Poonal Nr. 699

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen vom 13. Dezember 2005

Inhalt


MEXIKO

GUATEMALA

EL SALVADOR

PANAMA

KOLUMBIEN

ECUADOR

BOLIVIEN

BRASILIEN

ARGENTINIEN

LATEINAMERIKA


MEXIKO

Sonderstaatsanwaltschaft zur Untersuchung der Frauenmorde versagt

(Mexiko-Stadt, 28. November 2005, cimac-poonal).- Dievor zwei Jahren eingerichtete Sonderstaatsanwaltschaft zur Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit der Ermordung von Frauen im Bezirk Ciudad Juárez hat nach Einschätzung der Zivilgesellschaft versagt. Die Initiative Beobachtender Bürger*innen, ein Dachverband von sechs Organisationen, die sich mit Geschlechterfragen und Menschenrechten befassen, kritisierte in ihrem Bericht an den Staatlichen Rat zur Vorbeugung von Diskriminierung) CONAPRED (Consejo Nacional para Prevenir la Discriminación), die Sonderstaatsanwaltschaft tue „überhaupt nichts, um die gesellschaftlichen Schäden zu beheben oder die Straflosigkeit zu beenden.“

Obwohl 131 Beamte verschiedener Straftaten beschuldigt würden (Fahrlässigkeit, Unterlassung, Korruption, unerlaubte Preisabsprachen, Behinderung der Ermittlungsarbeit und andere), seien diese weiterhin im Amt und könnten sogar in den aktuellen Ermittlungsstand eingreifen. „Diese Sonderstaatsanwaltschaft ist eine einzige Provokation von Seiten der Regierung. Sie gibt vor, ihre Arbeit zu tun, doch statt dafür zu sorgen, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden und den Familien der Opfer Gerechtigkeit widerfährt, arbeitet sie schlampig und unvollständig, betreibt Täterschutz und verfestigt den Missstand der Straflosigkeit.“

In ihrem Bericht über die „Justizarbeit“ im Zusammenhang mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez und Chihuahua kritisiert die Initiative Beobachtender Bürger*innen weiter, statt die Fälle zu lösen, habe sich „eine Ermittlungseinheit gegen die ErmittlerInnen“ gebildet. Die Sonderstaatsanwaltschaft habe weder die bei ihr gemeldeten Fälle untersucht, noch jene, die sie im Zuge der Integrierung und Prüfung der bisherigen Ermittlungen selber aufgedeckt hat und die von Beamten aus den eigenen Reihen verübt worden waren.

Dennoch werde die Sonderstaatsanwaltschaft gebraucht, immerhin gelte es, die Fälle von mehr als 500 Frauen aufzuklären, die seit 1993 ermordet wurden oder verschwunden sind. Die Initiative Beobachtender Bürger begrüßte die Einrichtung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur Untersuchung der Frauenmorde mit landesweiter Kompetenz.

Die Sprecherin des Netzwerkes für Sexual- und Reproduktivrechte Silvia Solis hob hervor, dass die Einrichtung der Sonderstaatsanwaltschaft auch nicht dazu beigetragen habe, dass keine Frauen mehr ermordet werden: In diesem Jahr wurden bisher 31 Morde registriert, darunter zwei sieben und neun Jahre alte Mädchen sowie eine 19jährige. Die drei wurden innerhalb von nur drei Tagen ermordet.

GUATEMALA

Fortschritt in der Rechtssprechung zugunsten von Frauen

(Guatemala-Stadt, 6. Dezember 2005, cerigua-poonal).-Das guatemaltekische Verfassungsgericht hat den Artikel 200 des Strafgesetzbuches vorläufig aufgehoben. Die Ombudsstelle für Menschenrechte PDH (Procuraduría de los Derechos Humanos) hatte kritisiert, dass der Artikel verfassungswidrig sei und die Würde der guatemaltekischen Frauen angreife. Das Gesetz begünstigte den Freispruch von Vergewaltigern, sofern sie ihr Opfer heirateten, falls dieses über zwölf Jahre alt war.

Die Sprecherin des Frauennetzwerkes „Equipo Multidisciplinario“ Consuelo Cabrera sagte, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts ein positiver Akt zugunsten der weiblichen Bevölkerung sei. Dennoch sei die definitive Aufhebung des Artikels 200 unerlässlich. Der Staat müsse diese Gesetzesreform unbedingt öffentlich bekannt machen, da die Frauen sonst nicht davon profitieren könnten. Zudem sei es nötig die Justizangestellten zu sensibilisieren, ebenso die Beamten, die an der Umsetzung des Gesetzes beteiligt seien.

Es sei auch unbedingt nötig die machistischen Strukturen in den Familien zu verändern, da es tatsächlich Väter und Mütter gebe, die ihre Töchter dazu zwingen würden ihren Vergewaltiger zu heiraten; sie hätten kein Bewusstsein für den körperlichen, emotionalen und psychischen Schaden, unter dem das Opfer leide, fügte Cabrea hinzu.

Die Frauenrechtlerin betonte, dass die Regierung in den Institutionen, die für Sicherheit, Recht und Gerechtigkeit zuständig seien, effektiv aufräumen müsse, weil ständig Polizeibeamte und Richtern in diesen Typ von Rechtsverletzungen verwickelt seien. Den Frauen hätten dadurch wenig Sicherheit. Laut Daten des Frauennetzwerkes „Coordinadora 25 de Noviembre“ wurden bei staatlichen Behörden zwischen 2000 und 2005 etwa 4.000 sexuelle Übergriffe auf Frauen angezeigt. Nur 0,9 Prozent dieser Fälle werden untersucht.

