Poonal Nr. 253

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 253 vom 14. August 1996

Inhalt


BRASILIEN

ARGENTINIEN

HAITI

ECUADOR

GUATEMALA

MEXIKO

KOLUMBIEN


BRASILIEN

Tod Kubitscheks wird wieder aufgerollt

Von Ricardo Soca

(Rio de Janeiro, Juli 1996, comcosur-POONAL).- Starb der ehemalige Präsident Juscelino Kubitschek wirklich bei einem Autounfall oder wurde er Opfer eines ähnlichen Attentates wie der frühere chilenische Außenminister Orlando Letelier während der Pinochet- Diktatur? Die Brasilianer*innen haben den Informationen über den Unfall des Ex-Regierungschefs im Jahr 1976 stets mißtraut. Bisher konnte sich ein Verdacht aber nie auf konkrete Tatsachen stützen. Jetzt hat das Auftauchen eines Sprengstoff bergenden Dokumentes den Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais veranlaßt, die Untersuchung über den Fall neu aufzunehmen. Es handelt sich um einen Brief des chilenischen Generals Manuel Contreras Sepulveda, den dieser 1976 an den Oberst Joao Baptista Figueiredo sandte. Letzterer war damals der Geheimdienstchef der brasilianischen Streitkräfte. Contreras bekräftigte in seiner Botschaft, weder die Rückkehr Leteliers in das politische Leben Chile noch die Kubitscheks in Brasilien dürfe erlaubt werden. Zwischen den Todesfällen beider Politiker lagen kaum zwei Monate.

Wer waren diese Persönlichkeiten? Kubitschek hatte Brasilien von 1956 bis 1960 regiert. Er war der populärste der brasilianischen Politiker*innen. Seine Verankerung in der Bevölkerung beunruhigte das Militärregime, das Brasilien seit 1964 regierte. Die Streitkräfte sahen in Kubitschek den einzigen Politiker, der in der Lage gewesen wäre, eine Volksbewegung für die Redemokratisierung des Landes anzuführen. Auf der anderen Seite der Anden war Contreras Sepulveda der allmächtige Chef der DINA, der gefürchteten Geheimpolizei des Diktators Augusto Pinochet. Er verbüßt derzeit in seinem Land eine Strafe wegen seines Mordauftrags, der den Tod Leteliers 1976 bei einem Attentat in Washington besiegelte. Figeiredo wurde, kurz anch Kubitscheks Tod zum General befördert, 1979 der letzte brasilianische Präsident unter dem 1985 endenden Militärregime.

Die neuen Untersuchungen über den umstrittenen Todesfall gehen auf Serafim Jardim zureuck, den früheren Berater von Kubitschek. Heute ist er nicht nur Gouverneur von Minas Gerais, sondern auch Leiter des Museum casa de Juscelino, das an den Ex-Präsidenten erinnert. Jardim versichert, außer dem Brief weitere Hinweise zu haben,daß die Militärs an dem Tod Kubitscheks interessiert waren. Hohe Offiziere im Ruhestand bezeichneten Jardim daraufhin als „einen Schwachsinnigen, der sich auf Kosten des Unfalles von JK(Kubitschek) profilieren will“. In einer Militärzeitschrift gehen diese Offiziere so weit, zu sagen,daß es „besser wäre, wenn er (Jardim) nicht existierte, aber da es ihn nun mal gibt (und niemand hat die Schuld dafür), sollte er wenigstens schweigen“. Die Gruppe versucht ebenfalls, die brasilianische Presse lächerlich zu machen, indem sie erklärt, die Zeitungen würden jederzeit damit anfangen, die Militärs für alle im Land geschehenen Unfälle verantwortlich zu machen.

