Migration von Kindern: Schulbänke bleiben leer

von Citlalli López Velázquez

(Santa María Yucunicoco, Oaxaca, 02. Oktober 2014, cimac).- Wenn der Lehrer Roberto Arreola frägt: “Wer hat vor, in die USA zu gehen?”, heben die Schüler und Schülerinnen der ersten Klasse der indigenen Grundschule Leyes de Reforma im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca die Hand. Der Besuch der Journalistin löst Unruhe unter den Mädchen und Jungen aus. Sie drängen sich an die Tür des Klassenzimmers; ein paar spähen mit ihren kleinen Augen unterhalb des Vorhanges durch das Fenster. Die Stimmen der Kinder überschlagen sich, wenn sie danach gefragt werden, warum sie in die USA gehen möchten.

Im Norden “gibt es Geld”

“Mein Papa ist dort” – “dort ist mein Bruder, er ist dort geboren” – “ich will gehen, aber ich habe keine Papiere” – “ich habe Papiere” – “ich auch” – “ich will gehen, um Geld zu machen”, sind einige der Antworten. “Wer meint, dass es dort Geld gibt?”, werden sie gefragt. Erneut überstürzen sich die Stimmen in einem schrillen: “Ich!”. “Ich weiss, dass es dort Geld gibt. Mein Bruder hat mir gesagt, dass er viel Geld hat”, erklärt ein Junge mit Zahnlücken.

In der ersten Klasse sind 35 Jungen und Mädchen. Mindestens fünf von ihnen reisen regelmäßig als Tagelöhner*innen auf die Felder in Camalú auf der Halbinsel Baja California. Weitere 15 wurden in den USA geboren, wieder andere haben Väter, Mütter oder Geschwister im nördlichen Nachbarland. In diesem Jahr sind bereits zwei der Kinder in die USA emigriert.

Schulkinder auf der Reise in den Norden

Esáu und Imelda werden als nächstes aufbrechen. Schon seit einem Monat planen sie ihre Reise, um sich mit ihren Eltern zu treffen, die im Mai ein zweites Mal in die USA emigriert sind. Esáu ist sieben Jahre. Gemeinsam mit seiner fünfjährigen Schwester Imelda werden sie sich nach Ende des Schuljahres auf die Reise machen.

Esáu ist in den USA geboren, aber er hat keinen Reisepass. Seine Familie hat seine Papiere in Ordnung gebracht, damit er nicht heimlich in sein eigenes Land zurückkehren muss. Imelda dagegen befindet sich in einer gefährlicheren Lage. Sie ist aus Oaxaca und wird auf irregulärem Wege die Grenze überqueren.

“Als sie gingen haben sie mir gesagt: bleib du hier, am Ende des Schuljahres wirst du nachkommen. Ja, hab ich gesagt. Ich war ein bisschen traurig, aber jetzt werde ich sie bald wieder sehen”, erzählt Esáu aufgeregt. Der Junge ist ganz zierlich, so dünn, dass die Kleidung um seinen Körper tanzt. Sein Gesicht ist von der Sonne dunkel gebräunt und von abstehendem, aschfarbenem Haar gekrönt.

Ohne Papiere über die Grenze

Einen Kilometer von der Schule entfernt, am oberen Rand der Siedlung, befindet sich das Haus von Esáu und Imelda, die gemeinsam mit ihrer Grossmutter Paulina leben. Die Frau unterbricht ihre Arbeit vor der Waschstelle, wo sie Hühnchen für die Schuljahresabschlussfeier putzt, die zu Ehren der Jungen und Mädchen der Familie stattfinden wird. Sie trocknet sich die Hände und setzt sich auf den Rand einer Holzbank draußen vor der Küche ihres Hauses.

“Ihre Eltern sagen mir, ich solle sie losschicken. Esáu hat keine Probleme, da wir bereits die Papiere in Ordnung gebracht haben, aber Imelda wird mit Hilfe eines ‘pollero’ (Schleuser) die Grenze überqueren müssen und das bringt sie in Gefahr”, gibt Paulina zu. Als Paulina jünger war ging auch sie in die USA. Dort wurde ihre erste Tochter geboren, die nun mit über 25 Jahren zurück möchte, dies jedoch nicht tun kann, da sie keinen Pass hat.

Erneuter Aufbruch in den Norden

Paulina lebte in Florida und kehrte zwei Jahre später zurück (nach Yucunicoco im Bundesstaat Oaxaca). Hier wurden ihre anderen sieben Töchter und Söhne geboren; spater sah Paulina zu wie diese, einer nach dem anderen, auf ihren eigenen Spuren in das Land im Norden aufbrachen.

Im Jahr 2006 ging die damals noch minderjährige Isela, die zweitälteste Tochter Paulinas und Mama von Esáu und Imelda, in die USA, gemeinsam mit ihrem jungen Mann aus der gleichen Gemeinde. Sie haben nur die Telesecundaria (eine weiterführende Schule mit Fernsehunterstützung) abgeschlossen und geheiratet. Wenige Monate später begannen sie die Reise quer durch die Wüste.

In den USA wurde Esáu geboren und die Familie kehrte zurück nach Yucunicoco in der Hoffnung, dort Wurzeln zu schlagen. Zwei Jahre später kam Imelda zur Welt und die Bedürfnisse stiegen. Vergangenen April entschied sich das Paar, zurück in die USA zu kehren. Nun, bereits mit einer sicheren Arbeit, gaben sie Paulina den Auftrag, die Kinder für ein Wiedersehen loszuschicken.

Schulbänke bleiben leer

Der Lehrer Roberto Arreola erklärt: “Die Mehrheit der Kinder in Yucunicoco lebt mit einem Familienangehörigen, da ihre Eltern in Richtung Norden ausgewandert sind. In manchen Fällen wollen diese, dass sie nachkommen, in anderen nicht.” In diesem Jahr seien drei der Schulbänke von Leyes de Reforma aufgrund der Migration leer geblieben, berichtet er.

Statistisch gesehen gibt es Kinder in der Schule, physisch jedoch nicht. Normalerweise kehren jene, die zum arbeiten nach Camalú gehen im November zurück. “Es gibt Jungen und Mädchen, die sechs Monate lang fort sind und nur zum Abschluss des Schuljahres kommen, um ihre Unterlagen abzuholen. Durch die Schulreform kann kein Kind durchfallen und das sichert die Anwesenheit in der Schule, wenn auch nur temporär. Dies ist ein Lebensstil in der Gemeinde”, meint der Lehrer.

Die Konsequenzen, fügt er hinzu, sind schwere Probleme beim Lernen und im Verhalten, das die Kinder im Umfeld der Schule zeigen.

Soziale Bedürfnisse in Yucunicoco

Laut Ivar Cortés Jiménez, stellvertretenden Rektor der Grundschule Ciencia y Renovación, die von der Schule Leyes de Reforma nur durch eine imaginäre Linie getrennt ist, stellen die Remesas, die Rücküberweisungen die wirtschaftliche Basis von Yucunicoco dar. “Manchmal handelt es sich um eine vollständige Migration der ganzen Familie; meistens jedoch gehen nur die Eltern, und das für viele Jahre. In der Schule spiegelt sich diese Art der Migration wider. Es gibt Kinder in der ersten Klasse, die für zwei oder drei Jahre fort sind und nur zum Schuljahresabschluss kommen.”

Die Strassen von Yucunicoco sind voll von Mädchen, Jungen und Hunden. In diesen Tagen steigt ein weißer Schleier aus den Winkeln der tiefen Wälder auf. Es fällt ein leichter Nieselregen und der Geruch nach Feuerholz liegt über dem ganzen Ort. Die Gemeinde befindet sich im Inneren des Verwaltungsbezirks Santiago Juxtlahuaca. Ein gefahrenreicher Weg von fast zehn Kilometern von der Hauptstrasse bis zum Dorf ist der einzig mögliche Zugang. Yucunicoco selbst hat 511 Einwohner*innen.

Der Ort steht an erster Stelle auf der Liste mit den vier Indikatoren für sozialen Rückstand: Zahl der Analphabet*innen, fehlendes Leitungswasser aus dem öffentlichen Netz, Mangel an elektrischer Energie und Häuser deren Fußböden aus Erde sind. Neunzig Prozent der Bevölkerung besitzen keinen rechtlichen Zugang zu einer gesundheitlichen Einrichtung.

Migration statt Schulausbildung

Ein leichter Nebel umhüllt die Häuser, die zwischen den Hügeln gebaut sind. In der Gemeinde teilen sich ärmliche Wohnungen den Platz mit zwei- und dreistöckigen Häusern, die mit Hilfe der Rücküberweisungen gebaut worden sind, die von den Migrant*innen geschickt werden.

Obwohl Yucunicoco ein Ausgangsort für Migration ist, fehlt es ihm nicht an Bevölkerung, da im gleichen Verhältnis zur Migration eine hohe Geburtenrate existiert. Sobald die Jugendlichen zwölf Jahre alt sind, gelten sie als fähig zu heiraten und Kinder zu kriegen. “Die jungen Menschen haben kein weiteres Lebensprojekt, das über die Heirat und Migration hinausginge”, erklärt die Lehrerin Dora María Jiménez Hernández, Rektorin der örtlichen Telesecundaria 20DTB0401E. Sie berichtet, dass mindestens 20 Prozent der Jugendlichen, welche die Telesecundaria beginnen, die Schule abbrechen, um in die USA zu emigrieren. Den weiteren Anteil stellen jene dar, die in jungem Alter heiraten.

“Diejenigen, die sich für Migration entscheiden, haben als Ziel, Geld zu haben und einen Kleinlaster zu beladen; ihnen ist es egal, sich in der Schule Wissen anzueignen. Jene die bleiben wiederum sehen in der Heirat ihr Lebensziel“, meint Jiménez Hernández.

Geldstrafe bei Schulabbruch

Um die Migration einzudämmen, führte die verantwortliche Behörde der Gemeinde ein Strafe von 10.000 Pesos ein für alle, die der Schule fernbleiben, “daher gehen viele derjenigen, die die Schule abbrechen in die USA, um diese Schulden zu bezahlen”, erklärt sie.

“Damit wurde nicht erreicht, das Phänomen der Migration aufzuhalten, eben aufgrund der vielen Bedürfnisse in der Gemeinde; die Menschen können sich keinen anderen Wohlstand vorstellen. Alles was sie lernen, lernen sie als Migrant*innen und das spiegelt sich später bei ihrer Rückkehr in die Gemeinde wieder.”

“Hier ist das einzige, was sie tun können auf Feldern zu arbeiten. Daher ziehen es viele vor, dorthinzugehen wo sie zwar auch auf Feldern arbeiten, aber gegen Bezahlung.”

CC BY-SA 4.0 Migration von Kindern: Schulbänke bleiben leer von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert