von Markus Plate, Mexiko-Stadt
(Berlin, 01. November 2010, npl).- Abtreibung ist in Nicaragua seit jeher strafbar. Das Strafgesetzbuch von 1870 – gültig bis 2007 – erlaubte Schwangerschaftsabbrüche nur zum Schutze des Lebens der Mutter. Im Zuge der sandinistischen Revolution gelingt es in den achtziger Jahren nicht, das Gesetz von 1870 zu liberalisieren, die konservativ-neoliberalen Regierungen seit 1990 bleiben in dieser Sache untätig.
2006: Daniel Ortega, der ehemalige Revolutionsführer, versucht zum dritten Mal als Kandidat der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional), an die Macht zurückzukehren. Die Aussichten sind wieder nicht die besten, vor allem, solange die katholische Kirche die Sandinist*innen verteufelt. Da bietet sich ein Pakt an. Die katholische Kirche hört auf, gegen Ortega zu predigen, die FSLN macht dafür aus dem sehr eingeschränkten Abtreibungsrecht ein absolutes Abtreibungsverbot – auch der „therapeutische Abbruch“ soll verboten sein. So soll es sein: Ortega wird zum Präsidenten gewählt und im Jahr 2007 beschließt der Kongress Nicaraguas das resolute Abtreibungsverbot.
Frauen sterben an Komplikationen
Der Begriff „therapeutischer Schwangerschaftsabbruch“ ist vergleichbar mit dem deutschen Begriff einer medizinischen Indikation: ein Abbruch soll eingeleitet werden, wenn eine Gefahr für das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren besteht. Zudem spricht man von einem therapeutischen Abbruch, wenn eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein wird.
Mónica Baltodano, vom Movimiento Renovador Sandinista MRS – der „sandinistischen Erneuerungsbewegung“, der viertgrößten politischen Kraft Nicaraguas und einer Abspaltung der von Daniel Ortega beherrschten FSLN, setzt sich seit vielen Jahren für die Liberalisierung des nicaraguanischen Abtreibungsrechts ein. Das Abtreibungsverbot führe zu dramatischen Situationen in den Krankenhäusern. Zum Beispiel, wenn der Fötus von der Gebärmutter abgestoßen wird und im Geburtskanal hängenbleibt. Der Arzt sage dann: „Wir können den Fötus erst rausnehmen, wenn es keine Lebenszeichen mehr gibt!“ In der Folge kommt es zu Fieberschüben und Blutvergiftungen bei der Mutter. „Es gibt Dutzende Fälle, in denen Frauen aufgrund solcher Komplikationen gestorben sind, weil Frauen in den Krankenhäusern nicht in Fällen nicht behandelt wurden, wo ein Schwangerschaftsabbruch dringend angezeigt war“, weiß Mónica Baltodano.
Vergewaltigte Mädchen müssen Kind austragen
Zum Beispiel der Fall der jungen Frau und Mutter, bei der Krebs festgestellt wird und die dringend eine Chemotherapie benötigt. Da sie schwanger ist, weigern sich die Ärzt*innen, eine Behandlung zu beginnen, das Kind könne Schaden nehmen. Monate später, ein internationaler Gerichtshof hatte Nicaragua inzwischen verdonnert, die Behandlung zu beginnen, ist das Kind tot – hätte aber bei rechtzeitiger Behandlung überleben können. Soweit zum therapeutischen Abbruch. Aber auch das Verbot einer Abtreibung nach einer Vergewaltigung führt immer wieder zu tragischen Situationen, berichtet Mónica Baltodano: „Mehr als 16 Prozent aller Vergewaltigungen führen zu Schwangerschaften! Und mehr als die Hälfte der Frauen, die durch eine Vergewaltigung schwanger wurden, sind jünger als 14 Jahre, insgesamt mehr als 1.700 Fälle im Jahr!“
Es gibt den emblematischen Fall eines Mädchens, das im Jahr 2003 als Neunjährige von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde. Die Frauenbewegung forderte die Möglichkeit einer Abtreibung, die dann per Gerichtsbeschluss Ende 2003 auch ermöglicht wurde. Diese Abtreibung bot den Ortegas nach Amtsantritt die Gelegenheit, gegen die Frauenbewegung vorzugehen: Gegen neun Aktivistinnen wurden Strafverfahren eingeleitet, die erst 2010, nach jahrelangem internationalen Druck, eingestellt wurden. Für Monica Baltodano kein Grund zum Optimismus, denn die feministische Bewegung Nicaraguas sei stark in die Defensive geraten: „Wenn wir in den achtziger Jahren noch dafür gekämpft haben, dass die Abtreibung nach einer Vergewaltigung legalisiert wird oder in dem Fall, dass das Kind mit schweren Missbildungen zur Welt kommt, dann bleibt uns heute nur, für die Frauen zu kämpfen, die ohne einen Schwangerschaftsabbruch sterben würden. Das ist ein gewaltiger Rückschritt!“
Macht der Kirche gewachsen
Das Bündnis mit dem ehemaligen Erzfeind Ortega hat der katholische Kirche in vielerlei Hinsicht zu neuer Macht verholfen, die Macht, der Bevölkerung überkommene Vorstellungen und eine dezidiert frauenfeindliche Ideologie aufzudrücken. Wer Frauen sterben lässt, weil man die Tötung ungeborenen Lebens ablehnt, wer neunjährige Vergewaltigungsopfer dazu zwingen will, das Produkt dieser Vergewaltigung auszutragen, der muss sich jeden einigermaßen aufgeklärten Menschen zum Gegner machen. Und so ist auch die Aufklärung eine Gegnerin, mit der es die katholische Kirche in Nicaragua aufzunehmen weiß. Noch einmal Mónica Baltodano: „Nicaragua hat die höchste Schwangerschaftsrate unter Heranwachsenden in ganz Lateinamerika, viele davon Mädchen unter 12 Jahren! Wie kann das sein, dass die katholische Kirche Frauen verdammt, die schwanger werden, wenn sie zur gleichen Zeit dafür sorgt, dass Sexualerziehung an den Schulen verboten wird und so dafür sorgt, dass junge Menschen überhaupt nichts über ihre eigene Sexualität wissen!“
Die Position der katholischen Kirche in der Abtreibungsfrage richtet sich nach dem Evangelium Vitae vom 25. März 1995, die von der Unantastbarkeit menschlichen Lebens spricht und neben jeder Form von Abtreibung auch Euthanasie und die Todesstrafe ablehnt. Schon den Begriff „therapeutische Abtreibung“ findet die Kirche unangemessen und sagt stattdessen: „Wenn zum Beispiel die Rettung des Lebens der zukünftigen Mutter dringend einen chirurgischen Eingriff oder eine andere therapeutische Behandlung erfordern würde, die als keineswegs gewollte oder beabsichtigte, aber unvermeidliche Nebenfolge den Tod des keimenden Lebens zur Folge hätte, könnte man einen solchen Eingriff nicht als einen direkten Angriff auf schuldloses Leben bezeichnen.“ Wenn es um das Leben der Schwangeren geht, dann gibt es zumindest ein „Jain“ aus Rom, die nicaraguanische Lösung ist also weit fundamentalistischer. Kein Pardon findet die Kirche allerdings für Abtreibungen nach Vergewaltigungen.
Diskriminierung von Frauen nimmt zu
Was die Kirche in der Abtreibungsdebatte sagt, mag man befolgen oder nicht, zumindest in Staaten, in denen Religion und Gesetz getrennt sind. Dass die Kirche in Lateinamerika versucht, ihre Lehre in Gesetze zu gießen, die für alle gelten und die insbesondere Frauen schaden, das ist nicht hinzunehmen. Dass gerade das FSLN regierte Nicaragua katholische Extrempositionen zu geltendem Recht macht, ist dabei mehr als pikant.
Wie alle Länder Lateinamerikas erlebt auch Nicaragua den Versuch der politischen und kirchlichen Hierarchie, eine patriarchische und autoritäre Ordnung wiederherzustellen oder zu erhalten! Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen nehmen zu, es wird für Frauen immer schwieriger, gleich bezahlte Jobs zu finden. Dass aber ausgerechnet Nicaragua und El Salvador, die Länder, die den höchsten Anteil von Frauen in den Parlamenten aufweisen und die von Linken regiert werden, dass ausgerechnet diese beiden Länder die einzigen sind, die die Abtreibung komplett kriminalisieren, inklusive im Fall einer medizinischen Indikation, das findet Mónica Baltodano „widerlich! Die sagen, sie seien links, weil sie zur Wirtschaftsgemeinschaft ALBA gehören oder gute Beziehungen zu Fidel Castro oder zu Chávez haben. Aber in Wahrheit setzen sie neoliberale Politik um und ihre Politik gegenüber Frauen entpuppt sich als am Reaktionärsten!“
(Foto: Maria Kindling)
Vergleiche hierzu auch den Audiobeitrag des Autors im Rahmen der Kampagne „Menschen. Rechte. Stärken!“, der unter der URL http://npla.de/de/onda/serien/menschenrechte/content/1115 kostenlos angehört oder heruntergeladen werden kann.
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Kriminalisiert – das Recht auf den eigenen Körper? (Teil 2) von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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