Kampf gegen Gentrifizierung in den Pueblos Mágicos

(Córdoba, 16. August 2023, agencia presentes/poonal).- Im mexikanischen Städtchen Córdoba, inmitten des Bundesstaates Veracruz, liegt El Patio de la Estrella. In dem Gebäude lebt eine Nachbarschaft von und für Afro*Personen, Frauen und Queere. Seit 2016 leisten sie Widerstand gegen Zwangsräumungen, und neuerdings auch gegen die Gentrifizierung und den zunehmenden Tourismus. Denn die Tourismusbehörde Mexikos hat Córdoba gerade erst zum Pueblo Mágico (Magisches Dorf) ernannt.

Die Bewohner*innen des Patio de la Estrella („Sternenhof“) halten dem Druck der Polizei und der Stadtverwaltung stand. Die Behörden versuchen mit Einschüchterungen, Anzeigen, Bestechungen und versuchten Zwangsräumungen, die Familien aus ihrem Nest zu vertreiben. Denn dort, wo der Patio de la Estrella ist, soll ein Einkaufszentrum entstehen.

„Wir wissen genau, dass sie mit ihrer Politik der Gentrifizierung diesen Ort hier zerstören werden. Das ist meine Heimat, mein Hafen, hier habe ich den Großteil meiner persönlichen, familiären und gemeinschaftlichen Identität aufgebaut“, erzählt Lx Santx, ein*e Bewohner*in des Patio und Aktivist*in für Afromexikaner*innen.

Aktuell wird der Patio de la Estrella auf verschiedenste Weise genutzt: Er ist Heimat für Familien, aber auch ein kulturelles Zentrum, ein selbstverwalteter Ort der Gesellschaft und Begegnung. Außerdem fungiert er als Zufluchtsort für Frauen und queere Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind und ein Dach über dem Kopf brauchen.

Der Sternenhof ist darüber hinaus der einzige Ort in Córdoba, der kostenlose kulturelle Angebote anbietet. Für Leute in prekären Verhältnissen ist er ein solidarischer Ort, wo sie ihre Produkte verkaufen können. Außerdem nutzt das Schwarze antirassistische und transfeministische Kollektiv Ko’olelm den Patio als Treffpunkt für Frauen und queere Personen.

Magie für Tourist*innen

Nun wurde die Stadt Córdoba, in deren Zentrum sich der Patio befindet, von der Tourismusbehörde Sectur gerade als „Pueblo Mágico“, also „Magisches Dorf“ ausgezeichnet, eine „exklusive und prestigereiche Marke“. Zu diesem Zweck nehmen die Regierungen der 32 mexikanischen Bundesstaaten jährlich an einer Art Wettbewerb teil. Sie schlagen Orte vor, die zu einem Pueblo Mágico werden sollen. Die Aufnahmerichtlinien zeigen die Intention der Initiative: „Entwicklungsziele erreichen und dass der Tourismus als wirtschaftlicher Zweig dazu beiträgt, mehr Wohlstand zu bringen“.

„Das Hauptproblem der Pueblos Mágicos ist der zunehmende Tourismus. Der Prozess ist ähnlich dem der Gentrifizierung, aber es gibt wesentliche Unterschiede, zum Beispiel, dass der Schwerpunkt auf einen Markt gelegt wird, eine Industrie. An sich besteht das Konzept der Magischen Dörfer darin, ganze Zonen den Tourist*innen zu widmen. Der Tourismus steht dann über allem, auch über dem Recht auf Wohnen“, erklärt Carla Escoffié im Interview. Die Anwältin hat sich auf das Recht auf Wohnen spezialisiert und ist Leiterin des Menschenrechtszentrums der Freien Fakultät für Recht in Monterrey.

Bislang hat Mexiko 177 Gemeinden als Magische Dörfer betitelt. 132 sind schon in der Liste der Sectur, 46 kamen im Juni dieses Jahres dazu, darunter auch Córdoba.

„Öffentlicher Raum wird zur Ware“

Carla Escoffié erläutert: „Die Politik der Pueblos Mágicos beinhaltet keine Analyse darüber, dass dadurch Wohnraum verschwindet und Orte gentrifiziert werden. Öffentlicher Raum wird stattdessen als Ware gesehen. Die Idee der Pueblos Mágicos ist ein Projekt zur Erschließung des Tourismus. Und das kann auch zu Zwangsräumungen, Vertreibung von Gemeinschaften und dem Auseinanderreißen von Vierteln führen.“

Darüber hinaus arbeitet die Tourismusbehörde daran, ähnliche Programme wie dieses zu schaffen. Erst im September 2022 veröffentlichte die Sectur ihre Pläne der „Barrios Mágicos“, der Magischen Viertel. Das Projekt fokussiert sich auf innerstädtische Orte „mit Charme, Tradition und Mythos“. Ein weiteres Programm wurde im Mai 2023 angekündigt: „Königreiche Mexikos“. Den Titel können Orte oder Stätten erhalten, deren Entwicklung von anderen Regionen der Welt inspiriert wurde. Es gibt bereits zwei mexikanische Orte mit diesem Label.

Zwangsräumungen und politischer Druck

Der Kampf des Patio de la Estrella begann jedoch nicht erst mit der Ernennung Córdobas als Magisches Dorf. Bereits 2016 behauptete die Stadtverwaltung von Córdoba, die Bewohner*innen des Sternenhofs müssten gehen, weil „Teile des Grundstücks verkauft worden“ seien. Frau Batista allerdings, die den juristischen Kampf um den Patio führt, ist anderer Meinung: Sie sagt, die Unterlagen, die die Stadtverwaltung bei einem Prozess präsentierte, hätten Unregelmäßigkeiten aufgewiesen.

Dennoch schickte der damalige Bürgermeister Tomás Ríos Bernal (PAN) am frühen Morgen drei Streifenwagen und mindestens 25 Polizist*innen zum Patio de la Estrella, um die dort lebenden 19 Familien auf die Straße zu setzen. Die Zwangsräumung verlief jedoch erfolglos. Es waren die Frauen, die sich widersetzten. Außerdem zeigte die Polizei den Bewohner*innen zu keinem Zeitpunkt einen Räumungsbeschluss.

Seit diesem Vorfall vor sieben Jahren hat die Stadtverwaltung an ihrer Politik des Mobbings gegen die im Patio de la Estrella lebenden Familien festgehalten. Es wurde versucht, die Familien mit umgerechnet 2.500 Euro zu bestechen und ihnen ein Haus im Speckgürtel Córdobas anzubieten, damit sie gehen. Aus Angst sind 16 der 19 Familien bereits ausgezogen. Die verbleibenden Familien leben nun im Widerstand gegen den institutionellen und polizeilichen Druck – und in der ständigen Unsicherheit, bald doch noch zwangsgeräumt zu werden.

Frau Batista, die Mutter von Lx Santx, trägt den rechtlichen Kampf auf ihren Schultern. Die Stadtverwaltung hat daher Anzeige gegen sie erstattet wegen „Enteignung“. Nach einem siebenjährigen Rechtsstreit befand sie ein Gericht für schuldig. Dadurch verlor sie auch ihre Arbeit.

Die Lokalzeitung El Buen Tono („Der Gute Ton“), die der Stadtregierung Córdobas nahesteht, nutzte darüber hinaus ihre Medienmacht und veröffentlichte persönliche Daten der Familien.

„In Mexiko ist das Recht auf Wohnen nicht garantiert“

Für die Anwältin Carla Escoffié wird Wohnraum von der Sectur als Ware angesehen, nicht wie eine Notwendigkeit und ein Recht. „Das Recht auf Wohnraum ist nicht mehr garantiert. Hierzulande gibt es keine Wohnungspolitik, sondern eine Immobilienpolitik“, klagt sie. Für Escoffié ist es hingegen ein Menschenrecht, ein Zuhause zu haben. Alle sollten sich gegen Zwangsräumungen wehren dürfen, die willkürlich, illegal und ungerechtfertigt seien. Und nicht zuletzt habe jede*r das Recht, beim Zugang zu einer Bleibe nicht diskriminiert zu werden.

Von all dem sind die Bewohner*innen des Sternenhofs weit entfernt. Der Stress durch das Mobbing der Stadtverwaltung hat sie krank gemacht. Escoffié betont zudem, die Versprechen von den „Vorteilen des Tourismus“ und der „Verbesserung“ bestimmter Stadtgebiete hätten eher mit einer „Aufwertung“ durch Enteignungen zu tun.

„Oft sind diese Verbesserungen mit einem Profiling von Personen verbunden. Es wird also entschieden, welche Personen akzeptiert werden, aber auch was sie tun dürfen. Und das betrifft gerade Fragen wie Sexarbeit, Angehörige der LGBTIQ*-Gemeinschaft, Personen anderer Ethnien, Migrant*innen. Sie gelten als Personen, die entfernt werden müssen, um einen Ort „aufzuwerten“. Oftmals beinhaltet eine solche „Verbesserung“ nicht nur eine Veränderung des öffentlichen Raums, sondern auch eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur.“

Vom Sklavereizentrum zum Nachbarschaftshof

Dabei ist der Patio de la Estrella ein historisches Erbe im Zentrum der Stadt Córdoba. Seine Anfänge nahm der Ort schon 1857 als Handelsplatz für Schwarze versklavte Personen. Im Laufe der Zeit diente der Gebäudekomplex vielen Zwecken – bis er zum heutigen Nachbarschaftstreff wurde.

Solche Nachbarschaftstreffs sind dabei insbesondere in Veracruz keine Seltenheit: Laut dem 2020er Zensus des INEGI gibt es 32.513 solcher Nachbarschaften allein in Veracruz, in denen insgesamt fast 84.000 Personen leben. Der Begriff “Nachbarschaft” meint dabei eine ganz bestimmte Art des Zusammenlebens. Er entstand historisch gesehen in Vierteln, wo Menschen in prekären Verhältnissen zusammen lebten.

“Seit dem 19. Jahrhundert schließen sich die ärmsten Gruppen der Bevölkerung in solchen Nachbarschaften zusammen. Diese Art des Zusammenlebens findet sich besonders in Stadtzentren. Nicht selten sind sie dort entstanden, wo einst prachtvolle Villen der Bourgeoisie waren, die dann heruntergekommen waren”, erklärt María Teresa Esquivel Hernández, Professorin und Forscherin für Urbanistik.

Vor allem aber sind es Orte, die es dank ihrer Bauweise ermöglicht haben, dass ein gemeinschaftliches Leben und ein solidarisches Netzwerk entstehen. So etwas findet man in einem Mietwohnblock oder sozialem Wohnungsbau eher nicht.

Lx Sanx warnt: “Dies ist der einzige offene Ort für Frauen und Andersdenkende in Córdoba. Es ist der einzige Treffpunkt für kulturellen Austausch mit antirassistischer und dekolonialer Perspektive der versucht, die Legenden der spanischen Kolonialist*innen zu widerlegen und zu begraben. All das haben wir im Kollektiv erschaffen.”

Übersetzung: Patricia Haensel

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