Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 393 vom 23. Juli 1999
Inhalt
KOLUMBIEN
ARGENTINIEN
BRASILIEN
LATEINAMERIKA
KOLUMBIEN
Dialog zwischen Regierung und Guerilla vorerst ausgesetzt
Schwindende Hoffnung auf Frieden nach verlustreichen Kämpfen
Von Roberto Sepulveda und Roberto Roa
(Bogota, 18. Juli 1999, npl).- Die für Montag, den 19. Juli geplanten Friedensverhandlungen in Kolumbien sind am Samstag ein weiteres Mal verschoben worden. Anlaß waren offenbar Differenzen über die Rolle der internationalen Beobachter in der entmilitarisierten Zone, wo die Gespräche zwischen der Regierung und der Guerilla-Organisation Farc beginnen sollten.
Seit Januar sind die Friedensgespräche unterbrochen, die Präsident Pastrana zum wichtigsten Thema seiner Regierungsarbeit erklärt hatte. Der konservative Staatschef ging auf mehrere Forderungen der Rebellen ein. Zuletzt ordnete er den Abzug der regulären Armee aus ein Gebiet von der Größe der Schweiz südlich der Hauptstadt Bogota an. Doch mit Hinweis auf Massaker, die rechte Paramilitärs womöglich mit Duldung der Militärs an der Zivilbevölkerung begingen, verweigerten die Farc – die größte und älteste Guerilla des Kontinents – die Fortsetzung des Dialogs.
Dennoch einigten sich beide Seiten im Mai auf einen umfangreichen Themenkatalog. Neben einem Waffenstillstand und dem Ende der Entführungen umfaßt er weitgehende Reformen des Staates sowie der Sicherheitskräfte des südamerikanischen Landes. Zuletzt ließen beide Seiten einen für Anfang Juli anberaumten Gesprächstermin verstreichen, woraufhin die Farc ihre größte Offensive seit Pastranas Amtsantritt im vergangenen Jahr startete und erstmals den Krieg bis in die Vorstädte Bogotas trug. Beobachter sind sich einig, daß die Farc mit der einwöchigen Offensive vor allem Stärke demonstrieren wollte, um ihre Position am Verhandlungstisch zu verbessern. Den Bewohnern der Hauptstadt, die den seit 40 Jahren währenden internen Krieg zumeist nur im Fernsehen sehen, steckt der Schrecken noch in den Knochen. Es wird klar, daß nicht einmal diese Andenmetropole vor den etwa 20.000 Farc-Aktivisten sicher ist.
Die Kämpfe forderten einen hohen Blutzoll von über 350 Toten, berichtet die kolumbianische Presse. Doch Opferzahlen sind in Kolumbien stets ein Verwirrspiel, das mangels unabhängiger Beobachter von beiden Seiten zu Propagandazwecken benutzt wird. Während die Armee von 287 toten Guerilleros spricht und einige von ihnen den Pressefotografen vorführte, erklärte die Guerilla am vergangenen Mittwoch (14.7.), den 76 getöteten Soldaten und Polizisten stünden nur 40 eigene Opfer gegenüber. „Die Armeedarstellung der Opferzahlen und des Umfangs der jüngsten Kämpfe insgesamt ist überzeichnet,“ meint Alfredo Rangel, ehemaliger Sicherheitsberater der kolumbianischen Regierung. Damit solle von den Problemen der schlecht organisierten 120.000 Soldaten zählenden Armee Kolumbiens abgelenkt werden, die den Aktivitäten der Guerilleros kaum Einhalt gebieten kann.
Den Kolumbianern, zermürbt von einem schier endlosen Krieg mit bisher über 100.000 Toten und unzähligen Vertriebenen im eigenen Land, schwindet angesichts der neuen Kämpfe die Hoffnung auf eine baldige Lösung am Verhandlungstisch. Zumal die kolumbianische Guerilla im Gegensatz zu den mittelamerikanischen bewaffneten Befreiungsbewegungen der 80er Jahre einen langen Atem und keinerlei Anlaß zum Einlenken hat: Durch die Teilhabe am Drogenhandel und – vor allem im Fall der kleineren Rebellenorganisation ELN – die Erpressung von Lösegeld für Entführte verfügen die Guerilleros ber ausreichend Einnahmen, um die Kriegführung und eine große Organisation zu finanzieren. Wie ein Staat im Staate kontrolliert die Guerilla große Landstriche, schafft Arbeitsplätze und bindet jenseits politischer Überzeugungen große Teile der ländlichen Bevölkerung an sich.
Gerade die Entführungen haben die Guerilla jedoch viele Sympathien gekostet. Seit 1997 entführte sie 2.600 Menschen, Ausländer wie Kolumbianer, die zumeist erst gegen Lösegeld freikamen. Inzwischen mobilisieren die Angehörigen der Opfer gegen diese Methode der Kriegsführung. In vielen Städten finden große Demonstrationen statt. Allein in Bogota gingen 800.000 Menschen auf die Straße. Öffentlich erklärten kürzlich die Angehörigen der jüngsten Massenentführungen der ELN, darunter die Kirchengänger eines Reichenviertels in Cali, in keinem Fall auf die Erpreßung von Lösegeld einzugehen.
USA stärker involviert
(Bogota, 18. Juli 1999, npl).- „Kolumbien bereitet sich auf Frieden und Krieg vor,“ erklärte kürzlich der Verteidigungsminister Luis Fernando Ramirez in Anspielung auf die zutiefst widersprüchliche Lage in seinem Land. Er kehrte gerade von einem Besuch in die USA zurück, wo er um Militärhilfe in Höhe von knapp einer Milliarde Mark bat. Der Großmacht im Norden des Kontinents kommt zunehmend eine Schlüßelrolle im kolumbianischen Bürgerkrieg zu. Militärexperten meinen, eine von der Guerilla befürchtete Invasion der US-Army sei überhaupt nicht notwendig, da sie schon jetzt entscheidend an dem Krieg beteiligt sei: Mit über 200 Beratern, mehreren Flugzeugen und vor allem Radaranlagen, die offiziell nur zur Bekämpfung des Drogenhandels eingesetzt werden, helfen die „Gringos“ der angeschlagenen kolumbianischen Armee. Die schnelle und präzise Antwort auf die neue Farc-Offensive, deren Ausgangspunkte innerhalb von Minuten lokalisiert wurden, bestätigt diese Einschätzung.
ELN und deutsche Vermittlung: Bewaffnete Wohlfahrtspolitik
Von Raul Zelik
(Berlin, 06. Juli 1999, npl). – Während die Hoffnungen auf Friedensgespräche zwischen kolumbianischer Regierung und der Guerillaorganisation FARC noch nicht völlig erloschen sind, sind die Beziehungen der politischen Administration zur ELN, der zweitgrößten Befreiungsbewegung des lateinamerikanischen Landes, auf dem Tiefpunkt angelangt. Der festgefahrene Konflikt veranlaßte Bundeskanzler Gerhard Schröder beim EU-Mercosur-Gipfel Ende Juni in Rio de Janeiro erstmals zu einer Positionierung bezüglich Kolumbien: Er verurteilte die Aktionen der ELN als terroristisch und lobte den „enormen Mut“ des konservativen Präsidenten Andres Pastrana im Verhandlungsprozeß mit den Aufständischen.
Der Dialog mit der ELN ist ganz auf Eis gelegt. Die Verantwortung dafür trägt vor allem Pastrana selbst. Monatelang hatte die Regierung die ELN als besiegt bezeichnet und alles unternommen, um die im Juni 1998 unter Schirmherrschaft der deutschen Bischofskonferenz vereinbarte Nationalkonvention – ein Treffen von politischen und sozialen Gruppen mit der ELN-Guerilla – zu verhindern. Armee und Paramilitärs konzentrierten ihre Aktivitäten auf jene Gebiete, die als möglicher Austragungsort für die geplante Konvention in Frage kamen.
Als Reaktion darauf führte die ELN in den letzten Monaten eine Reihe spektakulärer Entführungsaktionen durch. Vor allem die Gefangennahme von etwa 70 Kirchgängern, mehrheitlich Angehörige der wirtschaftlichen Eliten des Landes am hellichten Tag in der Millionenstadt Cali, Anfang Juni, sorgte für Erstaunen und Empörung. Die ELN stellte damit zwar unter Beweis, daß „es auch für die Oberschicht keine ruhigen Rückzugsgebiete mehr gibt“, brachte aber gleichzeitig die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit gegen sich auf. Im ganzen Land demonstrierten zehntausende gegen die Entführungen.
