Das Dorf, die Pandemie und der Frieden

(Viterbo, 11. Januar 2022, npla).- Kolumbien ist von der Corona-Pandemie stärker getroffen als viele andere Länder des Südens. Fast fünf Millionen Fälle, über 130.000 Tote. Kolumbien war auch Schauplatz eines jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts zwischen der FARC-Guerilla und der Armee. Hinzu kamen Drogenkriege und die gefürchteten paramilitärischen Gruppen als verlängerter Arm von Großgrundbesitzern. Das Friedensabkommen von 2016 ist brüchig, vor allem, weil die aktuelle Regierung von Präsident Iván Duque gegen ihn arbeitet. Aber es bewegt sich etwas in Kolumbien, nicht nur in den großen Städten, auch auf dem Land. Zum Beispiel in Viterbo, einem Dorf in der Kolumbiens Haupt-Kaffeeregion, das nicht nur von einer besseren, neuen Normalität träumt, sondern aktiv daran arbeitet.

Das Dorf Viterbo liegt leicht erhöht über dem Risaralda Fluss im Department Caldas. Der Blick schweift über ein weites Tal, mit den Bergketten der Anden zu beiden Seiten. Viterbo mag klein sein – nur rund 10.000 Menschen leben hier -, hat aber eine lange musikalische Tradition. Mit seiner Band, Camaleón, tourt Julián Díaz wieder mindestens drei Tage in der Woche durch die Gegend. Endlich wieder, denn es seien 18 sehr schwierige Monate gewesen. Konzerte, Projekte, eine Tour durch Peru, alles sei abgeblasen worden: „Wir waren natürlich frustriert, so eingeschlossen zu Hause. Aber wir haben weitergearbeitet. Wir hatten viel Zeit, um Projekte für die Zeit während und nach der Pandemie zu entwickeln. Das hatte also auch etwas Gutes für sich“, erzählt Julián.

Neue Geschäftsideen in der Pandemie

Zur Untätigkeit verdammt waren in Viterbo nicht nur die Künstler*innen. Das Handwerk musste die Geschäfte schließen, Studierende konnten nicht mehr zu ihren Unis fahren. Was tun? Diego Mejía hat sich inmitten der Krise selbstständig gemacht und das Startup Miceltec gegründet. Die kleine Firma produziert Speisepilze und erforscht andere Nutzungsmöglichkeiten von Pilzen: als Zersetzer von Plastikabfällen oder als Vitalpilze und Nahrungsergänzungsmittel. „Die Pandemie war gut für uns“, sagt der junge Biologe. Die Freund*innen hätten ja nichts zu tun gehabt, also habe man im Mai 2020 gemeinsam Miceltec gegründet. Und für Miceltec sieht Diego großes Potenzial: „Wir haben hier eine Wasserader, damit gibt es unendlich viele Möglichkeiten, von Viterbo aus Waren zu produzieren und in die Welt zu exportieren. Die Grenze ist lediglich unsere eigene Vorstellungskraft.“

Bei Miceltec arbeiten heute gut ein Dutzend Freund*innen von Diego im Marketing, im Vertrieb, beim Bau der Pilzfarm, im Labor, in der Forschung und beim Verkauf. Auch Sänger Julián ist Teil der Gruppe. Noch findet alles im kleinen Haus und im Hof von Diegos Mutter Cristina statt. Das Wohnzimmer ist zum Büro umfunktioniert, das Bad heute Labor, am Waschplatz wird keine Wäsche mehr gewaschen, sondern Pilze und Gerät. Aber der Verkauf der Austernpilze und die Entwicklung neuer Anwendungszwecke laufen mittlerweile so gut, dass sich Miceltec erweitern muss. Ohne die Pandemie wäre all das kaum vorstellbar gewesen.

„Das war für alle sehr schwer, vor allem für die Kinder und ihre Eltern“

Die 50-Jährige Cristina Jiménez ist Chefin des kleinen kommunalen Versorgungsunternehmens von Viterbo. Auch sie fühlt sich dem Ort sehr verbunden. Im Gegensatz zu Julián und Diego hat Cristina vor allem das erste Pandemiejahr als extrem belastend wahrgenommen: „Obwohl Viterbo sehr klein ist, hat uns Covid extrem hart getroffen. Viele Menschen sind gestorben. Betriebe, Geschäfte und Schulen waren dicht. Das war für alle sehr schwer, vor allem für die Kinder und ihre Eltern“. Vor Omikron hatte sich die Lage entspannt. Die meisten Menschen konnten sich impfen lassen, die Infektionen sanken beträchtlich. Aber die Pandemie habe gezeigt, dass Viterbo, wie Kolumbien allgemein, auf so etwas nicht vorbereitet war. Das Gesundheitssystem ist unter Ex-Präsident Uribe privatisiert worden, die Gesundheitsversorgung ist für die Ärmeren heute äußerst prekär. Das sei nicht nur Viterbo in der Pandemie auf die Füße gefallen, so Jiménez.

Nun lebt das Dorf wieder auf, Julián Díaz und seine Band touren wieder fleißig, die Geschäfte sind geöffnet, auf die Bürgersteige haben Cafés und Restaurants wieder ihre Tische gestellt. Auf dem zentralen Platz sitzen im Schatten der Bäume und abends wieder viele Bewohner*innen und Gäste. Kaum zu glauben, dass Viterbo noch vor 20 Jahren als eines der gefährlichsten Dörfer Kolumbiens galt.

Viterbo – einst Wiege der Drogenbanden

„Ja“, bestätigt Cristina Jiménez, es sei schlimm gewesen. Viterbo sei damals eine Wiege der Drogenbanden gewesen. Die hätten sich für Götter gehalten, viele Jugendliche seien vom schnellen Geld angezogen worden, sagt die vierfache Mutter. „Noch heute antworten Leute, denen ich erzähle, dass ich aus Viterbo komme: Viterbo? Oh, wie fürchterlich, da wo alles blutrot gefärbt ist, wo alle Türen verriegelt sind“. Es habe regelmäßig Schießereien in den Kneipen und Cafés gegeben. „Ich habe das selbst erlebt, die wollten einen meiner Neffen ermorden, weil sie ihn nicht kannten. Ich habe gebettelt, dass sie ihn am Leben lassen.“

Was hat Viterbo gerettet? Die Regierung? Nein, sagt Cristina. Irgendwann hätten sich die Banden selbst so dezimiert, dass es langsam ruhiger wurde. Gleichzeitig habe sich das Dorf organisiert, es gebe heute eine engagierte Dorfpolizei und mit der Rückkehr von Tagesausflüglern aus der nahen Großstadt Pereira auch wieder mehr Jobs, vor allem für junge Menschen. Und die Jugend sei heute nicht mehr so leichte Beute wie früher, sie sei informierter, bewusster und kämpferischer.

Auch junge Menschen aus Viterbo schlossen sich im April 2021 dem landesweiten Generalstreik an

In Kolumbien begann das zweite Pandemiejahr 2021 begann mit einer großen Protestwelle gegen die Regierung von Iván Duque. Von April bis Juni waren vor allem junge Menschen auf der Straße, demonstrierten in den Städten und Dörfern, sperrten Landstraßen. Der Protest hatte sich an einer Steuerreform entzündet, mit der die Regierung in Bogotá die in der Pandemie aus dem Ruder gelaufenen Staatsfinanzen wieder ins Lot bringen wollte. Schnell aber ging es um mehr: Um den Rücktritt der Regierung Duque, um den Respekt vor dem Friedensabkommen und die Reform der sozialen Sicherungssysteme, gegen die in Kolumbien notorische Polizeigewalt und die Ermordung von sozialen Aktivist*innen, gegen die zunehmende Armut im Land. Auch in Viterbo stiegen junge Menschen auf ihre Motorräder, um die Hauptverbindung zwischen Medellín und Cali zu blockieren, die auf der anderen Flussseite durchs Tal führt. Auch zwei Studentinnen, die Pianistin Yuli und die Umweltschützerin Sofía, waren dabei. Yuli hat an der Universität gelernt, wie ungerecht das System ist und wie schlimm die Regierung. Ihr wurde klar: „Die Älteren haben in Angst gelebt und viele haben dennoch ihr Leben riskiert. Jetzt müssen wir Jungen uns Gehör verschaffen. Es ist unser Leben.“

Auch Sofía war bei den Protesten dabei: „Dass so viele Menschen aus ihren Häusern kamen, hat mir Mut gemacht, dass die Veränderungen, die die Menschen so lange erhofft hatten, nun kommen könnten. Da waren so viele Menschen, die ebenfalls keine Angst mehr hatten. Diese kollektive Freude und Kreativität zu spüren, zu sehen, dass es gerade nach den schlimmen Monaten der Pandemie, eine enge Gemeinschaft gibt, das war wundervoll und hat mich unglaublich inspiriert.“

Wie sieht die Zukunft von Viterbo aus?

In Viterbo konnten junge Menschen wie Sofia weitgehend friedlich demonstrieren, aber in anderen Dörfern, in der Provinzhauptstadt Pereira und vor allem in Cali, schritt die Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD mit brutaler Härte ein. Am Ende gab es landesweit 75 Tote, Dutzende Verschwundene und weit über 3.000 Verletzte. Wegen der Polizeigewalt und einer neuerlichen Corona-Welle wurden die Proteste schließlich ausgesetzt. Die Wut über die Regierung Duque ist darüber aber so groß wie nie. Im Mai wird in Kolumbien gewählt. Es ist zu erwarten, dass die Proteste dann in eine neue Runde gehen. Denn Angst zu sähen und junge Menschen zu demoralisieren, das habe die Regierung diesmal nicht geschafft, sagt Yuli.

Julián Díaz singt das Lied „El regreso“, die Heimkehr. Über Menschen, die nach Jahren in der Ferne zurückkehren, alte Freundschaften wiederbeleben. Für Julián ist es kein Heimatbesuch, nicht nur ein flüchtiges, schönes Rendezvous mit der Vergangenheit, Viterbo ist sein Leben, seine Zukunft, der Ort, für den er sich engagiert, den er, so wie Cristina Jiménez, der Biologe Diego, und die Studentinnen Sofía und Yuli weiterbringen und nach der Pandemie wiederaufleben lassen will.

Hört euch zu diesem Thema auch unseren wunderbaren Audiobeitrag bei Radio Onda an!

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