von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt
(Berlin, 11. Juni 2008, npl).- Marcelo Ebrard wusste genau um den Effekt seiner Initiative. Ende Mai kündigte der oppositionelle Bürgermeister Mexico-Stadts von der linksmoderaten Partei der Demokratischen Revolution (PRD) eine Volksbefragung über die Zukunft des staatlichen Ölkonzerns Pemex und der mexikanischen Erdölindustrie an. Seitdem gibt es zum Teil wütende und zunehmend nervöse Reaktionen der konservativen Bundesregierung unter Präsident Felipe Calderón und der Regierungspartei der Nationalen Aktion (PAN).
Ebrard und die PRD strebten „Chaos und Gewalt“ an, so der PAN-Vorsitzende Germán Martínez. Der Vorstoß sei verfassungswidrig, heißt es aus dem Innenministerium. Und der von der Regierung eingesetzte Pemex-Direktor erklärt, das Thema sei zu kompliziert als dass die Bevölkerung darüber eine Meinung abgeben könne. Hintergrund des heftigen Echos: In der seit Monaten andauernden öffentlichen Debatte um eine weitere Öffnung der mexikanischen Erdölindustrie gegenüber dem vor allem internationalen Privatkapital gerät die Regierung derzeit zunehmend in die Defensive.
Im Frühjahr brachte Präsident Calderón eine im Stillen vorbereitete Energiereform im Parlament ein, die von seinen Gegnern als „verschleierte Privatisierung“ von Pemex und der nationalen Erdölvorkommen interpretiert wird. Der Präsident setzte offenbar darauf, die Reform ohne größere Verzögerung zusammen mit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), der zweiten großen Oppositionspartei, auf deren Stimmen er angewiesen ist, durchzuziehen. Mit einer wochenlangen Besetzung der Tribünen in Senat und Abgeordnetenhaus erreichte die PRD jedoch das Zugeständnis einer zweimonatigen öffentlichen Diskussion und Expertenanhörung im Parlament.
Diese begann Mitte Mai. Dabei gelang es dem Regierungslager bisher nicht, mehr Anhänger für ihre Privatisierungsreformen zu gewinnen. Im Gegenteil: Auch in der PRI mehren sich die Stimmen, auf Distanz zum Entwurf des Präsidenten zu gehen. Angesichts von Erdöleinnahmen, die derzeit mehr als das Doppelte der im Staatshaushalt dafür angesetzten Summe betragen, bekommt zudem das Argument der PRD-Opposition, der zweifellos marode Staatskonzern Pemex könne aus eigener Kraft saniert werden, verstärktes Gewicht. Auch für den Bau neuer Raffinerien und teure sowie technisch aufwändige Hochseebohrungen brauche man keine Kapazitäten der Privatwirtschaft, argumentieren die Gegner von Präsident Calderón. Die Bevölkerung interessiert sich wie von der PRD beabsichtigt in zunehmendem Maße für die Diskussion. Nach wie vor ist Umfragen nach für die Mehrheit der Mexikaner*innen die 1938 verstaatlichte Erdölindustrie ein Symbol nationaler Souveränität, das in seinen Grundfesten nicht angerührt werden darf.
Die Nervosität in der PAN forderte ein erstes politisches Opfer. Am Montag dieser Woche zwang die Parteiführung den Vorsitzenden ihrer Senatsfraktion zum Rücktritt. Unter anderem hieß es, dieser habe die PAN-Positionen zur Energiereform nicht ausreichend in der Öffentlichkeit darstellen können. Unterdessen geht die Vorbereitung der für den 27. Juli vorgesehenen Volksbefragung weiter. Die PRD will sie nicht nur auf ihre Hauptstadt-Bastion beschränken, sondern zumindest auf alle von ihr regierten Kommunen im ganzen Land ausdehnen. In einigen mexikanischen Bundesstaaten könnte sie dabei auch mit PRI-Regierungen zusammen arbeiten. Damit gewinnt der Vorschlag von Mexiko-Stadts Bürgermeister an Eigendynamik. Formalrechtlich ohne Bedeutung, könnte die Befragung am Ende mitentscheidend dafür sein, die Regierung zum zumindest vorübergehenden Rückzug bei ihren Privatisierungsbestrebungen zu zwingen.
Privatisierung von PEMEX – Regierung will nichts von Volksbefragung wissen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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