EL SALVADOR

Studie über positive Folgen von Migration

(Fortaleza, 5. Dezember 2005, adital-poonal).- DasUN-Entwicklungsprogramm PNUD (Programa de Naciones Unidas para el Desarrollo) und der Nationale Rat für Nachhaltige Entwicklung CNDS (Concejo Nacional para el Desarrollo Sustentable) haben eine Studie mit dem Titel “Ein Blick auf unsere neue Gemeinschaft. Die Bedeutung der Emigration” herausgegeben. In ihr heißt es, dass die Folgen der Auswanderung für El Salvador nützlich gewesen seien. Die Studie geht von der Frage aus, inwiefern es für die menschliche Entwicklung eines Landes günstig sein kann, wenn das Wertvollste – die Menschen – dieses Land verlassen.

Im Jahr 2004 haben Tausende von salvadorianischen Migranten und Migrantinnen 2,547 Millionen US-Dollar nach Hause geschickt. Sie leben hauptsächlich in den Vereinigten Staaten, Kanada, Schweden, Australien, Italien und Mexiko. Das Geld, das an die in El Salvador zurückgebliebenen Verwandten geschickt wird, macht 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus.

Die Auswanderung der Salvadorianer und Salvadorianerinnen, die sich in den letzten 30 Jahren verstärkt hat, bringt laut der Studie jedoch nicht nur wirtschaftliche Folgen mit sich. Die Migration habe “eine Tür der Möglichkeite
n, Herausforderungen und Veränderungen in wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht geöffnet, die sich nur mit den Folgen vergleichen lassen, die die Einführung des Kaffeeanbaus mit sich brachte.”

PANAMA

Arbeiter legen Bananenfabriken der Bocas Fruit Company lahm

(Buenos Aires, 6. Dezember 2005, púlsar).-Achtzehn Verpackungsfabriken der Bocas Fruit Company stehen seit einer Woche still. Die Arbeiter weigern sich, die neue, von der Firma vorgeschlagene Einpacktechnik anzuwenden. Laut Genaro Bennett, Generalsekretär der Gewerkschaft der Bananenpflücker, ist die neue Technik nicht mit dem kollektiv abgeschlossenen Arbeitsvertrag vereinbar: Eine Plastikschicht soll als Trennwand bei der Verpackung dienen. Die Arbeiter drohten damit, ihren Arbeitskampf auf andere Bereiche auszudehnen, wenn nicht auf ihre Forderungen eingegangen werde. Der Streik begann in der ersten Fabrik am 29. November, nach und nach weitete er sich auf mittlerweile 18 Fabriken aus. Die Arbeiter fordern von Staatspräsident Martín Torrijos im Konflikt zu vermitteln. In einer Resolution bekräftigte die Gewerkschaft der Beschäftigten in der Bananenindustrie, wenn man nicht auf ihre Forderungen eingehe, werde eine Generalversammlung abgehalten, um einen Streik auszurufen.

KOLUMBIEN

Fortdauernde Bedrohung von Gewerkschaftsmitgliedern

(Fortaleza, 2. Dezember 2005, adital-poonal).- Zwischendem 1.Januar 1991 und dem 1. August 2005 wurden 7.666 Menschenrechtsverletzungen an Gewerkschaftsmitglieder in Kolumbien dokumentiert. 85 Prozent dieser Fälle beruhen auf der gewerkschaftlichen Tätigkeit der Opfer, sagte Domingo Tovar Arrieta, Direktor der Menschenrechtsabteilung des Gewerkschaftsbundes CUT (Central Única de Trabajadores) in Kolumbien. Die Zahlen, die in einem Bericht der CUT veröffentlicht wurden, basieren auf Daten der Nationalen Gewerkschaftsschule ENS (Escuela Nacional Sindical).

In 5.077 Fällen der 7.666 Menschenrechtsverletzungen wurden die Schuldigen niemals ermittelt, so Arrieta. Nur bei 33,7 Prozent der Fälle konnten Hinweise auf den die Täter erbracht werden. Dies belege eine andauernde und systematische Verdunkelung der Täterschaft. Seit 1991 wurden 2.150 Gewerkschaftsmitglieder ermordet, 3.035 erhielten Morddrohungen und 182 sind verschwunden.

„Der Einsatz von Gewalt gegen Gewerkschaftsmitglieder ist eines der Charakteristika der kolumbianischen Gewerkschaftsgeschichte. Durch diesen fortdauernden Zustand befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer dramatischen und alarmierenden humanitären Krise. Jeder weiß, dass Kolumbien weltweit der gefährlichste Ort für gewerkschaftliche Organisationen ist“, erklärt Arrieta.

Arrieta ist der Ansicht, dass der Gewalt gegen Gewerkschafter nicht mit einem monolithischen Ansatz beizukommen sei. Vielmehr betont er die Bedeutung verschiedener Erklärungsstränge unter Berücksichtigung des kulturellen und historischen Kontextes des Landes. Nur so sei es möglich, die Komplexität und die verschiedenen Dimensionen der Menschenrechtsverletzungen gegen Gewerkschafter zu verstehen. So seien diese Verbrechen nicht allein auf die Hauptakteure des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien zurückzuführen.

Im Gegenteil: die Untersuchung der verschiedenen Fälle ergab, dass die Gewerkschafter Opfer der Paramilitärs, des Militärs, der allgemeinen Kriminalität und der Guerrilla sind. Auch der Staat trage oftmals eine Mitschuld. In vielen Fällen würden die Verbrechen aber auch von Unternehmen unterstützt.

FARC entführte 22 Personen im Department Guaviare

(Fortaleza, 6. Dezember 2005, adital).- Die bewaffnetenGruppen in Kolumbien sollen sofort mit den Entführungen von Zivilpersonen aufhören und alle entfürten Personen freilassen, so die Forderung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Bei ihrem letzten großen Vorstoß im Department Guaviare haben die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) 22 Personen entführt. Der Großteil der Opfer sind Händler und Bewohner der Region, die sich vorherigen Erpressungsversuchen seitens der Guerilla widersetzt haben. Mehrere Berichte deuten darauf hin, daß eine weitere Person während der Geiselahme von den FARC getötet wurde.

„Die FARC erpressen, entführen und bedrohen fortlaufend die ärmsten und verletzbarsten Ortschaften Kolumbiens“, erklärte José Miguel Vivanco, Leiter der Amerika-Abteilung von Human Rights Watch. „Diese Massenentführung in Guaviare ist ein weiteres Beispiel dafür, wie diese Gruppe systematisch das Internationalen Menschenrecht verletzt.“ Die Geiselnahme verletze internationales Menschenrechte, insbesondere den Absatz 1(b) des Artikel 3 der Genfer Konventionen und Artikel 4 (2)(c) des Zusatzprotokolls. Die Fälle, die in Kolumbien als Geiselnahme bezeichnet werden, gelten im internationalen Menschenrecht als Entführungen.

Nach offiziellen Angaben gehen 22 Prozent aller Entführungen in Kolumbien auf das Konto der FARC. Sie ist damit die bewaffnete Gruppe, die im Land die meisten Entführungen durchführt. Von den 22 Personen, die am vergangenen Montag entführt wurden, wurden 14 bereits gegen Lösegeld freigelassen. Die acht weiteren Personen sind noch in den Händen der FARC.

ECUADOR

Arbeiter verhaftet

(Fortaleza, 6. Dezember 2005, adital-poonal).- Seit dem8. November sind 84 Arbeiter der Firma Holcim Cementos S.A. sowie einige Ehefrauen und andere Familienangehörige im zentralen Untersuchungsgefängnisses in Quito inhaftiert. Das Arbeitsministerium unter Leitung von José Serrano Salgado wirft ihnen Brandstiftung, Entführung, Angriff auf das Leben und die Zerstörung öffentlicher Güter vor.

Nachdem sieben Arbeiter des Unternehmens 21 Tagen mit einem Hungerstreik vor dem Arbeitsministerium für ihre Rechte demonstrierten, hatte der zuständige Arbeitsminister, José Serrano Salgado, ein Treffen für den 8. November anberaumt. Dort sollte über die Zahlung von 31.670.874,28 US-Dollar verhandelt werden, die die Firma Holcim den Arbeitern laut einem Bericht der Steuerbehörde schuldet.

Die Arbeiter waren extra aus Guayaquil nach Quito gereist, um sich mit dem Minister zu treffen. Dieser jedoch verschob zweimal die zugesagten Treffen, ohne den Arbeitern eine Erklärung zu geben. Die Arbeiter und ihre Familienangehörigen protestierten daraufhin im Ministeriumsgebäude. Innenminister Galo Chiriboga ordnete dann die Räumung der Demonstranten an.

Die mit der Räumung beauftragte Spezialeinheit beschoss die Demonstranten mit zahlreichen Tränengasgranaten. Eine davon entzündete sich in einer Federmatratze der hungerstreikenden Arbeiter. Der kleine Brand beschädigte den Schreibtisch des Sicherheitspersonals und führte zu einigen Materialschäden am Gebäude des Arbeitsministeriums, wie z.B. die Zerstörung von Glasscheiben und Türen.

Aufgrund dieser Vorfälle nahmen die Polizisten der Spezialeinheit die Arbeiter fest und brachten sie in Zellen des 1. Regiments der Nationalen Polizei in Quito. Dort wurden sie 72 Stunden ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Nahrung festgehalten. Später wurden sie in das zentrale Untersuchungsgefängnis gebracht, wo sie bis heute unter schlimmsten hygienischen und gesundheitlichen Zuständen festgehalten werden.

Die Familienangehöri
gen der Verhafteten wenden sich zurzeit in Quito an die zuständigen gerichtlichen Instanzen, um die Freilassung der Gefangenen zu erwirken. Bisher haben sie noch keine positive Antwort bekommen. Die Familien hoffen nun, dass der nationale und internationale Druck dazu beiträgt, dass die Inhaftierten freigelassen werden.

BOLIVIEN

OAS-Wahlbeobachter im Land

(Buenos Aires, 6. Dezember 2005, púlsar).- DieVertreter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) empfiehlt den Verantwortlichen des Nationalen Wahlgerichtshofes CNE (Corte Nacional Electoral) in Bolivien die Gesetze anzuwenden, die den schmutzigen Krieg und die Aggressionen zwischen den politischen Parteien sanktionieren und verbieten. Die Abordnung der OAS-Wahlbeobachter aus 14 Ländern hatte vergangene Woche eine Unterredung mit Präsident Eduardo Rodríguez vor dem Hintergrund der Spannungen während der Wahlkampagne weniger als zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen. Der Koordinator der OAS-Beobachter, Gustavo Beliz, unterstrich die Wichtigkeit, dass das Gesetz angewendet würde und dass „der Wahlgerichtshof mit der nötigen Gewichtung des Falles eine saubere und transparente Debatte fördert“.

Die Abordnung der OAS wird die verschiedenen Hauptstädte und ländlichen Gebiete des Landes besuchen. Die über 150 Wahlbeobachter der OAS werden sich zudem an einer Simulation der Computerwahl beteiligen, die der Wahlgerichtshof durchführen wird. Neben den OAS-Vertretern werden auch Journalisten, Abgeordnete von jeder der acht politischen Parteien, Gruppen aus der Zivilgesellschaft, Indigenas und sich zur Wahl stellende Allianzen an der Wahlsimulation teilnehmen. Der 18. Dezember rückt näher und ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Präsidentschaftskandidaten Evo Morales (Bewegung zum Sozialismus, MAS) und Jorge „Tuto“ Quiroga von Podemos zeigt sich in den Umfragen. Jedoch wächst inzwischen die Gruppe der unentschlossenen Wähler und eine zwischen den Fronten vermittelnde Diskussion ist praktisch unmöglich geworden.

BRASILIEN

Waffenindustrie finanzierte Kampagne gegen Verbot von Waffen

(Fortaleza, 28. November 2005, adital-poonal).- Am 23.Oktober fand in Brasilien ein Referendum zum Verbot des Waffenhandels statt. Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung sprach sich damals für die uneingeschränkte Fortsetzung des Verkaufs von Schusswaffen und Munition aus. Dem offiziellen Ergebnis des Obersten Wahlausschusses zufolge stimmten etwa 59 Millionen Brasilianer – das sind über 60 Prozent – für den Verkauf von Waffen und Munition, wohingegen circa 33,3 Millionen mit „Ja“ und damit für einen Gesetzentwurf zur Einschränkung dieses Handels stimmten.

Die erfolgreiche Kampagne zum „Nein“ wurde, wie sich jetzt herausstellte, von zwei brasilianischen Großkonzernen finanziert, zu deren Sortiment vor allem Waffen und Munition gehören. Wie der Abgeordnete Alberto Fraga (PFL-DF), der die Kampagne gegen ein Verbot anführte, mitteilte, haben die Konzerne Taurus und CBC (Cía Brasileña de Cartuchos) zusammen insgesamt 5 Mio. Reals (umgerechnet ca. 1,9 Mio Euro) gespendet.

Die Kampagne gegen ein Verbot kostete an die 5,6 Mio. Reals, so dass sie insgesamt schwarze Zahlen schrieb. Die Kampagne für ein Verbot dagegen konnte nur etwa 2,4 Mio. Reals aufbringen und hat nach dem Referendum noch Schulden in Höhe von 320.000 Reals. Die Anhänger wissen bisher noch nicht, wie sie diese begleichen sollen.

Am 23. November endete die Frist, die das Oberste Wahlgericht den beiden Kampagnen zur Rechnungslegung gewährt hatte. Die Verantwortlichen der Kampagne zum „Ja“ reichten ihre Abrechnung zeitgerecht ein, doch ihre Widersacher erbaten sich mehr Zeit vom Gericht aus. Abgeordnete, die die erfolgreiche Kampagne gegen ein Verbot unterstützt hatten, erklärten ihr Unbehagen angesichts dessen, dass ihre Kampagne zu einem Großteil von der Waffenindustrie finanziert worden ist. Selbst der Vorsitzende der Kampagne, Alberto Fraga, sagte: „Wir wollten das nicht, aber wir hatten keine andere Möglichkeit, die sehr hohen Kosten auf andere Weise zu decken.“

Er wolle vor der Rechnungslegung zusammen mit dem Rechnungsführer der Kampagne seine Kollegen über die genauen Zahlen informieren, bevor er sich an das Wahlgericht wende. Seinen Angaben zufolge wurden 95 Prozent des Geldes für die Fernsehspots der Kampagne verwendet, die unter der Leitung der Agentur Chico Santa Rita entstanden sind.

Der Taurus-Konzern ist seit 65 Jahren einer der größten Waffenhersteller des Landes. Seinen Sitz hat er in Río Grande do Sul und exportiert Waffen in 80 Länder. Der CBC-Konzern wurde 1926 gegründet und hat seine Hauptfabrik in São Pablo. Es handelt sich um den größten Munitionsproduzenten in ganz Lateinamerika.

Neuer Bericht über die Lage der Menschenrechte

(Fortaleza, 7. Dezember 2005, adital-poonal).- DerBericht zur Lage der Menschenrechte in Brasilien 2005 wurde am 6.Dezember in São Paulo der Öffentlichkeit vorgestellt. Er umfasst 32 Artikel zu unterschiedlichen Themenbereichen. Aus dem Großteil der Beiträge geht hervor, dass die aktuelle Menschenrechtssituation unverändert düster und von unzähligen Menschenrechtsverletzungen geprägt ist. Dem gegenüber stehen soziale Bewegungen, die verstärkt das Recht auf Land, Gesundheit und Wohnung, auf Zugang zu Bildung und Arbeit sowie auf soziale Gerechtigkeit einfordern. Der Kampf sozialer Bewegungen zur Verteidigung der Zivilgesellschaft und der Menschenwürde wird ebenfalls in dem Bericht thematisiert.

Das Jahr 2005 war geprägt von der Gewalt auf dem Land. Bis Ende August registrierte die katholische Landpastorale CPT (Comisión Pastoral de la Tierra) insgesamt 28 Morde. Im Vergleichszeitraum 2004 wurden 27 Personen ermordet. Die Situation der von Staumdammprojekten Betroffenen zeigte sich ebenfalls unverändert schlimm. Eine Erhebung im Becken des Río Uruguay im Süden des Landes ergab, dass die Unternehmen, die mit dem Bau der Staudämme beauftragt wurden, oder andere, in deren Dienste stehende Personen zivil- oder strafrechtliche Prozesse gegen 107 von diesen Projekten Betroffene führen.

Ebenfalls besorgniserregend ist die Situation der indigenen Gemeinschaften. Besonders gefährdet ist die das Volk der Guaraní-Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Dort wurden besonders viele Fälle von Gewalt gegen indigene Gemeinschaften registriert. Der Indígena-Missionsrat der katholischen Kirche CIMI (Concejo Indigenista Misionero) kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass in diesem Fall alle klassischen Merkmale eines Ethnozids auftauchen. Insgesamt 44 Kinder starben an Unterernährung. Davon lebten allein 31 in Mato Grosso do Sul.

Ein weiteres Thema ist die Sklavenarbeit. Im Zeitraum von 1995 bis November 2005 wurden etwa 16.500 Menschen befreit, die in sklavenartigen Situationen leben und arbeiten mussten. Alleine im Jahr 2005 wurden bei 56 Einsätzen einer mobilen Spezialeinheit 3.285 Menschen befreit, 119 Haziendas überprüft und 6.257.566 Reals (umgerechnet etwa 2,3 Mio. Euro) für Entschädigungen sichergestellt.

Der Bericht widmet sich auch der Frage der Polizeigewalt in den Großstädten. Silvia Ramos, die für das Zentrum für Studien zu Sicherheit und Bürgerrechten CESeC (Centro de Estudios de Seguridad y Ciudadanía) in der Universität Candido Mendes fors
cht, vergleicht die Situation in den drei Bundesstaaten Río de Janeiro, São Paulo und Minas Gerais mit der Situation in den USA und Südafrika, die bekanntermaßen ein exorbitantes Maß an Polizeigewalt aufweisen. Selbst im Vergleich mit diesen beiden Staaten übersteigt die Anwendung tödlicher Gewalt durch brasilianische Polizeikräfte jedes bekannte Maß: allein in den drei untersuchten Bundesstaaten kamen fünf Mal mehr Zivilisten durch Polizeigewalt ums Leben als in den gesamten Vereinigten Staaten.

Illegale Einwanderer leben, vor allem in São Paulo, weiterhin unter ausnehmend schwierigen Bedingungen. Schätzungen gehen davon aus, dass in der Metropole Hunderttausende lateinamerikanischer Einwanderer leben, 40 Prozent von ihnen in extremer Armut.

Nicht zuletzt wird auch auf die gegen Frauen gerichtete Gewalt eingegangen. Gustavo Venturi und Marisol Recamán schreiben in ihrem Artikel: „Die Rechnung, dass alle 15 Sekunden eine Frau irgendwo in Brasilien geschlagen wird, verdeckt zum Teil das wahre Ausmaß des Problems. Ähnliches kann nämlich auch zu anderen Formen der Gewalt gegen Frauen gesagt werden: alle 15 Sekunden wird eine Frau in Brasilien daran gehindert, das Haus zu verlassen, alle 15 Minuten wird eine Frau zu ungewolltem sexuellem Kontakt gezwungen, alle 9 Sekunden wird eine Frau zu Hause oder am Arbeitsplatz sexuell belästigt oder beleidigt.“

Abgeordnete diskutieren über Basisradios

(Buenos Aires, 2. Dezember 2005, púlsar).- Beieiner öffentlichen Anhörung in der brasilianischen Abgeordnetenkammer diskutierten über 100 Teilnehmer über die Situation der Basisradios im Land. Zudem kritisierten sie die Repression gegen die alternativen Radiomacher.

In der Eröffnungsrunde, an der mehrere Abgeordnete der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) teilnahmen, kam man überein, dass die Kommunikationsstrukturen in Brasilien dringend demokratisiert werden müssten. In diesem Zusammenhang kritisierte der Abgeordnete Walter Pinheiro den „fehlenden Freiraum für die unabhängige Berichterstattung in diesem Land“.

Alexandra Luciana Costa, die den Kommunikationsminister Hélio Costa vertrat, versicherte, dass die Tür zu einem Dialog offen stehe. Sie verteidigte das Vorgehen des Ministeriums und der Nationalen Agentur für Telekommunikation (Agencia Nacional de Telecomunicaciones) als „Kontrollmaßnahmen gegenüber den Sendern“, man solle das nicht als repressive Maßnahme verstehen. Clementino Lopes von der Brasilianischen Vereinigung der Basisradios ABRACO (Asociación Brasileira de Radiodifusión Comunitaria) beklagte die Abwesenheit des Ministers und warf diesem vor „ein direkter Repräsentant (des Telekommunikationskonzerns) Globo“ zu sein. Lopes sieht in der Tatsache, dass die Lizenzanträge der Basisradios nicht bearbeitet werden, die Bestätigung, dass es sich nicht um ein Problem technischer, sondern politischer Natur handelt.

Bei der Diskussionsrunde zum Thema „Kommunikation als Menschenrecht“ wurde die schwierige Situation der Basisradios in Brasilien analysiert. So wurden während der Amtszeit von Präsident Lula Tausende Radiosender oft gewaltsam geschlossen. Fast die gesamten Kapazitäten, die den brasilianischen Radio- und Fernsehsendern derzeit zur Verfügung stehen, sind von wenigen privaten oder religiösen Sendern besetzt. Das jedoch widerspricht der brasilianischen Verfassung, in der die Kommunikation als öffentliches Gut definiert ist.

Prostituierte steigen ins Modegeschäft ein

Von Andreas Behn

(Rio de Janeiro, 5. Dezember 2005, npl).- Das neue Mode-Label “Daspu” macht Schlagzeilen in Rio de Janeiro. Die Abkürzung steht für „das putas“, was übersetzt soviel wie „von den Huren“ bedeutet. Hinter der Idee steht Davida, eine Organisation von Prostituierten, die für die Rechte und gegen die Stigmatisierung der Sexarbeiterinnen eintritt.

Die ersten Entwürfe der neuen Linie stammen von den Frauen, die ihr Geld auf den Strassen der brasilianischen Metropole verdienen. Zur Kollektion gehören Abend- und Strandkleid, Minirock, T-Shirt und verführerische Modelle für den Alltag als auch fürs Anschaffen. Intim, aber nicht vulgär, so das Motto der Modemacherinnen. Der erste Daspu-Entwurf wird den Karnevals-Umzug „Prazeres Davida – Freuden des Lebens“ ausstatten, den die im Rotlichtviertel der Altstadt Tätigen im kommenden Jahr veranstalten werden.

Prostituierte, die an der Praça Tiradentes im Zentrum Rio de Janeiros anschaffen, produzieren die Kleidungsstücke. „Wir machen Kleidung für alle Frauen, die in der Prostitution und im Alltag getragen werden kann,“ sagt Gabriela Silva Leite, ehemalige Prostituierte und Gründerin von Davida. „Wir wollen den vergangenen Flair des Gewerbes zu neuem Leben erwecken,“ ergänzt die Aktivistin.

Provokant wie die Idee ist das Wortspiel, aus dem der Name des Labels entstand. Daspu erinnert an „Daslu“ – so nennt sich das teuerste Modegeschäft von São Paulo, der Inbegriff der verschwenderischen high society Brasiliens. Die Abkürzung Daslu bedeutet „von den Lucianas“, und bezieht sich auf die Namen der beiden Inhaberinnen der Boutique. Zuletzt machte Daslu in Juli Schlagzeilen, als die Staatsanwaltschaft das Geschäft wegen Steuerhinterziehung durchsuchte und mehrere Teilhaber festnehmen ließ. Jetzt schickten die Daslu-Anwälte die Androhung einer Unterlassungsklage an Davida mit der Aufforderung, den Namen nicht mehr zu benutzen.

Statt klein beizugeben, wird Daspu nun zum Medienspektakel. „Seit Tagen steht das Telefon nicht mehr still, alle wollen über Daspu und den Streit mit den Modezaren berichten,“ klagt und freut sich Flavio Lenz, Pressesprecher von Davida und Herausgeber der Hurenzeitschrift „Beijo da Rua – Kuss der Strasse“.

Von allen Seiten kommen Unterstützungserklärungen für die Nicht-Regierungsorganisation Davida, die öffentlich ihr Anliegen vertritt. „Die Anwälte von Daslu führen an, wir würden den Namen ihres Mandanten in den Schmutz ziehen. Warum,“ fragt Gabriela Silva Leite. „Weil wir Prostituierte sind?“ Die Frauen von Davida, aktiv im Kampf gegen Aids und für die Arbeitsrechte von Sexarbeiterinnen, können die publicity und die Einkünfte gut gebrauchen, die ihnen der Trubel um Daslu und die aufgeschreckte Modebranche einbringt.

ARGENTINIEN

Warten auf den Präsidenten

(Fortaleza, 2. Dezember 2005, adital).- Am 22. Novemberhatte die indigene Bevölkerung der Provinz Salta eine Audienz mit dem Präsidenten Néstor Kirchner für den 29. und 30. November beantragt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich eine zehnköpfige Delegation, die mehr als 40 indigene Gemeinschaften vertrat, in Buenos Aires. Am Mittwoch, den 30. November versammelten sie sich auf der Plaza de Mayo und warteten darauf, dass der Präsident sie empfangen würde. Aber sie wurden nicht empfangen. Deshalb kehrten sie gestern, am 1. Dezember, zur Plaza de Mayo zurück. Sie sind entschlossen, dort so lange auszuharren, bis Kirchner ihnen eine Audienz gewährt. “Wir haben uns die Hemden des Fußballteams angezogen, obwohl es nicht Teil unserer Kultur ist, um zu zeigen, dass auch wir Argentinier sind und das Recht haben, dass der Präsident uns zuhört und erfährt, was für Probleme wir haben&rdquo
;, erklären die Indigenas.

Sie beklagen, dass die Provinzregierung in Salta vorhabe, das traditionell von den Indigenas genutzte Land aufzuteilen. Präsident Kirchner habe Möglichkeiten, um das zu verhindern, denn er sei der Nationalen Verfassung verpflichtet und habe die dort aufgeführte Vereinbarung 169 der Internationalen Arbeitsorganisation OIT (Organización Internacional del Trabajo, OIT) über Indigene Völker sowie andere die Menschenrechte betreffende Vereinbarungen zu erfüllen.

Verschiedene Personen und Organisationen verlangen eine schnelle Antwort auf die Forderung der in den Abschnitten 55 und 14 der Provinz Salta ansässigen indigenen Gemeinden nach einem ausschließlichen Besitzanspruch auf ihr Land. Zu den Unterstützern der Forderung gehören unter anderen der Träger des Friedensnobelpreises, Adolfo Pérez Esquivel, der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano und die Mütterorganisation Abuelas de la Plaza de Mayo.

“Seit 21 Jahren fordern wir die Regierung von Salta und den argentinischen Staat auf, uns eine Besitzurkunde für das Land aller unserer Gemeinschaften zu geben. Wir wollen eine einzige Besitzurkunde, um dann alle gemeinsam dort zu leben, so, wie wir es immer gemacht haben. Wir sind die rechtmäßigen Besitzer dieser Ländereien aber wir haben keine Besitzurkunde. Deshalb können wir nicht die natürlichen Ressourcen verteidigen, von denen wir leben.”

LATEINAMERIKA

Feminisierung von HIV in Lateinamerika

(Fortaleza, 1. Dezember 2005, adital-poonal).- NachAngaben der Kampagne „16 Tage Aktivismus gegen die Gewalt gegen Frauen“ sind fast 36 Prozent der 1,7 Millionen an der Immunschwächekrankheit AIDS erkrankten Personen Frauen. Diese Feminisierung der Epidemie spiegele „die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und juristischen Ungerechtigkeiten wider, die Frauen und Mädchen einem höheren Infektionsrisiko aussetzen“.

Der sexuelle Missbrauch von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten, die Gewalt gegen Sexarbeiterinnen, der Handel mit und die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen und ihre Ausbeutung in der Pornoindustrie zeigten, dass eine direkte Verbindung zwischen sexuell übertragbaren Krankheiten und der Gewalt bestehe, so die Kampagne.

Wie im Rest der Welt sind auch in Lateinamerika heterosexuelle Beziehungen der wesentliche Übertragungsweg von HIV an Frauen und sind verantwortlich für 75 Prozent der Neuinfektionen. In Peru haben 90 Prozent der schwangeren HIV-infizierten Frauen in ihrem Leben lediglich zwei oder drei Sexualpartner gehabt, was diese zu direkt Verantwortlichen für das Ansteckungsrisiko der Frauen macht.

Geringe Erwartungen an die 6.Ministerkonferenz in Hongkong

Von Andreas Behn

(Hongkong, 8. Dezember 2005, npl).- “Leere Versprechungen in Sachen Entwicklung, aber freier Zugang für die Industrieländer zu den Märkten im Süden” – dies sei die Quintessenz des Entwurfs der Abschlusserklärung für die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO Mitte Dezember in Hongkong, kritisiert Ailee Kwa, Aktivistin des Netzwerkes Focus on Global South. WTO-Generaldirektor Pascal Lamy hatte den umstrittenen Text Ende November veröffentlicht, in der Hoffnung, den seit Jahren festgefahrenen Verhandlungen über die weitere Liberalisierung des Welthandels einen neuen Schub zu geben. Kwas Kollege Jacques Chai Chomthongdi, dessen Organisation die Position vieler Entwicklungsländer und NGOs widerspiegelt, ergänzt die verheerende Kritik: „Die einzelnen Formulierung des Entwurfs unterscheiden sich lediglich darin, wie schnell die De-Industrialisierung (in den armen Ländern) stattfinden wird.“

Die chinesische Metropole Hongkong, Gastgeber der 6. WTO-Ministerkonferenz, wird vom 13. bis 18. Dezember zum Mittelpunkt der Debatten un Mobilisierungen zum Thema Welthandel. Seit 1999 die 3. Ministerkonferenz in Seattle von Demonstranten gestürmt und vorzeitig beendet wurde, sind die komplizierten Wirtschaftsverhandlungen, die gerne im verborgenen geführt werden, ins Licht einer breiten Öffentlichkeit gerückt. Vor zwei Jahren, bei der 5. WTO-Konferenz im mexikanischen Cancún, konnten linke Bewegungen und Teile der Entwicklungsländer erneut einen Erfolg verbuchen, zumindest aus ihrer Sicht: Die Konferenz scheiterte am Unwillen der EU und der USA, den Forderungen der Entwicklungsländer nach mehr Marktzugang und Abbau der Subventionen im Norden nachzugeben. Damals hatte sich unter Führung von Brasilien und Indien erstmals eine Gruppe von 20 Entwicklungs- und Schwellenländern (G20) zusammengetan und auf ihren Interessen beharrt.

In Hongkong wird es also erneut um die gleichen Themen gehen: Hauptstreitpunkt sind die Verhandlungen zur Agrarfrage (AoA – Agreemnet on Agricunture). Vor allem die EU mit Frankreich an der Spitze beharrt hierbei auf ihren Importzöllen und Subventionen, während Agrarexporteure im Süden nicht einsehen, warum sie ihre Märkte immer weiter freigeben sollen, ohne entsprechenden Zugang im Norden zu finden.

Beim GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services) geht es um die Liberalisierungen bzw. Privatisierung des Dienstleistungssektors. Dazu gehören öffentliche Verkehrsmittel ebenso wie Rentenversicherung oder Wasserversorgung. Insbesondere Großkonzerne haben Interesse daran, ihre Dienste weltweit anzubieten, während (nicht nur) in Entwicklungsländern die Angst umgeht, die ohnehin teure Grundversorgung werde für die arme Bevölkerungsmehrheit unbezahlbar. Ein ähnlicher Interessensgegensatz existiert beim sogenannten TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspekts of Intellectual Property Rights): Länder im Norden, die bereits jetzt die meisten Patente besitzen, wollen diese Eigentumsrechte auf immer neue Produktbereiche wie Pflanzen und Biodiversität ausweiten. Widerstand regt sich unter anderem im medizinischen Bereich, um zu verhindern, dass mittels TRIPS den Profitinteressen einiger Unternehmen gegenüber der Gesundheitsversorgung unzähliger Menschen noch weiterer Vorrang eingeräumt wird.

Neu ist in Hongkong, dass den Verhandlungen über Nicht-Agrargüter, vor allem Industriegüter, (NAMA – Non-Agricultural Market Access) eine zentrale Bedeutung eingeräumt wird. Die Länder des Nordens versuchen, im Ausgleich für die auf Dauer absehbaren Einbußen in der Landwirtschaft schon jetzt freien Zugang zu den Industriemärkten im Süden zu erhandeln. Dort würde eine solche Politik jede beginnende Industrialisierung schutzlos der Konkurrenz aussetzen.

Neben diesen vier zentralen Bereichen werden in Hongkong noch unzählige weitere Themen debattiert, von denen nur Wenige etwas verstehen oder überhaupt wissen, deren Einbindung in weltweit gültige und verbindliche Verträge aber Auswirkungen auf alle haben. Dies ist auch der Fall beim sogenannten Investitionsabkommen, das vorsieht, die wirtschaftlichen Kriterien von Großunternehmen der jeweiligen nationalen Gesetzgebung, beispielsweise im Umweltbereich, überzuordnen. Bisher steht dieses Thema nicht auf der Agenda von Hongkong – zu groß war bereits in Cancún der Widerstand der Entwicklungsländer, über dieses Thema überhaupt zu diskutieren.

Pro und Contra bei der Frage der Liberalisierung des Welthandels stehen sich nach wie vor unvereinbar gegenüber. Für eine Umsetzung der WTO-Agenda plädieren die Regierungen der meisten Industrieländer und Vertreter v
on Wirtschafts- und Unternehmensverbänden. Ihre Argumentation ist einfach und griffig: Die Aufhebung von Handelsbeschränkungen bringe Vorteile für alle, mehr Arbeitsplätze und Wohlstand für alle, die sich am freien Handel beteiligen.

Das Gegenteil befürchten die Kritiker, die Anti-Globalisierungsbewegung, Gewerkschafter und Bauernbewegungen aus den Ländern des Südens sowie Regierungen einiger Länder, die sich vom Norden über den Tisch gezogen fühlen. Sie kritisieren, dass der Norden zumeist nur Zugeständnisse wolle, statt selbst welche zu machen. Und mit Verweis auf die fraglichen Ergebnisse der zwei vergangenen neoliberalen Jahrzehnte argumentieren sie, dass diese Art von Freihandel nur großen Unternehmen – im Norden wie im Süden – zugute komme, während die Interessen der Menschen, der Umwelt und die soziale Gerechtigkeit unter die Räder kämen. Zudem wird die fehlende Transparenz und informelle Machtstrukturen im Rahmen der WTO kritisiert, die dazu führten, dass kleinere, Ressourcenarme Länder von vorn herein benachteiligt seien. Die politische Forderung lautet zumeist: Stoppt die WTO, in jeder Hinsicht.

Diese beiden Positionen werden sich in Hongkong gegenüberstehen, aber mit sehr ungleichen Kräften. Im edlen Konventionszentrum, gelegen im noblen Stadtteil Wanchai, werden Tausende von Delegierten, zumeist Regierungsvertreter der 149 WTO-Mitgliedsstaaten und nur wenige NGO-Beobachter, debattieren, während draußen gerade mal einige Tausend ihren Protest zum Ausdruck bringen werden. Die meisten von ihnen werden aus dem Ausland anreisen, in Hongkong selbst ist die Gegenbewegung zwar gut organisiert, aber zahlenmäßig sehr klein. Dennoch sind bereits drei Demonstrationen geplant, diverse dezentrale Aktionen und jede Menge Workshops und Seminare, auf denen Alternativen zur WTO-Agenda erarbeitet werden sollen.

Dass die offiziellen Erwartungen an einen Durchbruch bei dieser Ministerkonferenz sehr niedrig sind, liegt aber vor allem daran, dass sich die EU, die USA und Japan auf der einen Seite und eine Reihe von Entwicklungsländern auf der anderen Seite bei zentralen Fragen nicht einig werden, wie sich auch in den vergangenen Monaten auf diversen Vortreffen immer wieder gezeigt hat. Zwar wird damit gerechnet, dass in vielen Einzelbereichen konkrete Vereinbarungen getroffen werden. Doch beispielsweise in der Agrarfrage wird bereits jetzt offen gesagt, dass Hongkong nur ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Vereinbarung sein werde. Die Rede ist von einer „road map“ und weitere hochrangige Treffen werden für Anfang 2006 erwägt. Der US-Handelsbeauftragte Rob Portman sagte am 22. November in Genf, nur mit weiteren Treffen nach Hongkong könne sichergestellt werden, dass sich die WTO-Mitglieder auf konkrete Modalitäten und Zahlen einigten.

Ihrerseits haben neun einflussreiche Entwicklungsländer, unter ihnen Indien, Brasilien, Argentinien und Venezuela, nach einem Treffen am 28. November deutlich gemacht, dass aus ihrer Sicht die Industriestaaten für des eventuelle Scheitern der Verhandlungen verantwortlich sind. Sie würden „unverhältnismäßige“ Forderungen stellen und selbst nur wenig anbieten, so die Kritik, die sich namentlich an den EU-Handelskommissar Peter Mandelson richtete.

Zudem hob der südafrikanische Delegationschef Faizel Ismail hervor, dass die spezielle und differenzierte Anwendung der WTO-Klauseln bei Entwicklungsländern (S&D-Vereinbarung – special and differential treatment) seitens des Industrieländern nicht ernst genommen werde. Damit, so der Schluss der neun Staaten, würden die Ziele der sogenannten Entwicklungsrunde hintergangen, die bei der WTO-Konferenz 2001 in Doha beschlossen wurde und spätestens Ende kommenden Jahres beendet werden soll.

Eile ist aber geboten, denn Mitte 2007 endet das derzeitige Verhandlungsmandat der US-Regierung. Nach diesem Zeitpunkt müssten sich Bush und seine Mannschaft auf langwierige Debatten im Kongress einstellen, was konkrete Vereinbarungen bei multilateralen Verhandlungen noch schwieriger macht.

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