40 Jahre Landbesetzungen in Argentinien

(Buenos Aires, 24. September 2020, el salto).- Die organisierten Landbesetzungen von urbanen Gebieten und stadtnahen Regionen nahmen ihren Anfang während der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983). Die Landbesetzungen waren die Folge der systematischen Vertreibung der armen Bevölkerung aus den Elendsvierteln von Buenos Aires. Ziel war es, weitläufige Grundstücke in zentraler Lage als lukrative Immobilien anzubieten. Der Priester Raúl Berardo, der selbst die ersten Besetzungen unterstützte, erläutert den Prozess der Landübernahme genauer.

Die ersten Landübernahmen ereigneten sich zwischen September und November 1981 in Quilmes und Almirante Brown. Sie bildeten den Ursprung von sechs Stadtvierteln in Buenos Aires: La Paz, Santa Rosa de Lima, Santa Lucía, El Tala, San Martín y Monte de los Curas. An diesen Landübernahmen beteiligten sich 4.500 Familien und rund 20.000 Personen und besetzten ein Gebiet von insgesamt 211 Hektar. „Damals sprach man nicht von Landbesetzungen, sondern von Siedlungen, in Anlehnung an das jüdische Volk, das der Sklaverei des Pharaos entkommen war und das Rote Meer durchquert hatte, um sich anschließend in der Wüste „anzusiedeln“. Danach fand es Zuflucht im Gelobten Land“, erklärte Priester Berardo während eines langen Gesprächs in seinem Haus im Winter 2002.

Erste Besetzungen während der Diktatur

Diese Landbesetzungen waren groß angelegt, lange geplant und gut organisiert. Um Konflikte zu vermeiden und Repressionen zu mindern, fanden die Besetzungen meist nachts statt. Jede Familie siedelte sich auf einer Parzelle an, Wege wurden gezogen und Räume für gemeinschaftliche Projekte freigehalten.

1981 war das Militärregime geschwächt und der Staat agierte weniger repressiv als in den Jahren zuvor. So entstanden Möglichkeiten für kollektives Handeln.

Diese Aktionsform konnte sich nicht nur wegen der guten Vorbereitung durchsetzen, sondern auch durch den Zeitpunkt, an dem die Besetzungen stattfanden. Anfang der 1980er Jahre war die Militärdiktatur geschwächt und befand sich auf dem Rückzug. International wurde das Regime wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen scharf kritisiert. Gleichzeitig fand die Bewegung der Mütter auf der Plaza de Mayo innerhalb der Bevölkerung immer mehr Zuspruch, was das Regime zusätzlich herausforderte. So fand die staatliche Repression nicht mehr mit derselben Brutalität statt wie in den Jahren zuvor, wodurch sich der Raum für kollektives Handeln der Zivilbevölkerung vergrößerte.

Die Durchführung der Besetzungen wurde im Vorfeld unter den Familien geplant und diskutiert – sie sprachen vom „gelobten Land“. Ähnliches spielte sich zur selben Zeit in Brasilien ab, wo sich aus den ersten Landübernahmen später die Bewegung der Landlosen formierte, angeschoben von der kirchlichen „Pastoral de la tierra“. Berardo war selbst Teil dieser Bewegung, bis er schließlich in das Siedlungsgebiet in der Region Buenos Aires kam.

Hungerwinter 1981

Im Winter 1981 verschlechterten sich die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung dramatisch, doch das Militärregime regierte lediglich mit dem Verbot des Hungermarsches der Gemeinden von Quilmes. „Die ganze Stadt war vom Hunger heimgesucht“, beschrieb Bischof Novak die Situation eindrücklich in dem Buch über die Landbesetzungen im Süden der Region Buenos Aires von Inés Izaguirre und Zulema Aristizábal („Las tomas de tierras en el sur del Gran Buenos Aires“).

Schikaniert durch die Polizei, von Krankheit und Elend heimgesucht, wuchsen die verarmten Gemeinde zu einer Art „Schicksalsgemeinschaft“ zusammen. Dieser Zusammenhalt war besonders wichtig in einer Zeit, in der es keinerlei Mitspracherecht für benachteiligte Bevölkerungsteile oder oppositionelle Parteien gab, die während der Diktatur verfolgt wurden.

Die zuvor vertriebenen und nun neu angesiedelten Familien wurde insgesamt sechs Monate von Militär und Polizei belagert. Sie mussten in Zelten ausharren und durften weder Lebensmittel noch Wasser transportieren. Doch durch die Niederlage Argentiniens im Falklandkrieg im Jahr 1982 verlor das Militär an politischer Autorität, sodass die Belagerung letztendlich aufgehoben wurde. Am 2. April erhielt die Zeltsiedlung im Rahmen einer Versammlung von 500 Familien einen offiziellen Namen und wurde zu einem dauerhaften Stadtviertel.

In weniger als einem Jahrzehnt, bis zum Jahr 1990, entstanden in dem Großraum insgesamt 109 Siedlungen, in denen etwa 173.000 Menschen lebten, 71 Prozent davon im Süden der Region Buenos Aires.

Diese erste Siedlungsbewegung tausender Menschen während der argentinischen Militärdiktatur inspirierte die armen gesellschaftlichen Schichten, sodass diese massenhafte Aktionsform rasch weiteren Zulauf fand. Neue Siedlungen begannen sich explosiv auszubreiten. Soziale Akteur*innen der Organisation La Matanza konsultierte die Siedler*innen des Stadtteils Quilmes, um nach ihrem Vorbild weiterer Siedlungsprojekte umzusetzen.

