führungsanspruch bei Vermittlungen in Venezuela, unter anderem in der Gruppe der Freunde Venezuelas. Damals blies die Opposition zum Sturm gegen die Chávez-Regierung. Es war ein erster internationaler Erfolg Lulas, den Handlungsspielraum Washingtons damals eingeschränkt zu haben.
In diesem Kontext steht auch die heftige Kritik, die Brasilien gemeinsam mit der Unasul an dem Putsch in Honduras im vergangenen Jahr äußerte. Der Unmut und die realistische Einschätzung, dass die USA den Machtwechsel in Folge des Putsches letztendlich absegnen würden, verleitete das brasilianische Außenamt zu einem ersten riskanten internationalen Abenteuer. Die Botschaft in Tegucigalpa gewährte dem abgesetzten Präsidenten Manuel Zelaya Unterschlupf, nachdem er illegal ins Land geschleust worden war. Kaum jemand glaubt ernsthaft, dass Brasilien nicht von Anfang an in den Plan involviert war, Zelayas Rückkehr und Wirken in Land selbst zu ermöglichen.
Die jüngste Episode ist Brasiliens Einmischung in den Atomstreit um den Iran. Kurzerhand wurde die Türkei als Partner gewonnen, direkte Verhandlungen geführt und ein konkreter, wenn auch nicht ganz überzeugender Plan für eine Lösung des Konflikts präsentiert – getreu der Logik Lulas, dass Dialog immer besser ist als Drohen oder Sanktionen verhängen. Die USA und Europa gerieten kurz in Verlegenheit, ließen sich das Ruder aber nicht aus der Hand nehmen.
Im eigenen Land werden die internationalen Ambitionen der brasilianischen Außenpolitik wohlwollend zur Kenntnis genommen, teilweise aber auch kritisiert. Das Engagement in Haiti ist vielen Linken ein Dorn im Auge, die Rede ist von einem neues Imperialismus, der weder sinnvoll noch an der Tagesordnung sei. Die Rechte moniert das Abenteuer in Honduras ebenso wie die Unterstützung Venezuelas. Wenn sich Lula gegenüber selbstbewussten Äußerungen aus Bolivien und Ecuador tolerant gibt oder in Sachen Menschenrechten in Kuba keine eindeutige Stellung bezieht, kommt von rechts aber auch schnell die Forderung, Brasilien solle entsprechend seiner Führungsrolle mehr Eigeninteresse oder Initiative zeigen.
Jenseits solch ideologisch motivierter Einwände entspricht die neue weltpolitische Rolle des Landes genau dem erstarkten Selbstbewusstsein, das Brasilien nach acht Jahren Lula-Regierung auszeichnet. Die Frage, ob es Sinn macht oder moralisch wie politisch wünschenswert ist, dass ein weiterer Global Player in einem unveränderten internationalem Macht-Wettbewerb mitspielt, wird kaum gestellt. Der umfassende Konsens ist, dass ein – lange Zeit zu Unrecht abhängiges – Land des Südens das Recht hat aufzuholen und seiner – von kolonialen Mächten geschaffenen – Größe entsprechend wahrgenommen werden soll. Eine Haltung, die nachvollziehbar ist und die herkömmliche Machtverteilung zu Recht in Frage stellt. Die Schaffung einer gerechteren, solidarischen Welt ist damit nicht unbedingt gemeint.
(Der Bericht ist erschienen in der ila 339 vom Pktober 2010)
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