Auch auf internationalem Terrain steht die ELN auf einmal als „bad guy“ da. Obwohl die ELN-Kommandanten Nicolas Bautista und Antonio Garcia während einer diplomatischen Rundreise durch Europa um Schadensbegrenzung bemüht waren, blieb die Atmosphäre vergiftet. Besondere Empörung rief hervor, daß Nicolas Bautista bei seinem Besuch im Vatikan – ohne konkreter zu werden – politische oder wirtschaftliche Gegenleistungen für eine Freilassung der Geiseln forderte. Diese kompromißlose Haltung hat den Druck auf die in Europa weilende ELN-Leitung verstärkt. So brachte die Organisation selbst deutsche Politiker als Vermittler ins Gespräch. Offensichtlich setzt die ELN darauf, einen Gegenpol zu den US- Interessen in Kolumbien zu schaffen, um sich politische Spielräume zu eröffnen. Unter der Regierung Kohl ging dieses Kalkül lange Zeit auf. Der CDU-Abegeordnete Bernd Schmidbauer, Ex- Kanzleramtsminister und früherer Geheimdienstkoordinator, sowie das Agentenehepaar Mauss werteten die ELN in der Vergangenheit als Gesprächspartner auf.
Dies hat sich unter der rot-grünen Bundesregierung grundlegend geändert. Bundesaußenminister Joseph Fischer will von den Kolumbien-Kontakten nichts mehr wissen. Die SPD-Abgeordneten Karin Kortmann und Frank Hempel lehnten Anfang Juni sogar die Teilnahme an einer rein humanitär ausgerichteten Delegation zur Beobachtung der Freislassung von 30 Geiseln ab. Man werde das Spiel der ELN nicht mitspielen, hieß es in einer Erklärung aus den Reihen der SPD-Fraktion. So sind derzeit nur noch Schmidbauer und die Agenten Mauss als Vermittler im Spiel. Schmidbauer war Ende Juni in Bogota als Überbringer von ELN-Verhandlungsvorschlägen unterwegs und überwachte die Freilassung von einem Teil der in Cali genommenen Geiseln. Michaela Mauss ging noch einen Schritt weiter und kritisierte die Reaktion der Medien auf die Geiselnahme von Cali: Man habe die Entführung dramatisiert, gleichzeitig jedoch die Massaker der Paramilitärs an Dutzenden von Bauern im Nordosten Kolumbiens völlig unbeachtet gelassen.
Das Engagement der drei Profivermittler hat offensichtlich mit deutschen Investitionerwartungen in Kolumbien zu tun. Das an Erdöl und Kohle reiche Land konnte lange Zeit das stabilste Wirtschafswachstum auf dem Kontinent verzeichnen. Schon ein Teilabkommen mit der ELN ist für deutsche Unternehmen interessant. Bereits 1984 handelten Schmidbauer und Mauss für die Mannesmann AG einen Pipeline-Bau durch ELN-Gebiet aus. Der Konzern verpflichtete sich zu Sozialausgaben in der Region und konnte unbehelligt seine Rohre verlegen – Bewaffnete Wohlfahrtspolitik.
Aus kolumbianischer Sicht gibt es für diese etwas dubios erscheinenden Verbindungen gute Argumente. Die USA streben im seit vierzig Jahren andauernden kolumbianischen Konflikt immer deutlicher eine militärische Lösung an. Beim Gipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Mai 1999 in Guatemala schlug die Clinton-Regierung mit Blick auf Kolumbien vor, eine kontinentale Eingreiftruppe zur „Verteidigung der lateinamerikanischen Demokratien“ zu gründen. Vor diesen Hintergrund ist es verständlich, daß die ELN ein politisches Gegengewicht zu den USA ins Spiel bringen möchte – selbst wenn die betreffenden Personen Schmidbauer oder Mauss heißen.
ARGENTINIEN
Erneut Nazi-Verbrecher aufgetaucht –
Peron erleichterte SS-Offizier Herbert Habel die Einreise
Von Marcos Salgado
(Buenos Aires, 21. Juli 1999, npl).- In Argentinien ist erneut ein Nazi-Verbrecher aufgetaucht. Herbert Habel, im Dritten Reich Offizier der SS, lebt seit seiner Flucht aus Deutschland unbehelligt und unter seinem richtigen Namen in El Bolson, einer kleinen Andenstadt südlich von Bariloche. Der mondäne Skiort beherbergt seit je her eine Vielzahl nordeuropäischer Immigranten, unter ihnen auch einen Teil der Kriegsverbrecher, die nach 1945 untertauchen konnten.
Zu Beginn dieser Woche veröffentlichte die Lokalzeitung „La Manana del Sur“ ein Interview mit dem Deutschen. Habel scheute die Öffentlichkeit offenbar nicht, zeigte sich keiner Schuld bewußt und plauderte freimütig über die Vergangenheit. Juan Peron, der damalige argentinische Präsident, habe ihm höchstpersönlich zur legalen Einwanderung verholfen. Bei der Justiz liege „nichts gegen ihn vor“, beteuerte der 85jährige. Der Dachverband der jüdischen Einrichtungen in Argentinien, DAIA, erklärte hierzu, sie werde das auf die Jagd nach Nazi-Verbrechern spezialisierte Simon- Wiesenthal-Zentrum zu Rate ziehen, um den Fall zu prüfen.
Habel zufolge war er 1950 unter dem Namen Kurz-Repa mit dem spanischen Frachter „Cabo Buena Esperanza“ in das südamerikanische Land eingereist. Bei einer Baufirma, die gute Verbindungen zum Gouverneur der Provinz Buenos Aires unterhielt und mit der Renovierung eines Landhauses von Präsident Peron beauftragt war, fand er schon bald eine Anstellung. „Hier traf ich Juan Peron, der aufgrund meines Akzents fragte, ob ich Deutscher sei. Er wollte alles von mir wissen, wo ich gekämpft hatte und viele Details über den Krieg,“ berichtete Habel.
Dann sei Peron auf seine Bitte eingegangen, seinen wirklichen Namen führen zu dürfen. Mit einem Schreiben von Perons Sekretär namens Martinez suchte Habel einen Richter auf, der die Formalitäten umgehend erledigte. „Ich mußte keinen Pfennig dafür zahlen, da Peron sich für mich einsetzte,“ sagte der ehemalige SS- Mann und fügte vielsagend hinzu, daß Martinez „das Deutsche perfekt beherrschte“. Der Populist Peron – wie seine Gattin Evita Peron bis heute von vielen Argentiniern als Nationalheld verehrt – verhehlte nie seine Sympathie für die Regime Mussolinis und Hitlers.
Der Fall Herbert Habel sei dem von Erich Priebke sehr ähnlich, kommentierte Daniel Reifeld, der DAIA-Vorsitzende in Bariloche, „Beide reisten mit falschen Pässen ein, waren zuerst sehr eingeschüchtert, doch der herzliche Empfang in Argentinien ermutigte sie, sorglos und unter ihrem wirklichen Namen hier weiterzuleben. Erst zu Beginn der 90er Jahre wurde Priebke enttarnt und später in Italien zu einer langen Haftstrafe wegen einer Massenerschießung an italienischen Zivilisten verurteilt.
Habel begegnete in Argentinien auch Adolf Eichmann, einem der Hauptverantwortlichen für die Judenvernichtung unter Hitler. Damals arbeitete Eichmann in der „Argentinischen Gesellschaft für Projekte und Industrie“ (CAPRI), die im Verdacht steht, zahlreichen Nazigrößen die Flucht aus Deutschland ermöglicht zu haben. „Ich sagte Eichmann, er solle nicht in der Hauptstadt Buenos Aires bleiben. Doch Eichmann fühlte sich völlig sicher,“ ergänzte Habel. 1960 entführte ein israelisches Kommando den Shoa- Verantwortlichen Eichmann, der daraufhin wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet wurde.
Fünfter Jahrestag des Anschlags gegen jüdisches Gemeindezentrum
Bis heute keine Verurteilung
Von Marcos Salgado
(Buenos Aires, 16. Juli 1999, npl).- Es war ein Montagmorgen, kalt und sonnig wie so viele im Winter von Buenos Aires. Die Cafe- Besucher kommentierten das Endspiel Brasilien-Italien – die Fußball-WM 1994 in den USA war gerade zu Ende gegangen. Niemand würde sich heute noch an diesem Montag erinnern, wenn nicht um 9 Uhr 53 eine enorme Explosion die argentinischen Hauptstadt erschüttert hätte: Das Gebäude des jüdischen Gemeindezentrums AMIA war dem Erdboden gleichgemacht. Die verheerende Bombe, ein mit 300 Kilo Sprengstoff beladener Kleinlaster, zerfetzte 86 Menschen, über 300 wurden verletzt.
Am 18. Juli 1994 wurde Buenos Aires zum Schauplatz des massivsten Gewaltakts gegen jüdische Zivilisten außerhalb Israels seit dem zweiten Weltkrieg. Doch es war nicht das erste: Zwei Jahre zuvor, am 23. März 1992, nahmen Terroristen die israelische Botschaft ins Visier und töteten 23 Menschen.
Seit jenem Montagmorgen versammeln sich jeden Wochenanfang Angehörige der AMIA-Opfer vor dem Gerichtspalast in Buenos Aires und fordern Gerechtigkeit. Bis heute ist niemand wegen des Anschlags verurteilt worden und die Hoffnung, die Urheber des Verbrechens ausfindig zu machen, ist verschwindend gering. Argentinische Politiker wie Staatsanwälte glauben felsenfest, islamische Fundamentalisten seien die Verantwortlichen – eine These, die im fernen Südamerika wie eine Verschwörung von Geistern klingt.
Den fünften Jahrestag der Katastrophe begeht die jüdische Gemeinde in Argentinien mit Erinnerungsfeiern. Auf Veranstaltungen wird über die nachlässigen und widersprüchlichen Ermittlungen berichtet sowie der Unwillen des Staates an der Aufklärung des Falles angeprangert. Am Freitag wurden 86 Bäume gepflanzt, sie tragen die Namen der Opfer, unter ihnen Angestellte und Besucher des Gemeindezentrums, aber auch Passanten, die zufällig in der Nähe waren.
Wie jedes Jahr im Vorfeld des Jahrestages bemüht sich die Justiz, ihre Anstrengungen in Sachen AMIA-Anschlag ins öffentliche Licht zu rücken. Vergangene Woche beantragte die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft für die beiden einzigen Inhaftierten, unter ihnen ein Ex-Kommissar der Polizei des Bundesstaates Buenos Aires, Juan Jose Ribelli. Er soll den Kleinlaster besorgt haben und sei, so die Staatsanwaltschaft, der Kopf der „lokalen connection“ der Verschwörung. Ribelli war zur Zeit des Anschlags die rechte Hand des Polizeichefs Pedro Klodczyk, eine Truppe, die der heutige Präsidentschaftskandidat der regierenden Peronisten, Eduardo Duhalde, einst als „die beste Polizei der Welt“ bezeichnet hatte.
Traurigerweise zweifelt in Argentinien kaum jemand an der Möglichkeit, daß Teile der argentinischen Sicherheitskräfte an dem Massaker beteiligt waren. Seit langem sind die antisemitischen Tendenzen unter den Uniformierten kein Geheimnis mehr. Ermittlungen wegen wiederholten Schändungen jüdischer Friedhöfe verwiesen regelmäßig auf aktive oder ehemalige Polizisten. Auch der besonders brutale Umgang der Militärs und Polizisten mit jüdischen Opfern der Diktatur in den 70er Jahren ist inzwischen in mehreren Studien belegt worden.
Der Verdacht gegen Ribelli erhärtete sich, als bekannt wurde, daß er kurz vor dem Bombenattentat von seinem Vater, einem einfachen Eisenbahner, zwei Millionen US-Dollar geerbt hatte. Die Justiz geht davon aus, die Millionen seien das Entgeld für die Durchführung des Anschlags. Demnächst soll der Prozeß gegen den Ex-Polizisten und Carlos Telledin, einen stadtbekannten Autoschieber, beginnen.
Doch die Familienangehörigen verwehren sich dagegen, daß damit auch die Ermittlungen gegen die intellektuellen Urheber des Attentats abgeschlossen werden sollen. Sie befürchten einen Schweigepakt zwischen den Angeklagten und den eigentlich Verantwortlichen, über die es nur vage Vermutungen gibt, sofern man nicht an die „islamische connection“ glaubt. Doch auch Präsident Carlos Menem sagt nach wie vor, nur eine Gruppe wie die Hizbollah käme für die Tat in Frage. Bereits wenige Tage nach der Explosion sprach Menem von „stichhaltigen Beweisen“ gegen den Iran, womit er ein diplomatischen Zerwürfnis auslöste. Doch bis heute haben diese Beweise nicht ausgereicht, um Mohsen Rabanni, den damaligen Kulturbeauftragten der iranischen Botschaft, vor Gericht zu laden. Rabanni ist der offiziellen Lesart zufolge der Verbindungsmann zwischen der „lokalen connection“ und den Urhebern im fernen Arabien.
BRASILIEN
Fünf Jahre „Plano Real“
(Eichstetten/Rio de Janeiro, Juli 1999, kobra/ibase-Poonal).- Am ersten Juli 1994 wurde er eingeführt: Der Real als neue brasilianische Währung, hinter der sich ein damals neuer Finanz- und Wirtschaftsplan verbarg. Bekannt als „Plano Real“ sollte mit den Maßnahmen das Hauptziel einer stabilen Währung verfolgt und so die Inflation bekämpft werden. Nach fünf Jahren zieht die Intergewerkschaftliche Abteilung für Statistik und sozio- ökonomische Studien (DIEESE) Bilanz. Was die Inflationsrate betrifft, weist der „Plano Real“ tatsächlich einen Erfolg auf: Statt einer monatlichen Inflation von etwas mehr als 21 Prozent im Jahr 1994 ist diese auf fast Null Prozent im Jahr 1998 gesunken. Auf das gesamte Jahr gerechnet sank die Rate in den vergangenen fünf Jahren von gut 900 Prozent auf 0,5 Prozent.
Damit schließt DIEESE das Kapitel der Erfolgsmeldungen in seiner Bilanz jedoch auch schon ab. Andere aufgeführte ökonomische Grunddaten zeigen durchweg eine Verschlechterung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Lage in Brasilien an. Bezogen auf die Daten der Auslands- und Inlandsverschuldung, des Zinsniveaus und der Arbeitslosenzahlen kommen die Forschenden mit ihrer Bilanz zu einer insgesamt negativen Bewertung des „Plano Real“. Die Inlandsschulden seien von 153 Milliarden Reales 1994 auf die Rekordsumme von 500 Milliarden Reales im Jahr 1999 gestiegen. Und auch die Auslandsverschuldung habe überdeutlich zugenommen: von 75,5 Milliarden US-Dollar 1994 auf heute 223,8 Milliarden. Für letztere Entwicklung ist laut DIEESE überwiegend die Öffnung des brasilianischen Marktes für den internationalen Handel verantwortlich zu machen. Die Zahl der Importe steigt schneller als die der Exporte und ruft somit eine negative Außenhandelsbilanz hervor.
Besonders betont das intergewerkschaftliche Institut den Anstieg der Arbeitslosigkeit. In allen untersuchten urbanen Regionen Brasiliens hat die Zahl der Erwerbslosen seit dem „Plano Real“ zugenommen. In Sao Paulo lag die Arbeitslosenquote 1994 noch bei 14,2 Prozent bezogen auf die Zahl der Erwerbsfähigen. 1998 ist der Prozentsatz auf 18,3 Prozent gestiegen. Zudem werden die Zeiträume für die Suche einer neuen Anstellung länger: 1994 brauchten Arbeitslose noch durchschnittlich 22 Wochen, um eine neue Erwerbsmöglichkeit zu finden, 1998 waren es bereits 36 Wochen.
Arbeitslosenstatistiken: Das Spiel mit den Zahlen
(Eichstetten/Rio de Janeiro, Juni 1999, kobra/ibase-Poonal).- Bei den Bewertungen der derzeitigen ökonomischen Lage werden oft die Arbeitslosenzahlen als ein wichtiger Faktor herangezogen. Dabei lassen sich jedoch sogar die Statistiken derselben Institute und Einrichtungen sowohl für den Hoffnungsschimmer am Horizont als auch für eine neuerliche Krisenwarnung nutzen. Auf die Vergleichsdaten kommt es an.
So meldet das Brasilianische Institut für Geographie und Statistik IBGE landesweit eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 7,7 Prozent im Mai. Im Vergleich zum Vormonat bedeutet dies eine leichte Verringerung der Erwerbslosenquote. Allerdings nahm die Zahl der vertraglich geregelten Arbeitsverhältnisse ab: Noch im Mai 1998 gab es 3,3 Prozent mehr offizielle Stellen mit Sozialversicherungsleistungen und vertraglicher Regelung als im Mai 1999.
Auch wenn man einen anderen Vergleichszeitraum wählt, fallen die Ergebnisse mit entgegengesetzten Vorzeichen aus. Die ersten vier Monate des Jahres 1999 wiesen zusammengenommen die schlechteste Arbeitslosenbilanz seit dem Jahr 1982 auf, auch diese Statistik basiert auf den Zahlen des IBGE. Die Intergewerkschaftliche Abteilung für Statistik und sozio-ökonomische Studien (DIEESE) kommt zu ganz anderen Ergebnissen. Anders als das IBGE, bezieht die Abteilung auch diejenigen Menschen mit ein, die in informellen Arbeitsverhältnissen ohne soziale Absicherung stehen, Gelegenheitsjobs wahrnehmen oder innerhalb der letzten 30 Tage die Suche nach Arbeit resigniert aufgegeben haben.
Bei der Frage, in welchen Sektoren neue Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden bzw. wo eher Stellen gestrichen werden, sind sich DIEESE und IBGE hingegen einig. Während im Handel und in der Industrie zunehmend Arbeitsplätze abgebaut werden, bietet der Dienstleistungssektor neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch im Bereich des Baugewerbes sind in geringem Maße Stellen geschaffen worden. Trotzdem stünde den insgesamt 73.000 neuen offenen Stellen im April diesen Jahres der Eintritt von 135.000 Menschen auf dem Arbeitsmarkt gegenüber, berichtet das Intergewerkschaftliche Institut. Anlaß zu Optimismus gibt es bisher also nicht. Ökonom*innen vermuten, daß die Arbeitslosigkeit in Brasilien erst dann nennenswert abnimmt, wenn das Land ein Wachstum des Bruttoinlandproduktes zwischen sechs und sieben Prozent aufweisen kann. Doch damit rechnet derzeit niemand. Die meisten Fachleute, auch die in der Regierung, erwarten dieses Jahr ein Negativwachstum. Die optimistischsten Annahmen gehen von einer Steigerung des Bruttoinlandsproduktes von einem Prozent aus. Die Hoffnung der brasilianischen Erwerbslosen auf Arbeit muß wohl auf das nächste Jahr verschoben werden.
LATEINAMERIKA
Kinder in Lateinamerika, Teil IV
Mexiko: „Queremos vivir“ – Die verseuchten Kinder von Torreón
Von John Ross
(Torreon, 28. Juni 1999, na-Poonal).- Die vergifteten Kinder gehen langsam Hand in Hand durch die Straßen der nordmexikanischen Stadt Torreon und schauen von Zeit zu Zeit zu ihren Eltern hinüber, von denen einige Spruchbänder hochhalten. „Penoles, Kindermörder!“, heißt es auf den Transparenten. Die Kinder tragen Operationsmasken vor den Mündern. Sie beginnen zu singen: „Queremos vivir – Wir wollen leben!“
In der Uno-Konvention über die Rechte der Kinder heißt es, sie sollten „den höchstmöglichen Grad an Gesundheit genießen.“ In der eine Million Einwohner zählenden Industriestadt Torreon im Bundesstaats Coahuila verletzt Met Mex Penoles, die größte Silber- und Goldraffinerie ganz Lateinamerikas mit einer Produktion von 36 Millionen Unzen im Jahre 1998, das Recht der Kinder auf ein Leben in sauberer Umwelt. Das goldene Innenleben des Unternehmens verwandelt sich auf der anderen Seite des Firmenzauns in Gift.
Jahrelang ging der von Penoles ausgestoßene hochgiftige Bleistaub auf die Dächer, Höfe und Küchen des umliegenden Viertels Luis Echeverria nieder. „Wir haben nie über den Staub nachgedacht, so lebt man eben hier,“ sagt Elvira Corpus, die seit 28 Jahren einen Steinwurf von der Raffinerie entfernt lebt.
Kinder absorbieren das Blei 40 mal schneller als Erwachsene, weil ihr weiches Gewebe noch wächst und deshalb hochgradig zum Aufnehmen des Bleis neigt. Das Gift lagert sich im Blut, in der Leber, den Knochen und den Nieren ab. In extremen Fällen kommt es zu Krämpfen und Hrinschäden. Gustavo, der neunjährige Sohn von Corpus, leidet unter ständigen Bauchschmerzen und chronischem Nasenbluten. Sein Bleiwert, 33 Mikrogramm pro Deziliter Blut, liegt genau im Durchschnitt der von Penoles vergifteten Kinder. Das us-amerikanische Krankheitskontrollzentrum hält mehr als 25 Mikrogramm Blei pro Deziliter Blut für gefährlich. Die vom Gesundheitsamt des mexikanischen Bundesstaats Coahuila seit März entnommenen 3.000 Blutproben brachten ans Tageslicht, daß 1.350 Kinder mehr als 25 Mikrogramm aufwiesen. Einige, wie die zehnjährige Yazmin Morones, erreichen astronomische Höhen von 100 Mikrogramm.
Zur Zeit befinden sich 23 Kinder aus Torreon mit mehr als 60 Mikrogramm – unter ihnen Yazmin – im Krankenhaus. Etwa 60.000 weitere Kinder der Stadt sind nach Schätzungen von den Penoles- Giften betroffen. Die dichte Ansiedlung von Hochöfen und Schmelzanlagen auf der umzäunten Fabrikanlage erhält jährlich 200.000 Tonnen Minerale aus 134 verschiedenen Minen. Die Rohstoffe werden mit Arsen behandelt. Die dabei entstehenden Gifte verseuchen Luft und Boden in den Arbeitervierteln von Torreon.
Der Schein trüge, erklärt der Generaldirektor von Pennoles, Manuel Luevanos. In den vergangenen 20 Jahren habe die Raffinerie 26 Millionen US-Dollar ausgegeben, um die Schwefeldioxidaustöße zu vermindern und die im Bundesgesetz festgelegten Werte einzuhalten. Da das Gesetz weder die hochgiftigen Blei- noch Cadmiumausstöße berücksichtigt, wurden sie von Penoles einfach ignoriert. Bereits 1997 lagen die Bleiwerte von Schülern im Schnitt bei 25 Mikrogramm und ein Toxikologe der Universität Juarez empfahl, die Schulen zu schließen und die nachegelegenen Viertel zu evakuieren. Doch trotz der wachsenden Sicherheit, daß es sich um eine Bleivergiftungsepidemie handelt, reagierten die örtlichen Behörden nicht und Penoles stieß weiter hochgiftige Stoffe aus den Schornsteinen.
„Sogar der blindeste Inspektor hätte das sehen müssen,“ meint Ivan Restrepo, der Gründer des Zentrums für Ökoentwicklung. Der Kinderarzt einer Privatklinik am Rande des Viertels Luis Echerverria, Dr. Manuel Velasco, hat in den ersten Monaten des Jahres 1998 unter den Kindern 10 Fälle von schwerer Anämie diagnostiziert. Außer den hohen Bleiwerten fand der Arzt Arsen- und Cadmiumvergiftungen. Als er daraufhin die lokalen Gesundheitsbehörden alarmierte, stieß er auf taube Ohren. Im November ging der Arzt vor Gericht, um die Untätigkeit der Behörden untersuchen zu lassen.
Vertreter der Opposition veranstalteten Pressekonferenzen. Sieben Monate später löste der Gouverneur von Coahuila, Rogelio Montemayor, den Umweltalarm bei Pennnnoles aus und veranlaßte das Unternehmen, seine Produktion sofort um ein Viertel zu drosseln. Die Maßnahme stellte sich als unzureichend heraus, da die Vergiftungsquote nicht abnahm und weitere Kinder erkrankten. Am 14. Mai wurde ein vierjähriger Junge ins Krankenhaus eingeliefert, der 95 Mikrogramm Blei im Blut aufwies. Die Behörden ordneten am 21. Mai die Reduzierug der Penoles-Produktion um die Hälfte an, was einen Protestmarsch der Arbeiter zur Folge hatte, die um ihre Gewinnbeteiligung fürchteten.
Eine Schließung der Raffinerie lehnen die Stadtväter ab, denn Penoles bedeutet 9.000 Arbeitsplätze und 500 Millionen Dollar Steuereinnahmen. Das Unternehmen versprach allerdings, die Emissionen zu reduzieren und stellte sechs Millionen Dollar bereit, um die 20 gefährdetsten Wohnblocks aufzukaufen und abzureißen. „Warum sollen wir hier weg? Warum verlangen sie nicht von Penoles, daß sie verschwinden?“ ereifert sich die Hausfrau Dolores Guillen während einer Demonstration vor den Fabriktoren.
Penoles übernimmt zur Zeit die Kosten für die medizinische Behandlung der Kinder. Die effektivste Form der Bleieliminierung im Blut, ein Medikament namens Succimer, hat jedoch nicht die Zustimmung der Firma gefunden, da jede Behandlung mit dem Medikament 525 Dollar kostet. Auf die Frage, ob die Rechte ihres Kindes verletzt worden seien, schaut Elvira Corpus aus dem Fenster auf die wüste Industrielandschaft und sagt: „Nicht nur die Rechte meines Kindes, auch meine.“
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