Parallelen zur gegenwärtigen Situation

Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung lassen sich drei zentrale Schlüsse ziehen, die auch Parallelen zu der gegenwärtigen Situation bilden:

1. Während der Diktatur wurden die Bewohner*innen der Elendsviertel von Buenos Aires gewaltsam vertrieben und gezwungen, in die Vorstädte zu fliehen. Indem die Gemeinden zerstreut und ihre Überlebensnetzwerke systematisch zerschlagen wurden, sollte die strategische Kontrolle über die verarmten Bevölkerungsschichten erleichtert werden. Damit wollten die dominierenden Gruppen ein für sie ungünstiges Kräfteverhältnis umkehren, das sich bereits in den sozialen Kämpfen ab dem 17. Oktober 1945 gezeigt hatte.

Der Staat zeigt zwei Gesichter

Heutzutage sorgen der Markt und der Staat für dieses Zusammenspiel von Vertreibung und Kontrolle. Der freie Markt erlaubt steigende Grundstückspreise, die Monopolisierung von Land für privaten Wohnraum und die Spekulation mit Immobilien. Gleichzeitig zeigt der Staat zwei unterschiedliche Gesichter: Auf der einen Seite unterdrückt, bedroht und beutet er die armen Bevölkerungsschichten aus. Auf der anderen Seite bietet der Staat Sozialhilfen an, welche die Bedürftigen jedoch in eine staatliche Abhängigkeit zwingen, die sie gleichzeitig daran hindert, sich zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Verglichen mit der Militärdiktatur unter Jorge Videla zeugt die Demokratie Argentiniens von wesentlich mehr staatlicher Effizienz. Allerdings zeigt sie dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber den Rechten der armen Bevölkerung.

2. Im Fall von Quilmes haben die Gemeinden seit 1976 Wege gefunden, sich gemeinsam zu organisieren. So ist die kirchlichen Gemeinschaft CEB (comunidad eclesial de base) entstanden. Die erste dieser kirchlichen Gemeinschaften wurde von dem Priester Berardo und der Kirchengemeinde von San Juan Bautista in San Francisco Solano im Oktober 1976 gegründet. Innerhalb eines Jahres entstanden 20 weitere Gemeinschaften und 1980 existierten bereits 60. Zwar bestanden die Gruppen nur aus zehn bis 30 Mitgliedern, dennoch waren sie ein wichtiges Instrument zur zivilgesellschaftlichen Organisation. So wählten die Gemeinschaften einen Vorsitzenden und hielten wöchentliche Versammlungen ab.

Die sozialen Organisationen, die heute existieren, sind wesentlich weniger demokratisch organisiert als die damaligen Gemeinschaften der CEB. Heute stehen vor allem die territorialen Forderungen im Vordergrund, weniger der soziale Zusammenhalt oder Werte wie Vertrauen und Loyalität.

3. Dennoch sind die Bedürfnisse der Bevölkerung grundsätzlich die gleichen geblieben wie im Jahr 1980. Einem Bericht des Nationalen Registers der Armenviertel zufolge existieren insgesamt 4.416 „barrios populares“ – Stadtviertel, deren Entstehen auf die Vertreibung der armen Bevölkerung aus dem Stadtzentrum zurückzuführen ist. Insgesamt vier Millionen Menschen leben in den dadurch entstandenen Siedlungsgebieten. Basierend auf der Volkszählung vom Dezember 2016 machen die Bewohner*innen der „barrios populares“ fast zehn Prozent der argentinischen Bevölkerung aus. Die Hälfte dieser ehemaligen Siedlungsgebiete befinden sich in der Region Buenos Aires, welche bis heute das Epizentrum der Landübernahmen ist. Dennoch ereignen sich Landbesetzungen in ganz Argentinien.

Was sich seit den 1980er Jahren verändert hat, auch wenn wir es nicht gerne wahrhaben möchten, ist die politische Kultur und das Zusammenleben der ärmeren Bevölkerungsschichten. In vier Jahrzehnten durchlebten die Menschen in Argentinien eine Militärdiktatur, den Übergang zur Demokratie, peronistische, progressive, radikale und rechte Regierungen.

Aktuelles Beispiel einer Landnahme: Das Viertel Guernica

Die vertriebenen Gemeinden leben noch heute in den von ihnen gründeten Siedlungen, diese sind jedoch immer weiter vom Stadtzentrum entfernt. Ein aktuelles Beispiel ist das Viertel Guernica im Süden der Region Buenos Aires. Seit Juli dieses Jahres haben sich dort etwa 2.500 Familien niedergelassen und leben unter prekären Bedingungen. Den Familien fehlt das Geld, um die Miete in der Stadt zu bezahlen. Gleichzeitig versucht die Bezirksverwaltung, das Gebiet zu räumen; zudem verüben private Gruppen immer häufiger gewalttätige Übergriffe auf die Landnehmer*innen. Die Bevölkerung wächst und die Gemeinden vergrößerten sich, sodass sich die Siedlungsgebiete immer weiter außerhalb der Stadt verlagern.

Gleichzeitig werden zunehmend neue Sozialpläne entwickelt, von denen mehr und mehr Menschen profitieren sollen. Dennoch steigen die strukturelle Armut und die Ausbeutung der Bevölkerung durch das neoliberale Wirtschaftssystem. Vor diesem Hintergrund kann es keine Lösung geben.

Die Mittelklasse und Oberschicht sowie der rechte Flügel und seine Anhänger*innen agieren dagegen zunehmend reaktionärer, feindlicher und skrupelloser, wenn es darum geht, ihren Reichtum zu verteidigen und die soziale Ungleichheit aufrechtzuerhalten, von der sie selbst profitieren.

Das sind düstere Aussichten. Dennoch muss man die Realität wahrhaben, um zu erkennen, wie man etwas verändern kann – und mit wem.

CC BY-SA 4.0 40 Jahre Landbesetzungen in Argentinien von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert