Von Steffi Wassermann
(Berlin, 12. September 2017, npl).- Seit mehreren Jahren wird das Konzept des Buen Vivir auch in Deutschland vermehrt diskutiert. Der Ansatz verspricht ein Leben im Einklang mit der Natur, ein Leben, das den Wachstumszwang überwunden hat. Aber nicht nur das. In Ecuador und Bolivien wurde Buen Vivir und die damit verbundenen Forderungen von Rechten der Natur sogar in die Verfassung aufgenommen. Ursprünglich entstanden ist die Idee in den indigenen Gemeinden der Anden. Die Übertragung des Konzepts auf westlichen Kontexte ist nicht widerspruchsfrei und wird von indigenen Aktivist*innen in ihrer jetzigen Form kritisiert.
Yasuní und das Scheitern der ITT-Initiative
In den 2000er Jahren erregten Ecuador und Bolivien Aufmerksamkeit: beide Länder nahmen das Buen Vivir – auf Deutsch nur unzureichend mit „Gutes Leben“ übersetzt – in ihre Verfassungen auf. Das vielleicht bekannteste Projekt, den Ansatz in die Praxis umzusetzen, war die Yasuní-ITT-Initiative. Ecuadors damaliger Präsident Rafael Correa schlug 2007 im Rahmen der UN-Vollversammlung vor, das Öl in einem ausgewählten Bereich des Yasuní-Nationalparks nicht zu fördern, wenn im Gegenzug die internationale Staatengemeinschaft einen Teil der Gewinnausfälle kompensieren würde. Der Wert der Natur sollte mehr wiegen als die kurzsichtige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Da in den aufgelegten Fonds nicht genug Geld eingezahlt wurde, wurde die Initiative 2013 schließlich aufgekündigt und das Gebiet, das sich durch eine enorme Artenvielfalt auszeichnet, zur Erdölförderung freigegeben.
Trotzdem: Der Yasuní soll erhalten bleiben
Das jahrelange Werben um das Yasuní-Projekt und das Buen Vivir haben ihre Spuren hinterlassen. Für viele Menschen steht auch nach dem Scheitern der Initiative fest, dass der Nationalpark erhalten werden muss. Aus dem Protest gegen die drohende Zerstörung entstanden die YASunidos, ein Bündnis, welches vor allem von jungen Menschen getragen wird, „weil sie inzwischen ein anderes Verständnis von Entwicklung und Modernisierung haben, als die älteren Generationen“, erklärt Josephine Koch, Koordinatorin der YASunidos Deutschland. Das Bündnis stelle sich nicht nur der Aufgabe, für den Erhalt des Yasuní zu kämpfen, sondern wolle neue Formen des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur entwickeln, ergänzt Marco Paladines, ebenfalls Mitglied bei den YASunidos Deutschland. Es geht also darum, die Idee des Buen Vivir mit Leben zu füllen.
Buen Vivir: ein schwer zu fassendes Konzept
Doch was genau ist das Buen Vivir? So leicht der Begriff von der Zunge geht, so schwer ist er tatsächlich in seiner Tiefe zu begreifen. Für Alberto Acosta, Wirtschaftswissenschaftler, ehemaliger Bergbauminister unter Rafael Correa und einer der prominentesten Vertreter des Konzepts, lässt sich Buen Vivir weder in die Moderne einordnen, noch kann es im Sinne einer westlichen Entwicklungslogik begriffen werden. „Vielmehr stellt es eine Alternative zur Entwicklung dar.“ Der achtsame Umgang mit der Natur sei ein weiteres wichtiges Merkmal. Oft werde in der westlichen Entwicklungslogik übersehen, dass auch der Mensch nur als Teil der Natur zu begreifen sei.
Das indigene Südamerika: der Ursprung der Idee
Das Buen Vivir hat es in den letzten Jahren international zu einiger Bekanntheit gebracht. Nicht nur politisch und akademisch wird darüber debattiert, die Idee hat auch Eingang in hiesige Debatten um Postwachstum bzw. Degrowth gefunden.
Doch eigentlich liegt die Wiege des Buen Vivir in den Traditionen der indigenen Gemeinden der Anden. Bis heute wird es dort in alltäglichen Praktiken gelebt. Miteinander Dinge teilen und sich gegenseitig unterstützen, seien Ausdruck des Buen Vivir, erklärt Antonia Ramos, politische Aktivistin und Aymara-Indígena aus Bolivien: „Die Felder werden bei uns gemeinschaftlich bestellt. Hat eine mehr Ernteertrag, gibt sie den anderen, hat einer weniger, bekommt er etwas. Dafür brauchen wir kein Geld. Das ist das Suma Kamanya, wie Buen Vivir auf Aymara heißt.“
Ideal trifft politischen Opportunismus
Auf politischer Ebene scheint das Buen Vivir jedoch zumindest vorerst gescheitert. Ecuadors Regierung setzt vermehrt auf wirtschaftlichen Fortschritt durch den Ausbau extraktiver Industrien und scheut sich nicht davor, diese Praktiken mit einem angeblichen Buen Vivir zu legitimieren. Dann heißt es „Minería para el Buen Vivir“ (Bergbau für das Buen Vivir) oder die geplante Erdölförderung im Yasuní wird mit „Öl für das Buen Vivir“ beworben. „Das ist ein offensichtlicher Widerspruch“, bemerkt Alberto Acosta, „der zeigt, dass die ecuadorianische Regierung das Buen Vivir heute lediglich als Propagandamittel benutzt.“ Denn die Zerstörung der Natur im Namen von wirtschaftlichen Interessen stehe der Grundidee des Buen Vivir diametral entgegen.
Die jungen Aktivist*innen der YASunidos lassen sich von dieser ernüchternden Entwicklung in Ecuador nicht demotivieren. Sie setzen auf die Transformation der Gesellschaft, in Ecuador und weltweit, auf eine Gesellschaft, die weder auf permanentes Wachstum noch auf Extraktivismus setzte. Denn letztendlich lasse sich das Buen Vivir nur verwirklichen, wenn der Globale Norden die Nachfrage nach immer neuen Rohstoffen senke, welche eine der wesentlichen Triebfedern für die weltweit fortschreitende Naturzerstörung darstelle.
Tendenzen einer neokolonialen Aneignung
Die Popularisierung des Buen Vivir, die ihren Ausdruck in den YASunidos, vielen Postwachstums- und Degrowth-Initiativen und vor allem in einer beachtlichen Anzahl von Publikationen findet, ist Segen und Fluch zugleich. Die Aymara-Aktivistin Antonia Ramos kritisiert die drohende kulturelle Aneignung: „Sie befragen uns, machen Fotos von uns. Danach verkaufen sie Bücher und werden reich. Sie leben von unserer Geschichte und bringen uns zum Verstummen.“ Die Indigenen, die ihr Wissen weitergäben, hätten nichts davon. Ganz im Gegenteil – aktuell würden sich die ausbeuterischen Strukturen, die sich zu Zeiten des Kolonialismus etablierten, auch in der Rezeption der Idee reproduzieren.
Zusammengefasst kann also gesagt werden: so interessant und lehrreich das Buen Vivir auch für den Kontext des Globalen Nordens sein kann, so wichtig ist der kultursensible Umgang damit. Dann kann es auch die von den YASunidos hier und in Ecuador angestrebte „selbstbewusste und postkoloniale Annäherung“ werden, welche dazu dient, bestehende globale asymmetrische Strukturen aufzubrechen.
Den Radiobeitrag zum Thema könnt ihr hier anhören.
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