Am 22. August 1976 fuhr der Chevrolet von Kubitschek mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn von Rio nach Sao Paulo, als der Fahrer die Kontrolle verlor und das Auto auf die Gegenfahrbahn geriet. Dort stieß es mit einem LKW zusammen. Der Polizeibericht ging davon aus,daß der Wagen vorher von einem entgegenkommenden Bus angefahren worden sei. Der angeklagte Fahrer dieses Busses wurde jedoch freigesprochen, da der zuständige Richter die von der Polizei vorgelegten Beweise als „nicht stichhaltig“ einstufte. In dem 734 Seiten langen Aktenberg, der 1978 archiviert wurde, finden sich zudem die Erklärungen von neun Buspassagieren, die die Erklärungen der Polizei kategorisch abstreiten und von einem Zusammenstoß nichts wissen wollen. Jetzt soll die Exhumierung der Leichen Kubitscheks und seines ebenfalls beim Unfall umgekommenen Fahrers Geraldo Ribeiro Klärung bringen. Der Anwalt Paulo Castelo Branco, mitverantwortlich für die Neuaufnahme der Untersuchungen, kommentiert die existierenden Dokumente in dem Sinne,daß „die offizielle Version über diesen Zusammenstoß falsch ist oder von den Unterdrückungsorganen erzwungen wurde, um ein mögliches Attentat zu verschleiern oder vielleicht, um die Spekulationen über ihre Urheberschaft anzufachen“.

Der Gerichtsmediziner Carlos Alberto de Minas, der anerkannteste im Bundesstaat, kritisiert den vor 20 Jahren verfaßten Polizeibericht „als Ansammlung von Fehlern, vom Anfang bis zum Ende. Eine gesammelte Anstrengung, das Unmögliche nachzuweisen.“ Die am Tatort gemachten Fotografien seien so ungenau,daß sie die Vermutung unterstützen würde, etwas habe verborgen werden sollen. Das wird von dem damals zuständigen Gerichtsmediziner Nelson Ribeiro de Moura in gewisser Weise bestätigt. Die Untersuchungsfehler 1976 seien „Empfehlungen der Obrigkeit“ zu verdanken. Zwanzig Jahre nach dem Tod von Kubitschek bleibt eine Frage: Wenn es keinen Zusammenprall (mit dem Bus) gab, was war es dann, was den Fahrer die Kontrolle über das Auto verlieren ließ? Das wirklich Geschehene aufzudecken, ist die Herausforderung 20 Jahre später. Zumindest, um die historische Wahrheit über diese gar nicht so lange zurückliegenden Jahre wieder herzustellen.

ARGENTINIEN

Friedliche Plünderungen

(Montevideo, 26. Juli 1996, comcosur-POONAL).- Argentinien hat mehrere „soziale Explosionen“ erlebt, bei denen die hungernden Menschen Supermärkte besetzten und leerten. Jetzt beginnt sich eine neue Form auszubreiten, die der „friedlichen Plünderung“. Eine dieser Plünderungen geschah vor kurzem in der Hauptstadt Buenos Aires. Dutzende Rentner*innen und Arbeitslose stürmten mitten im Zentrum ein Geschäft und forderten Lebensmittel. Schließlich willigte die Geschäftsleitung des Supermarktes ein, mehr als 150 Pakete mit Lebensmitteln auszuhändigen. Die Aktion wurde von Raúl Castells angeführt, einem Aktivisten der Rentner*innen, die Ersatz für das Familieneinkommen fordern, dasihnen und der Mehrheit der Arbeiter*innen durch die jüngsten Wirtschaftsmassnahmen der Regierung von Präsident Menem verloren gegangen ist. Die Bundespolizei umstellte das Geschäft sofort. Dank der Verhandlung zwischen den Hungernden und den Geschäftsbesitzern schritten sie jedoch nicht ein. Zwei solcher Beispiele von „Lebensmittelabgaben“ hat es bereits in Mendoza und Córdoba gegeben. Das argentinische Kabinett hält inmitten heftiger interner Diskussionen an der Anwendung von Maßnahmen fest, die die Lebenqualität der Argentinier*innen noch stärker einschränken. So wird es nicht verwundern, wenn die friedlichen oder gewalttätigen Geschäftsstürmungen in den kommenden Wochen erneut eine Nachricht sein werden.

HAITI

Vergiftete Kinder

(Port-au-Prince, Juli 1996, hib-POONAL).- Der Zahl der durch vergifteten Sirup gegen Fieber getöteten Kinder ist auf 62 angewachsen. Insgesamt wurden nach den bisherigen Daten 88 Kinder vergiftet. Der mit sonst als Frostschutz- oder Lösungsmittel benutztem Glykol versetzte Sirup stammt offenbar von einer Fracht, die von einem deutschen Unternehmen an die haitianische Firma Pharval Laboratories ging. Phraval verkaufte einen Teil der Ladung an 4-C (steht für Caribbean Canadian Chemical Company) weiter. Am 15. Juli ließ die Regierung Pharval „wegen Neustrukturierung“ schliessen und verbot die Produktion von Medikamenten auf Sirup- Basis. Pharval und 4-C haben jeweils einen 30-Prozentanteil am haitianischen Medikamentenmarkt, ein drittes Unternehmen folgt mit 10 Prozent. Die Kunden stellt die Mehrheit der Bevölkerung während die geldkräftigeren Leute im Ausland hergestellte Medizin kaufen.

Ein weiterer Skandal, bei dem haitianische Kinder die Opfer sind, wurde gerade erst bekannt. Auch in diesem Fall ist Dr. Reginald Boulos, der Miteigentümer von Pharval Laboratories, beteiligt, diesmal als Leiter der von den USA finanzierten Entwicklungs- und Gesundheitszentren (CDS) in Cite Soleil. Das Washingtoner Haiti- Buero (WOH) und das Nationale Impf-Informationszentrum (NVIC) in den USA enthüllten,daß mehr als 2.000 Kinder in Cite Soleil mit einer Masernimpfung behandelt wurden, deren Dosierung 10 bis 500mal höher als normal war. Die Impfung war Teil eines von der John Hopkins Universität und den CDS im Auftrag der US-Regierung durchgeführten Test vor einigen Jahren. Verschiedene andere Medikamententests – beispielsweise mit Norplant – wurden über die CDS durchgeführt. WOH und NVIC erklärten,daß die Impfungen „eine höhere Todesrate als erwartet“ auf Haiti und in anderen Dritte Welt Ländern zum Ergebnis hatten. Es ist bisher nicht bekannt, ob die haitianischen Eltern wußten,daß ihre Kinder Teil des Test waren. Genausowenig steht fest, wieviele haitianische Babies als Folge der Impfung starben. Die beiden genannten Gruppen haben weitere Nachforschungen angekündigt.

ECUADOR

Kopf von Bucaram in Gefahr

(Mexiko-Stadt, 12. August 1996, POONAL).- Am 10. August trat Ecuadors neu gewählter Präsident Abdalá Bucaram sein Amt an. Dabei blieb er seinem populistischen Kurs treu. Unter anderem erklärte er, falls die Bankzinsen nicht innerhalb der folgenden Tage um 10 Prozent gesenkt würden, sei er bereit, sich „den Kopf kürzen zu lassen“. Ausserdem kündigte er die Aussetzung einer schon von seinem Kabinett beschlossenen Erhöhung der Gaspreise an. Zu den umstrittensten Massnahmen, die er bestätigte, gehört die militärische Kontrolle der Zollstationen und Häfen, um die Steuerflucht zu verhindern. Der Großteil der Presse kritisierte Bucarams Antrittsrede und die überwiegende Abwesenheit konkreter Erklärungen.

Dokumentation: Die Erklärung des kontinentalen Indígena-Treffens

(Quito, 9. August 1996, alai-POONAL).- Am 7. und 8. August fand in Quito das „Kontinentale Treffen der Indíigena-Autoritäten und Führer*innen“ statt. Aufgerufen hatte die Konföderation der Ind'igena-Nationalitäten Ecuadors (CONAIE) anläßlich des bevorstehenden Amtsantrittes von Abgeordneten und Autoritäten der Ind'igenas, die bei den ecuadoreanischen Wahlen am 19. Mai ins Parlament und regionale Kammern gewählt wurden. Die Abschlußveranstaltung war am 9. August, dem Internationalen Tag der Indígena-Völker. Die gewählten Mitglieder der Bewegung Pachakutik Nuevo Pa'is unterschrieben dabei öffentlich ihren zukünftigen Rücktritt. Dies soll eine neue Form der Kontrolle und Prüfung der Volksvertreter*innen symbolisieren. Die Teilnehmer*innen aus den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern verabschiedeten die folgende Erklärung:

Für unser Recht als Völker zu existieren

Wir, Indígena-Organisationen, -Führer*innen und Autoritäten des Kontinents, auf dem Kontinentalen Treffen mit dem Ziel zusammengekommen, Erfahrungen und Ueberlegungen über die Teilnahme der Indígena-Völker an den demokratischen Entwicklungen auszutauschen und die Ind'igena-Brüder zu unterstützen, die im Parlament und den Lokalregierungen Ecuadors Verantwortung übernehmen, sind zu folgenden Schlußfolgerungen und Vorschlägen gelangt:

I. Rechte der Indígena-Völker

1. Auf nationaler und internationaler Ebene die Anerkennung der kollektiven Rechte, die sich im wesentlichen auf Territorium, Naturschätze, Organisationsformen und Autonomie beziehen sowie die rechtliche Vielfalt, fördern und konsolidieren.

2. Initiativen im Innern der Organisationen fördern und Erfahrungen austauschen, die es erlauben, das Wissen über die Indígena-Völker, das unsere Selbstschätzung als Völker stärkt, wieder zu erlangen, einzuschätzen und zu konsolidieren. Das soll erlauben, eine neue Ideologie aus der Ind'igena-Perspektive zu entwickeln.

3. Im Rahmen des Jahrzehnts der Indígena-Völker fordern,daß die Vereinten Nationen den klaren politischen Willen beweisen, damit ihre Mitgliedsstaaten das Bündel internationaler Maßnahmen bezüglich der Rechte der Indígena-Völker verabschieden und anwenden. Gleichfalls sollen sie in Anwendung ihrer eigenen Resolutionen für die Organisation des ständigen Forums die Entwicklung hinsichtlich der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Rechte der Indígena-Völker beschleunigen und für die Anerkennung des beratenden Status der repräsentativen Organisationen der Indígena-Völker sorgen.

4. Auf der Ebene der verschiedenen Staaten die Projekte zu Verfassungs- und Gesetzesreformen konsolidieren, die es erlauben, die Vielfalt der Nationalitäten, Ethnien und Kulturen unserer Staaten und Nationen anzuerkennen.

5. Initiativen entwickeln, die es ermöglichen, unsere Rechtssysteme, die im Rahmen der Autonomie, der Rechtsprechung und der Zuständigkeit auf unseren Territorien angewendet werden, zur Gültigkeit zu verhelfen.

6. Initiativen vorschlagen, die uns erlauben, unser Wissen über unsere Rechte zu vergrößern und die Ausübung derselben garantieren.

7. Von den Indígena-Organisationen aus Gesetze zur Verteidigung unserer Rechte auszuarbeiten, die sich auf Organisations- und Mobilisierungsentwicklungen stützen, die unsere politische Präsenz und die Instanzen demokratischer Vertretung stärken.

8. Die Verabschiedung der Konvention 169 der OIT (Internationale Arbeitsorganisation) in den Ländern vorantreiben, die noch nicht unterschrieben haben und ihrer Anwendung fordern.

II. Demokratie und Neoliberalismus

1. Die Demokratie, die wir mit dem Neoliberalismus erleben, ist begrenzt, ausschliessend und übertragen. Diese Art Demokratie steht im Gegensatz zu der Gemeinschaftsdemokratie, die wir in unseren Basisorganisationen haben, in denen es Beteiligung, volle Kontrolle der Führung durch die Basis, Solidarität, Umverteilung und Gemeinschaftssinn (comuitarismo) gibt.

2. Die vom Staat aufgedrückte Demokratie bricht die Normen des gemeinschaftlichen Lebens, fördert das Klientelwesen, den Paternalismus und die politische Manipulation. Dennoch nehmen wir Indígenas an den durch diese Demokratie geöffneten Spielräumen teil. Wir sind in verschiedene Instanzen gelangt wie die Gemeinderäte, das Parlament, regionale Kammern und sogar in das Vizepräsidentenamt im Fall Bolivien. In diesen Räumen versuchen wir, die Demokratie von unserer gemeinschaftlichen Erfahrung aus zu perfektionieren, ändern und verbessern – trotz der Grenzen und der Hindernisse, die wir vorfinden.

3. Wir sehen die Notwendigkeit einer neuen Demokratie, die sich an einem Zivilisationsmuster orientiert, das die Unterschiedlichkeit respektiert, die Beteiligung der Gesellschaft an den Entscheidungen von landesweiter Tragweite anregt, unsere Kulturen bestätigt; die eine gleichberechtigte Beziehung zwischen den Ethnien und Nationalitäten erlaubt, die Autoritarismus, Korruption, Bürokratismus und Rassismus verbannt.

4. Das neoliberale Projekt ist pervers: zu einem Teil konnte es einige makro-ökonomischen Variablen verbessern, aber auf der anderen Seite hat es das Elend der Mehrheit verschärft. Die neue Ideologie, die es fördert, der Individualismus, die Konkurrenz, der Pragmatismus, bricht mit unseren Werten, der Organisation bis hin zur Familie. Demgegenüber müssen wir ein neues politisches Projekt aufbauen, von den Comunidades (Gemeinden) aus. Wir müssen die Gesellschaft von ihren Grundsteinen her demokratisieren, inunseren Organisationen eine demokratische Kultur schaffen, die Zivilgesellschaft stärken, die Frage des Öffentlichen neu stellen, um von der Gesellschaft aus die öffentlichen Politiken zu bestimmen.

5. Das indianische politische Projekt ist tief humanistisch, tritt für die Beziehungen zwischen den Kulturen ein, legt Brücken zu der nicht-indigenen Bevölkerung, verstärkt die eigenen Identitäten, nimmt die Beiträge aller Völker wieder auf, schließt die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte ein, greift die Spiritualität der alten Völker auf, gibt der gemeinschaftlichen Ethik neuen Wert, um einen radikalen und gründlichen Wechsel in unseren Gesellschaften vorzuschlagen.

6. Wir rufen dazu auf, die Idee zur Veränderung, die der Neoliberalismus versucht, als sein Eigentum auszugeben, zurückzugewinnen und ihm zu entreissen. Wir rufen dazu auf, die Demokratie in der Familie, in der Beziehung der Geschlechter, in der Beziehung zwischen den Ethnien und in unseren Organisationen zu leben. Wir rufen dazu auf, die Demokratie in den gewonnenen Spielräumen aufzubauen, in den Gemeinden und lokalen Gewalten, im Parlament und in Verbänden. Wir rufen dazu auf, eine Macht zu schaffen, die unseren Völkern eine neue Stimme gibt, mächtige soziale Akteure hervorbringt, die Beziehungen zwischen den Kulturen, der Vielfalt der Nationalitäten konstruiert, unseren (gemeinsamen) Aktionen Vorrang gibt und nationale sowie internationale Netzwerke und Koalitionen gründet, um zusammen neue Entwicklungen in Gang zu setzen.

III. Beziehungen Staat und Indígena-Völker

1. Als ein Ergebnis des Kampfes der Indígena-Völker ist das Verhältnis Staat Indígena-Völker zu einer politischen Angelegenheit geworden, insofern es einen Streit um die Macht beinhaltet.

2. Dieser neue Charakter des Verhältnisses bringt die Notwendigkeit mit sich, ihn (den Streit) in der Demokratie auszutragen. Die Demokratie, wie wir sie jetzt kennen, garantiert die volle Beteiligung der Indígena-Völker nicht. Dennoch scheint es sinnvoll, die derzeit bestehenden Spielräume auszunutzen, um von ihnen aus eine neue Demokratie aufzubauen, die die Vielfalt ausdrückt.

3. Dieses Agieren in der Demokratie erfordert:

– Fähige Akteur*innen, die Vorschläge für einen Staat mit mehreren Nationalitäten und eine Gesellschaft mit mehreren Kulturen formulieren können.

– Die Fähigkeit, Bündnisse zu schmieden, Meinungsverschiedenheiten aufzuheben und die Einheit zu stärken.

4. Eine neue Beziehung zwischen dem Staat und den Indígena- Völkern wird nur auf folgender Grundlage möglich sein:

– Anerkennung des Rechtes auf Territorium der Indígena-Völker;

– Respekt vor der Ausübung der Ind'igena-Autorität unter Formen der Autonomie, Anerkennung der Zuständigkeiten und eigenen Rechtssysteme der Völker;

– Garantie für die Beteiligung an der nationalen Entwicklung und das Recht, die eigene Entwicklung in die Hand zu nehmen;

– Bekämpfung der Diskriminierung

IV. Erfahrungsaustausch über lokale, regionale und nationale Machtämter:

1. Systematischer Austausch und Stärkung der Erfahrungen besonders bei den politisch-administratischen Amtsformen auf lokaler und regionaler Ebene sind grundlegend.

2. Es muß ein ständiges Ausbildungsprogramm für die gewählten Autoritäten wie für die Ausbildung neuer Kader, die künftige Freiräume besetzen werden, geben.

3. Die Kommunikation zwischen den Organisationen und gewachsenen Strukturen der Bewegung durch die verschiedenen Medien wie Informationsblätter, Radio, direkte Besuche, muß gestärkt werden, um die Isolierung und Desinformation zu durchbrechen.

4. Der parlamentarische Teil muß durch neue Gesetzgebung die Institutionalisierung direkter Verträge und der Gemeindebeteiligung in den lokalen und nationalen Projekten integraler Entwicklung erreichen.

5. Die Prinzipien Nicht Lügen, Nicht Rauben, Nicht Untätig Sein (Wahlmotto von Pachakutic Nuevo Pa'is; die Red.) sollen erfüllt werden.

GUATEMALA

Frieden für 1996 versprochen

(Mexiko-Stadt, 7. August 1996, cerigua-POONAL).- Im Rahmen einer neuen Verhandlungsrunde gaben die Delegation der Regierung und die Generalkommandantur der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie die Verpflichtung eingehen, die Verhandlungen dieses Jahr abzuschliessen. In dem von den Vereinten Nationen verbreiteten Dokument drücken die beiden Seiten ihre Befriedigung über die bisher erzielten Ergebnisse aus. Hervorgehoben werden unter anderem die Suspendierung offensiver Aktionen gegen militärische Ziele und die Abschaffung der „Kriegssteuer“ durch die Guerilla wie das Ende von Aufstandsbekämpfungsaktionen durch die Regierung. So sei ein Klima der Entspannung geschaffen worden, das in der Geschichte des bewaffneten internen Krieges in Guatemala beispiellos sei. Regierung und URNG erneuern „ihre Versprechen, im Einklang mit dem Klima der Ruhe zu agieren, das die Schlussphase des Verhandlungsprozesses begleiten muß“. Sie fordern auch von der Bevölkerung im allgemeinen und den verschiedenen repräsentativen Gruppen, entsprechend der neuen Situation „teilzunehmen und zu handeln“. Die Bevölkerung müsse die Friedensperspektive zu der ihren machen, damit es breiter Konsens erreicht werde.

Streitkräfte auf die Straße

(Guatemala, 7. August 1996, cerigua-POONAL).- Der guatemaltekische Verteidigungsminister General Julio Balconi informierte darüber,daß 3.000 Soldaten die wichtigsten Straßen des Landes patroullieren werden, um die Kriminalität zu bekämpfen. Auch Zonen mit „hoher Gefährlichkeit“ in der Hauptstadt würden von der Maßnahme erfaßt. Die Oppositionsabgeordnete Nineth Montenegro vom Demokratischen Bündnis Neues Guatemala (FDNG) sprach daraufhin von einer Provokation, die zum Abbruch des Dialogs zwischen Regierung und URNG führen könne. Sie interpretiert die Entsendung der Militärs als eine Neuaufnahme der Aufstandsbekämpfung.

Generalamnestie nicht populär

(Guatemala-Stadt, 7. August 1996, cerigua-POONAL).- Fast 90 Prozent der Guatemaltek*innen sprechen sich für die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land aus. Dies ergab die Umfrage eines Privatinstitutes im Auftrag der Stiftung Myrna Mack. Für Helen Mack, die Vorsitzende der Stiftung mit dem Namen ihrer ermordeten Schwester, macht die Antwort der Befragten „deutlich,daß die Generalamnestien als Formel zur Versöhnung abgelehnt werden“. Denn in der Geschichtes Guatemalas habe dieses Mittel dazu gedient, die rechtliche Straffreiheit zu sichern. Die Bevölkerung rufe nach Gerechtigkeit. Umfragen über Themen wie die Gewalt seien nach wie vor schwierig wegen der Angst der Menschen, eine feste Meinung zu äussern und in der Folge Repressalien fürchten zu müssen.

Für 91 Prozent der Befragten ist es notwendig, die ganze Wahrheit über Verbrechen gegen die Humanität zu wissen. 73 Prozent sind gegen das Prinzip „vergessen und vergeben“, um die zukünftige Gesellschaft aufzubauen. Helen Mack, wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte, 1992 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, sieht in den Anworten die Bestätigung für „ein geeignetes Klima, ein Frieden mit Gerechtigkeit im Rahmen des Rechtsstaates zu suchen“. Nach der Umfragekommentierung von Mack äußerten sich auch der rechtsgerichtete Abgeordnete Pablo Duarte und Ronalth Ochäta, der Vorsitzende des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros zu dem Thema. Die Streitkräfte, die ebenfalls eingeladen waren, einen Vertreter zu schicken, blieben der Veranstaltung fern.

MEXIKO

Technisches Patt in Larráinzar

(Mexiko-Stadt, 13. August 1996, POONAL).- Alle neue Regeln haben wenig geholfen. Die Verhandlungen zwischen den Zapatisten und der mexikanischen Regierung in San Andrés Larráinzar ziehen sich nach wie vor ohne größere Fortschritte dahin. Das jüngste Beispiel ist das Auseinandergehen ohne Vereinbarungen bei den Gesprächen über Demokratie und Gerechtigkeit in San Andrés Larráinzar. Vorgesehen waren ursprünglich unterschriftsreife Abkommen, die die Zapatist*innen allerdings noch mit ihrer Basis diskutieren wollten. Jetzt wirft Marco Antonio Bernal von der Regierungsdelegation der EZLN vor, „für Alles oder Nichts gekommen zu sein und heraus kam Nichts“. Die Zapatist*innen bezichtigen im Gegenzug die Regierung der „Unfähigkeit, zu verhandeln“. Sie verfolge „die Strategie, den Dialog scheitern zu lassen“. Obwohl mit dem 4. September ein neuer Termin ausgemacht ist, wird inzwischen bei den Vermittlungsinstanzen der CONAI und der COCOPA davon ausgegangen,daß es wegen der „unversöhnlichen Positionen“ zu keiner Einigung mehr kommt. Wahrscheinlich wäre dann ein Übergang zum Verhandlungsthema 3 „über Entwicklung und Wohlstand“. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf,daß die Gespräche dazu einfacher sein könnten. Beobachter*innen kennzeichnen die Verhandlungssituation derzeit als „technisches Patt“.

KOLUMBIEN

Vorläufige Einigung im Koka-Streit

(Mexiko-Stadt, 12. August 1996, POONAL).- Die kolumbianische Regierung und Koka-Pflanzer*innen erzielten am Sonntag ein erstes Abkommen, das die seit drei Wochen anhaltenden Protesten der Campesinos im Süden des Landes gegen die gewaltsame Vernichtung ihrer Kokafelder beenden soll. Beide Seiten unterschrieben in dem Ort Orito, Provinz Putumayo, ein Dokument, in dem die Schaffung von 12 gemeinsamen Kommissionen angekündigt wird. Diese sollen einen regionalen Entwicklungsplan entwerfen. Der jeweiligen Gegenseite wurde zugestanden, gegen den Fortbestand, die Reproduktion und die Ausweitung des Wirtschaftszweiges zu sein, der aus dem illegalen Anbau der Kokapflanze resultiert. Regierung und Campesinos sprachen sich dafür aus, ein Klima der Entspannung, den Respekt vor den bürgerlichen Freiheiten und dem friedlichen Protest zu fördern. Beobachter*innen sehen die Wirksamkeit der Vereinbarungen jedoch skeptisch. Die Mittel, die die Regierung für die regionale Entwicklung zur Verfügung stellen will sind im Vergleich zu den erwarteten Gewinnen aus dem Koko-Anbau minimal.

CC BY-SA 4.0 Poonal Nr. 253 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert