Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 298 vom 17. Juli 1997
Inhalt
NICARAGUA
BRASILIEN
KUBA/USA
KUBA
PERU
URUGUAY
GUATEMALA
CHILE
LATEINAMERIKA
MEXIKO
NICARAGUA
Neue Sandinistenguerilla?
(Managua, 14. Juli 1997, pulsar-Poonal).- In der Umgebung der nördlich gelegenen Städte Esteli, Jinotega und Matagalpa sind drei neue bewaffnete Gruppen aufgetaucht. Sie sollen ihre Ursprünge im Sandinismus haben und sind gegen die Regierung von Präsidet Arnoldo Alemán gerichtet. Von den drei Gruppen mit den Namen Frente Unido Andres Castro (Vereinigtes Bündnis Andres Castro), Frente Revolucionario de Obreros y Campesinos (Revolutionäres Arbeiter- und Bauernbündnis) und Frente Norte Ramon Raudales (Nördliches Bündnis Ramon Raudales) soll die erstgenannte die stärkste sein. In ihr befinden sich dem Vernehmen nach erfahrene Kämpfer*innen und die Gruppe soll über eine gute Bewaffnung verfügen. In der Stadt Esteli berichteten katholische und evangelische Kirchenkreise über die Präsenz einer bewaffneten Bewegung mit mehr als 600 Mitgliedern. In Jinotega verhängte ein Abgesandter des Innenministeriums vorübergehend Maßnahmen, die einem Ausnahmezustand gleichkamen. Nach öffentlichem Protest in den nationalen Medien wurde sie jedoch nach zwei Tagen wieder aufgehoben. Militär- und Polizeibehörden ergriffen allerdings eine Reihe von Aktionen, um Angriffe auf die Städte zu verhindern.
BRASILIEN
Polizisten randalieren für höheren Lohn
(Brasilia/Montevideo, 13. Juli 1997, comcosur-Poonal).- Die brasilianische Polizei, die wiederholt durch krasse Menschenrechtsverletzungen in die Schlagzeilen geraten ist, fordert eine bessere Entlohnung ihrer Arbeit. Den vermeintlichen Ordnungshütern könnte zugute kommen, daß Präsident Cardoso und etliche Gouverneure der Bundesstaaten um ihre politische Zukunft besorgt sind, die bei den anstehenden Wahlen auf dem Spiel steht. Bei den ersten Demonstrationen schwenkten die Polizisten noch die Nationalflagge und beteten das Vater Unser. Danach stellten sie ihre Waffen zur Schau und warfen mit Steinen. Im Bundesstaat Minas Gerais setzten die Uniformierten so eine Lohnerhöhung von 48 Prozent durch, viermal so hoch wie die augenblickliche Inflation in Brasilien. In der Hauptstat wird die Entwicklung mit Besorgnis verfolgt. Die Regierung stellte den Bundesstaaten die Armee als ein Instrument zur Verfügung, um gegen den Polizeiaufruhr vorzugehen.
KUBA/USA
Verhandlungen über Flüchtlinge und Einwanderer
(New York, 14. Juli 1997, prensa latina-Poonal).- Kuba und die USA führen am Sitz der Vereinten Nationen die siebte Gesprächsrunde über das Thema Migration. Für die kubanische Seite führt Parlamentspräsident Ricardo Alarcón die Delegation an, die USA schicken mit John Hamilton den Staatssekretär des nordamerikanischen Außenministeriums für Mittelamerika und die Karibik. Inhalt der Gespräche ist die Erfüllung der 1994 und 1995 geschlossenen Abkommen. Ob es eine neue, umfangreichere Vereinbarung geben wird, ist noch unklar. Die USA hatten sich bei den vergangenen Gesprächen verpflichtet, jährlich mindestens 20.000 Visa für einwanderungswillige Kubaner*innen auszustellen. Sie sagten zu, illegal einreisende Kubaner*innen zurückzuschicken, was bisher in mehr als 600 Fällen geschah. Kuba ist jedoch nicht vollständig mit der Einhaltung der Abkommen zufrieden. So verlangt das Land die Auslieferung des Kubaners José Fernández Pupo, der im vergangenen Jahr ein kubanisches Flugzeug entführte und von einem US-Gericht freigesprochen wurde.
KUBA
Che kehrt zurück
(Havanna/Montevideo, 13. Juli 1997, comcosur-Poonal).- Nach 30 Jahren ist Ernesto Che Guevara nach Kuba zurückgekehrt. Seine sterblichen Reste sowie die der drei anderen kubanischen Guerilleros, die mit ihm ihn Bolivien kämpften, waren zuvor endgültig identifiziert worden. Auf Kuba fand ein Staatsakt statt, bei dem die Kinder der Guerilleros Präsident Fidel Castro baten, die Särge entgegenzunehmen. „Mehr als unsere Väter sind es Söhne des Volkes, das sie so würdig vertreten“, verlas Che Guevaras Tochter Aleida eine Erklärung. Mit zum Teil gebrochener Stimme sagte sie weiter: „Vor mehr als 30 Jahren verabschiedeten sich unsere Väter von uns, sie gingen weg, um den Idealen von Bolívar, von Martí zu folgen… heute sind ihre sterblichen Überreste hier, aber sie kommen nicht als Besiegte, sondern als Helden, ewig jung, stark, kühn, mutig…“ Mit Guevara kehrten auch Alberto Fernández, René Martínez und Orlando Pantoja zurück. In Uruguay versicherte der ehemalige Guerillero und Führer der Tupamaros, Julio Marenales, Che bleibe lebendig, denn die Ziele, für die er sein Leben gelassen habe, seien noch nicht erfüllt.
PERU
Fujimori entzieht unbequemem Verleger die Staatsbürgerschaft
(Lima/Montevideo, 15. Juli 1997, comcosur/pulsar-Poonal).- Mit der Aberkennung der peruanischen Staatsbürgerschaft für den Eigentümer des Fernsehkanals „Frecuencia Latina-Canal 2“ hat das Vorgehen der peruanischen Behörden gegen die kritischen Medien einen neuen Höhepunkt erreicht. Dem Unternehmer Baruch Ivcher, der sich derzeit in den USA aufhält, werden Unregelmäßigkeiten bei der Beantragung der peruanischen Nationalität vorgeworfen. Sie war ihm im Dezember 1994 verliehen worden. Die peruanische Staatsgewalt reagierte nur Stunden, nachdem im Programm „Contrapunto“ von Frecuencia Latina belegt wurde, daß die peruanischen Geheim- und Sicherheitsdienste systematisch die Telefongespräche von Politiker*innen, Journalist*innen, Unternehmer*innen, Richter*innen und ausländischen Diplomat*innen abhören. Damit hat die Regierung erneut einen Skandal ausgelöst Mehrere Opfer der Spionage erklärten, Fujimori habe eine Dikatur, ein Polizeiregime errichtet.
Während des Fernsehprogrammes wurden 197 Aufnahmen von abgehörten Telefongesprächen wiederholt, einschließlich eines Telefonates eines regierungstreuen Verfassungsrichters. Der Generalstaatsanwalt Miguel Aljovin sagte eine Untersuchung über die von Frecuencia Latina aufgedeckte Telefonspionage zu. Das Abhören von Telefonaten ist in der Amtszeit Fujimoris mehrmals Diskussionsthema gewesen. Zur Rechenschaft gezogen wurde deswegen aber noch niemand. Der peruanische Ombudsman Jorge Santisteban erklärte seine Bereitschaft, sich des Themas anzunehmen. Den Entzug der peruanischen Staatsangehörigkeit von Baruch Ivcher bezeichnete er als verfassungswidrig.
URUGUAY
Daumenschraube für Community Radios?
(Montevideo, 13. Juli 1997, comcosur-Poonal).- Der Abgeordnete Jaime Trobo von der regierenden nationalistischen Partei hat einen Gesetzesentwurf präsentiert, der vorsieht, die sogenannten „illegalen Übertragungen“ von Radio und Fernsehen mit Haftstrafen von einem bis zu sechs Jahren zu belegen. Dem Gesetzesinitiator ist daran gelegen, eine „internationale Tendenz“ zu stoppen, „die Gesetzesverletzungen als politische Methode fördert und die illegalen Sendungen unterstützt und den billigen Kauf von Ausrüstungen erleichtert“. Die Strafen sind für diejenigen gedacht, die die Übertragung durchführen. Straferschwerend soll es sein, wenn Minderjährige an den Sendungen beteiligt werden. Zur Mitarbeit an der Gesetzesinitiative war auch die Vereinigung der privaten Radios eingeladen worden. Reaktionen haben nicht auf sich warten lassen. Die oppositionelle Frente Amplio/Encuentro Progresista bezeichnete den Gesetzentwurf als ein Beispiel für die „Unterdrückung “ der Grundrechte. Gustavo Gómez, Mitglied der Koordination der Community Radios wiederholte seine Position, daß es in Uruguay „keinen freien Zugang zu den Medien gibt. Die einzige Option ist, daß sie uns eine Sendeerlaubnis geben, dann löst sich alles.“
Reaktionen auf ETA-Mord
(Montevideo, 13. Juli 1997, comcosur-Poonal).- Der Tod des spanischen Gemeinderats Miguel Angel Blanco, der von der ETA umgebracht wurde, hat in Uruguay unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Gruppen der Rechten beschuldigten die uruguayische Linke, mit der nationalistischen baskischen Gruppe und der Gewalt einverstanden zu sein. Stunden vor der Tat hatte die Bewegung der Nationalen Befreiung (MLN-Tupamaros), in den 60er und 70er Jahren eine Guerilla-Organisation und heute Mitglied der Frente Amplio/Encuentro Progresista, einen an die ETA gerichteten Brief öffentlich gemacht. Darin wird daran erinnert, daß die MLN 1994 gemeinsam mit dem Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT und der Linken die baskischen Familien im uruguayischen Exil unterstützte. Die MLN weist auf die Demonstration gegen die Auslieferung dreier angeblicher ETA-Mitglieder an Spanien hin. Damals brachten die staatlichen Sicherheitskräfte zwei Menschen um und verletzten 90 Demonstrant*innen. Das Ereignis ist als das „Massaker von Jacinto Vera“ in Uruguay bekannt. Aus Anlaß dieses Demonstrationszuges stehen immer noch mehrere Mitglieder der MLN vor Gericht und eines der beiden einzigen Radios der Linken – CX Radio Panamericana, das damals direkt übertrug – wurde geschlossen. Die Tupamaros bitten „bescheiden, ohne unpassende und unmögliche Einmischungen zu versuchen“, daß die ETA ihren Beschluß überdenkt: „Wir bitten Euch um das Leben von Miguel Angel Blanco“ Die Bewegung bringt mehrere Gründe für ihr Anliegen vor. „Wir haben in sehr harten Zeiten… gegen die Todesurteile des Franquismus gekämpft. Heute kämpfen wir gegen die (Urteile), die verschiedene Regime unberufen fällen. Wir würden unsere Legitimität verlieren, wenn wir schweigen.“ Ein anderer angeführter Grund ist „ein ganz kleiner Beitrag zum Frieden, den das Baskenland und alle in Spanien verdient haben… Wenige Völker gaben soviel und litten soviel für die Sache der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit gegen den Faschismus.“ Das Dokument endet mit der Bekräftigung, sich dem „Kampf für die Rechte der baskischen Häftlinge“ verpflichtet zu fühlen.
GUATEMALA
CONDEG hat Arbeit für die Regierung
(Guatemala-Stadt, 15. Juli 1997, cerigua-Poonal).- Elftausend Familien, die im Nationalen Rat der internen Vertriebenen Guatemalas (CONDEG) organisiert sind, warten auf neues Land, um dort leben und arbeiten zu können. Darüber informierte Lorenzo López vom Vorstand des CONDEG. Seine Organisation führt derzeit Verhandlungen mit der Paritätischen Landkommission für Indígena- Gemeinden und der Präsidentenbehörde für Rechtshilfe und Lösung von Landkonflikten. López kündigte an, die Regierung zu bitten, vorrangig die Landforderungen für die Gemeinden in den nördlichen Provinzen Alta Verapaz und Petén zu lösen, wo es heftige Landstreitigkeiten gibt. In der am Sonntag abgehaltenen Generalversammlung des Vertriebenenrates seien eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, das Problem zu lösen. Er verlangte von der Regierung, die in den Friedensabkommen vorgesehenen Regelungen für die entwurzelte Bevölkerung zu erfüllen. Bisher seien die Verpflichtugen nicht eingehalten worden. „Wir wollen, daß die Regierung uns interne Vertriebene landesweit juristisch anerkennt. Wir bitten nur um einen Ort zum Leben, wo wir Zugang zu den öffentlichen und sozialen Leistungen haben, um unsere Gemeinden entwickeln zu können“, so López.
Konkret fordert der CONDEG vom Staat, den rechtlichen Besitzstatus von 21 Fincas zu untersuchen, 17 Landstücke, auf denen derzeit vertriebene Famlien leben, zu legalisieren, Land für weitere 36 Gruppen Vertriebener zu kaufen sowie den Bau menschenwürdiger Wohnstätten zu fördern. Der CONDEG hat etwa 66.000 Mitglieder, zu 99 Prozent Mayas. Sie kommen aus 171 Gemeinden in zwölf Provinzen des Landes und repräsentieren vor allem sechs Ethnien: Mam, Kíche, Qéqchi, Kaqchiquel, Ixiles und Achi.
Gewalt und Lynchjustiz nehmen zu
(Guatemala-Stadt, 10. Juli 1997, cerigua-Poonal).- Der guatemaltekische Bundesstaatsanwalt Hector Hugo Pérez gab zu, daß die Gewalttätigkeiten im Land sich deutlich erhöht haben. Ebenso gestand er ein, daß die anhaltenden Fälle von Lynchjustiz ein Zeichen für die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Justiz seien. Die Gruppe für gegenseitige Hilfe von Familienangehörigen Verhafteter und Verschwundener (GAM) bestätigte diese Einschätzung indirekt mit der Information, in den ersten sechs Monaten nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens seien über 834 Menschenrechtsverletzungen gemeldet worden. Darunter fallen nach Angaben von GAM 398 Morde und 98 Opfer von Lynchjustiz. Desweiteren berichtet die Organisation von 97 Entführungen, 54 Attentaten und 47 Verschwundenen. Die GAM weist darauf hin, daß in Guatemala Leben, Freiheit und Unversehrtheit der Bürger*innen gefährdet seien. Nach ihrer Einschätzung tut die Regierung zuwenig, um die Menschenrechte zu sichern.
Florierende Entführungsbranche
(Guatemala-Stadt, 10. Juli 1997, cerigua-Poonal).- Guatemala ist weltweit das Land mit den viertmeisten Entführungen. Das geht aus einem in Kolumbien veröffentlichten Bericht der Consultingfirma für Sicherheitsfragen International Froll Associates hervor. In der Entführungsindustrie wird Guatemala nur von Kolumbien, Mexiko und Brasilien übertroffen, die in dieser Reihenfolge die ersten drei Plätze belegen. Die Firma hebt hervor, daß die Entführungen im Jahr 1995 an Bedeutung gewannen und 1996 weiter anstiegen. Hauptzielscheiben in der florierenden Entführungsbranche seien Geschäftsleute und Großgrundbesitzer. In vielen Fällen sind ehemalige Polizisten und Soldaten die Täter. Der Vorsitzende der guatemaltekischen Handelskammer nannte den Bericht“ besorgniserregend, weil er das Land sehr schlecht dastehen läßt und dies die Ausländsinvestition beeinträchtigt. Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, diese Verbrechen auszulöschen.“
URNG für progressive Einkommensteuer
(Guatemala-Stadt, 10. Juli 1997, cerigua-Poonal).- Wer mehr verdient, soll auch mehr zahlen. Die festen Einkommensteuersätze müssen abgeschafft werden. Diese Meinung vertritt das URNG- Mitglied Arnoldo Noriega. Auf konkrete Steuersätze wollte sich Noriega jedoch nicht festlegen. Die Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) tritt für eine höhere Grundstückssteuer und die Besteuerung von brachliegendem Land ein. Derzeit sind die Sätze verschwindend gering. Das Thema Steuern wird in den politischen Kreisen Guatemalas seit einem Monat diskutiert, nachdem die internationalen Finanzorganisationen die Regierung drängten, die Steuereinnahmen zu erhöhen. Dies wurde als eine Bedingung für die Wirtschaftshilfe genannt, die Guatemala im Januar in Brüssel von den USA und den europäischen Staaten in Aussicht gestellt wurde. Kaum ein anderes Land in Lateinamerika hat eine so geringe Steuerquote wie Guatemala (knapp 8 Prozent im Jahr 1996; die Red.). Noriega wies eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die die Bezieher niedriger Einkommen relativ stärker trifft, zurück. Das sei für die Regierung der bequemste Weg, um die Staatskasse aufzufüllen, ohne die eigene Klientel – Industrie und Agraroligarchie – besonders zu belasten. In den Friedensabkommen versprach die Regierung, die Steuereinnahmen von 8,5 Prozent des Bruttosozialproduktes in 1997 auf 12 Prozent im Jahr 2000 zu erhöhen.
CHILE
Frei will Richter früher in Rente schicken
(Santiago de Chile, 15. Juli 1997, pulsar-Poonal).- Präsident Eduardo Frei traf sich mit Vertreter*innen der politischen Parteien, um über eine Justizreform zu sprechen. Diese soll das Alter für die Ausübung des RichterInnenamtes auf 75 Jahre begrenzen. Gleichzeitig soll der Oberste Gerichtshof neu zusammengesetzt werden und die Form der Ernennung sich ändern. Frei nannte als Motiv für die von ihm vorgeschlagenen Änderungen, der Bevölkerung solle das Vertrauen wiedergegeben werden und der Oberste Gerichtshof selbst könne die Führungsrolle wiedererlangen, die das Land von ihm erwarte. Die Mehrheit der chilenischen Parteien hat die Stimme ihrer Abgeordneten für Freis Initiative zugesagt. Viele Richter*innen sind gegen die Maßnahme. So bezeichnete der Richter Valenzuela, Mitglied der Obersten Gerichtshofes, das Vorhaben als ein „sehr gewagtes Experiment“. Die Justizreform soll in einem Moment in Angriff genommen werden; vier hohe Richter stehen zur Disposition, weil sie einen Drogenhändler trotz eindeutiger Beweise freigesprochen haben. Die Untersuchungen betreffen auch Servando Jordan, den Vorsitzenden des Obersten Gerichtes.
LATEINAMERIKA
Die Tyrannei der Konzerne – Interview mit Noam Chomsky, Teil 1
(Quito, Juli 1997, alai-Poonal).- Nach Ansicht von Bewunderern, aber auch zahlreichen Experten, ist der Nordamerikaner Noam Chomsky für die Linguistik, was Einstein für die Physik bedeutet. Der hochkarätige Wissenschaftler wird von den offiziellen Gremien jedoch wegen seiner politischen Militanz und der nicht selten ausgesprochen polemischen Wortmeldungen, die bei seinem Widerstand gegen die US-Intervention in Vietnam erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden, nur sehr ungern mit Beachtung gewürdigt. Das verstärkte sich noch mit seinen Untersuchungen über die subtilen Mechanismen ideologischer Kontrolle in seinem Land, die durch die großen Massenmedien und die herrschende Politik ausgeübt wird. Dennoch hat dies nicht verhindert, daß Chomsky als einer der scharfsinnigsten Beobachter der internationalen Politik anerkannt ist. Vielleicht hat ihn das angesehene Technische Institut von Massachusetts (MIT) deswegen als eine der hervorragenden Figuren in seinen Reihen. Für Alai sprach Hugo Benítez mit Chomsky über die weltpolitische Lage, wobei der Schwerpunkt auf Lateinamerika lag. Wir veröffentlichen das Interview aufgrund seiner Länge in mehreren Teilen.
Frage: Lateinamerika scheint in den Überlegungen der US-Regierung von Bill Clinton keine hervorgehobene Rolle mehr zu spielen. Die Bürgerkriege und Guerillaaktivitäten sind abgeflaut. Dieser Wandel wird von einigen Beobachter*innen auch als Übergang vom „Krieg niedriger Intensität“ zur „Demokratie niedriger Intensität“ bezeichnet. Stimmen Sie dieser Analyse zu?
Chomsky: Ich glaube, die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber Lateinamerika ist über einen langen Zeitraum stabil geblieben. Sie ähnelt sehr stark derjenigen, die in internen Dokumenten Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre erklärt und vorgezeichnet wurde. Lateinamerika hat eine Rolle zu spielen: Es muß Rohstoffquelle sein, billige Arbeitskräfte für die Produktion stellen und Absatzmarkt für die Produkte der USA sein. Das muß auf eine bestimmte Art organisiert sein und wenn dies unter einer formalen Demokratie möglich ist, umso besser. Aus Öffentlichkeitsgründen bleibt das nach wie vor ein Vorteil, aber es muß unter der festen Kontrolle der internationalen Investoren und ihrer örtlichen Verbündeten geschehen – eine Verbindung, die zu einer Interessengemeinschaft wird.
Die Vereinigten Staaten stellen sich der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas nicht entgegen, aber immer haben sie eine komplementäre Entwicklung gewollt. Dies ganz ausdrücklich in zurückliegender Zeit, in den 40er und 50er Jahren. Beispielsweise wurde Brasilien in den 40er Jahren erlaubt, Stahlfabriken zu bauen. Aber nur, wenn diese einen ganz bestimmten Stahl produzierten, den die Fabriken in den USA nicht herstellen wollten, Niedrig-Technologie mehr oder weniger. Außerdem mußte das in die US-Programme integriert sein. Ein Effekt davon ist die Privatisierung. Privatisierung bedeutet ganz einfach, die Macht über ein Land und seine Ressourcen zu übernehmen – für gewöhnlich durch ausländische Unternehmen, die sich dadurch charakterisieren lassen, daß sie radikal antidemokratisch sind. Es gibt nichts antidemokratischeres als einen Konzern, es handelt sich einfach um eine Tyrannei. Es sind diese ausländischen Tyranneien, die die Kontrolle über die Ressourcen eines bestimmten Landes übernehmen und die Präsenz des Staates auf ein Minimum reduzieren, indem sie den Raum minimieren, in dem die Öffentlichkeit irgendeine Entscheidungsmöglichkeit hat. Wenn dies in einem demokratischen Rahmen geschehen kann, umso besser, denn es erleichtert die Öffentlichkeitsarbeit. Wenn man zwischen zwei identischen Parteien auswählen muß, wird die Angelegenheit noch schöner und man könnte fast sagen, daß die Demokratie wunderbar ist. Die Frage ist, ob das wirklich funktioniert. Wer ist wirklich der Herr?
Sprechen wir von Brasilien, dem wichtigsten Land im Süden des Kontinents. Die Vereinigten Staaten übernahmen bis 1945 die Kontrolle Brasiliens. Sie haben ein Versuchsfeld, auf dem sie wissentschaftliche Methoden der Entwicklung erproben und bis bis in die 90er Jahre praktizieren konnten. Brasilien ist ein großes Land, das – obwohl es seinen eigenen Weg zu gehen versucht und ein bißchen unabhängig ist – doch den Bedingungen und der Kontrolle der USA unterliegt. Bis zu den 80er Jahren wurde es gelobt, weil dort angeblich ein „Wirtschaftswunder“ stattfand, was aber nur ein Ausdruck für den ungemein erfolgreichen Einfluß der USA in dem Land war. Nimmt man die UNO-Berichte zur menschlichen Entwicklung als Maßstab, dann liegt Brasilien nahe bei Albanien. Aber das war nie wichtig, denn es gab dort eine Gruppe von Reichen, von extrem reichen Leuten, die über den Großteil der Ressourcen verfügte. Es gab viele Investitionsmöglichkeiten und es gab wirtschaftliches Wachstum. Es wuchs schneller als Chile in den Jahren der Diktatur, da war es unwichtig, daß 75 Prozent der Bevölkerung in Armut lebte. Das ist das Modell und das Modell besteht weiter. Noch einmal: wenn dieses Modell in einer formalen Demokratie durchsetzbar ist, umso besser.
Die Guerillabewegungen und die Aufstände in den 80er Jahren mußten natürlich bekämpft werden, weil sie Versuche waren, dieses Entwicklungsmodell zu brechen. Die Kriege wurden in den meisten Ländern ausgeweitet, sogar gegen die (katholische) Kirche. Es ist nicht zufällig, daß die 80er Jahren mit dem Mord an einem Erzbischof (Monsignor Arnulfo Romero in El Salvador) begannen und mit dem Mord an sechs intellektuellen Jesuiten (ebenfalls in El Salvador) endeten. Es ist symbolisch, was passierte. Die Kriege nahmen ihren Ausgangspunkt in den 70ern mit Anschlägen auf Aktivisten wie Rutilio Grande. Als er ermordet wurde (im März 1977) wußten wir warum, aber hier hatte niemand von ihm gehört. Dennoch war dieser Mord ein wichtiger Schritt in der Zusammenarbeit der regulären Streitkräfte der Vereinigten Staaten mit den faschistischen Kräften der Region, die von der Mission beseelt waren, jene Mitglieder der Kirche zu attackieren, die Organisationsarbeit unter den Armen machten. Erzbischof Romero war das nächste Opfer, weil er eine große Ausstrahlung hatte. Dann, in den 80er Jahren, gab es die Liste der Märtyrer, von denen die meisten Campesinos, Arbeiter*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und einfache Leute waren. Ähnlich war die Entwicklung in Guatemala und dem Rest der Region.
Offiziell wurde die blutige Einflußnahme der USA mit dem kalten Krieg gerechtfertigt, aber damit hat es überhaupt nichts zu tun. In der Tat geschah in Haiti genau das gleiche, nachdem der kalte Krieg beendet war. Es ist dieselbe Geschichte: die Vereinigten Staaten, einschließlich Clinton, unterstützten eine Militärjunta und erlaubten den illegalen Handel mit Öl. Obwohl sie formal ein internationales Embargo mittrugen, ließen sie die Ölsendungen von Texaco zu – praktisch war das ein Embargo-Bruch. Der Handel ging trotz des Embargos weiter, sie hielten engen Kontakt mit den Militärführern, usw. Wenn nach den Schrecklichkeiten und den Morden, die alltäglich waren, die USA den Schritt zu einem formalen demokratischen System erlaubten, dann war das unter der Bedingung, daß ihr 1990 vorgeschlagenes Programm akzeptiert wurde, gegen das die Menschen massiv protestiert hatten. Erinnern wir daran, daß bei der damaligen Wahl der Kandidat der USA nur 14 Prozent der Stimmen erhielt, aber jetzt handelt es sich um das mit aller Macht durchgesetzte Regierungsprogramm. Und der legitimen Regierung (von Aristide) wurde die Rückkehr erst erlaubt, nachdem die Terrorwelle ihr Werk verrichtet hatte. Jetzt existiert dort eine formale Demokratie, an den jüngsten Wahlen nahmen nur 5 Prozent der Wähler*innen teil. Nur die Haitianer*innen können verstehen, was da passiert.
Nehmen wir den Fall Brasilien wieder auf, der, wie ich sagte, der wichtigste der Region ist. Dort findet gerade ein großer Skandal anläßlich der Privatisierung der Vale-Gesellschaft statt (Minengesellschaft Vale do Rio Doce), eine der drei oder vier lateinamerikanischen Gesellschaften in der Liste der 500 großen transnationalen Konzerne. Es handelt sich um ein sehr reiches Unternehmen, das größte in Brasilien, das im Grunde über die Mehrheit der Naturressourcen verfügt. Brasilien hat ein riesiges Mineralienvorkommen und der Großteil gehört Vale. Der Konzern hat eine große Infrastruktur mit Straßen, Häfen, Schiffen, Spitzentechnologie, eine große Einrichtung. Jetzt verkauft ihn die Regierung, zu einem unglaublich niedrigen Preis, wenn die brasilianischen Expert*innen recht haben. Die Bewertung ist von der amerikanischen Firma M. Lynch vorgenommen, die mit einigen der kaufinteressierten Konzerne verbunden ist. Eine von den größten davon ist die anglo-amerikanische Gesellschaft „Sudafricana“. Was dabei deutlich wird, ist, daß derzeit ein großer Teil der brasilianischen Zukunft in die Hände ausländischer Konzerne übergeht. Es wäre nicht überraschend, wenn wir in etwa zehn Jahren feststellten, daß Mitglieder der brasilianischen Regierung Teil des Aufsichtsrates des Unternehmens sind. Ich muß nicht erklären, wie das funktioniert. Mexiko ist ein gutes Beispiel dafür. Das ist das Programm, die Ressourcen und die Kontrolle der Bevölkerung an die privaten Tyranneien zu transferieren, die mit den Großmächten, im wesentlichen den USA, verbunden sind, um den Einfluß der Öffentlichkeit weitgehend einzuschränken. An diese Parameter muß sich die formale Demokratie anpassen. Mehr noch, wenn die Volksmobilisierung wieder aufflackert oder wenn innerhalb der Kirche eine zusammenhängende Bewegung registriert wird, um die Option für die Armen wieder aufzunehmen, wäre es überhaupt nicht erstaunlich, wenn zur Gewalt zurückgekehrt würde. Der aktuelle Fall Kolumbien ist ein deutlicher Hinweis darauf.
MEXIKO
Mächtigster Drogenboß angeblich gestorben
(Mexiko-Stadt, 13. Juli 1997, pulsar-Poonal).- Der König ist tot, es lebe der (neue) König. Nach dem mutmaßlichen Tod des mächtigsten mexikanischen Drogenbosses Amado Carillo, der als Herr der Himmel bekannt war, stellt sich die Nachfolgefrage (Es gibt immer noch leichte Zweifel, ob es sich bei dem Toten tatsächlich um Amado Carillo handelt. Angeblich starb er während einer Gesichtsoperation, mit der er sein Aussehen verändern wollte; die Red.). Eine Konfrontation rivalisierender Banden um die Vorherrschaft im Drogengeschäft wird nicht ausgeschlossen. Möglich ist aber auch, daß alles in den Händen der Familie bleibt. Mehrere Quellen glauben, daß Vicente und Rodolfo Carillo, die Brüder des Verstorbenen, dessen Kartell nun weiterführen werden. Carillo kontrollierte etwa 60 Prozent des in den USA konsumierten Kokains. Dies brachte ihm nach den gewagtesten Schätzungen ein Vermögen von bis zu 25 Milliarden Dollar ein. Der wöchentliche Umsatz von Carillos Geschäft soll 100 Millionen Dollar betragen haben.
Poonal Nr. 298 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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