Die Erde produziert nicht bloß Waren

Bio-Siegel
Fair und schadstofffrei erzeugtes Gemüse.
Foto: Fabian Werfel

 

 

„In ein kleines Samenkorn passt das ganze Grün,

passt der Klee,

passt der Baum,

passt der ganze Wald“

Jorge Luján

 

 

 

 

 

(Mexiko-Stadt, 27. November 2023, npla).- In Xochimilco im Süden von Mexiko-Stadt höre ich Álans Vortrag bei der Eröffnung eines Treffens zum Thema freies Saatgut. Seit einiger Zeit forsche ich nach, höre mich um, denn ich möchte verstehen, was es mit der sogenannten Agroecología auf sich hat. Álan erzählt: „Wir produzieren im Kollektiv seit 2018 in fünf Gemüsegärten eigenes freies Saatgut. Wir wollen ein Bewusstsein schaffen für Lebensmittel und Ernährung und treten ein für Ernährungs-Souveränität, denn sie ist unser aller gutes Recht.“ Zuletzt sprach ich mit Claudia, die hier in der Nähe selbst Gemüse anbaut und sich seit über zehn Jahren mit Herzblut für Ernährungssouveränität und solidarischen Handel einsetzt. Sie hat dieses Zusammentreffen organisiert und mich eingeladen. Claudia wiederum kenne ich als Geschäftspartnerin von Gaby und María, die Raíz Amoli betreiben, einen kleinen Lebensmittelladen, bei dem ich schon lange gern einkaufe.

Gemeinsam lernen

Die Lebensmittel von Raíz Amoli schmecken wirklich ganz außerordentlich lecker. Doch Gaby und María bieten außerdem noch diverse Workshops an, denn Bewusstseinsbildung gehört zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben, sagen sie. Dazu Gaby: „Wir wollen eine Plattform sein für all die tollen mexikanischen Projekte, von denen wir wissen, dass sie eine super Qualität liefern, ehrlich sind und sauber produzieren – und die es trotzdem im Handel immer noch schwer haben. Außerdem haben wir eine Bücherecke, führen Workshops durch und wollen einen lebendigen Ort schaffen zum Lernen, sich Kennenlernen und Austauschen.“ María erzählt mir, wie ihr eigenes Interesse für ökologisch produzierte Lebensmittel geweckt wurde: „Mich hat es damals ganz schön kalt erwischt. Ich habe lange Zeit in der Lebensmittelindustrie gearbeitet – vier Jahre bei Uni Lever, acht Jahre bei Kraft – und hätte für all das meine Hand ins Feuer gelegt. Als ich Gaby kennengelernt habe, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Sie hatte damals schon ein bisschen mehr Durchblick, und wir haben angefangen, uns viel und intensiv auszutauschen.“ Die Motivation, sich selbst zu organisieren, entsteht also einerseits als Reaktion auf eine große Enttäuschung über die bestehenden Verhältnisse und Institutionen – und ist andererseits inspiriert durch vereinzelte Alternativen und eine gemeinsame Vision.

Supermarkt

„Die heutige industrielle Nahrungsmittelproduktion und die damit verbundenen Gütesiegel und Zertifizierungen sind leider völlig korrupt“, empört sich María. „Es dreht sich alles nur ums Geschäft, und keineswegs – wie ich lange Zeit wirklich glaubte – um gesunde Ernährung. Verkaufen ist das einzige, was zählt. Es spielt nicht mal eine Rolle, ob wir davon krank werden. Als ich das alles realisiert hatte, war die Zeit reif, und so ist uns die Idee gekommen, einen eigenen Lebensmittelladen zu eröffnen.“ Also beginnen Gaby und María ihr gemeinsames Abenteuer. Sie forschen nach und kommen ins Gespräch. Durch direkte persönliche Kontakte und Freundschaften mit Produzent*innen, Lieferant*innen und Kund*innen stellen sie sicher, dass in ihren Wertschöpfungskreisläufen lebendige, gesunde Böden kultiviert und weder Mensch noch Umwelt ausgebeutet werden. Sie bauen solidarische und verlässliche Beziehungen auf. „Wir halten engen Kontakt mit dem Kollektiv Lum K’inal. Sie produzieren und liefern uns Salat, Früchte, Gemüse und Fleisch“, sagt María, und Gaby ergänzt: „Lum K’inal ist unser wichtigster Partner. Von ihnen haben wir viel gelernt, z.B. dass Agroecología noch weit über organische Produktion hinausgeht.“

Agroecología

Was sich in Deutschland und Europa „bio“ oder „ökologisch“ nennt, heißt in Mexiko und USA „organisch“. Aber was ist denn nun Agroecología? Ich habe Erandy gefragt, sie studiert ökologische Landwirtschaft in Mexiko-Stadt und erklärt mir: „Agroecología ist eine soziale Bewegung, die darauf abzielt, Erde, Bauern und Bäuerinnen gut zu behandeln und zu schützen. Organisch bedeutet hauptsächlich, dass keine Pestizide erlaubt sind, und das Zertifikat zu bekommen kann ganz schön teuer werden. In der Agroecología hingegen dreht sich alles um die Symbiose zwischen den Bauern und der Erde und um die Versorgung mit gesunden Lebensmitteln.“ In Lateinamerika bezeichnet Agroecología eine ganzheitliche Praxis und Bewegung, in Deutschland vergleichbar mit regenerativer Landwirtschaft, SoLaWi oder Permakultur. Aber reicht denn eine als organisch bzw. bio zertifizierte Produktion nicht aus?

Siegel und Zertifikate

Gaby erklärt mir den Unterschied: „Organisch zu produzieren heißt nicht, auf Pestizide zu verzichten. Einige sind als organisch zugelassen.“ Das trifft auch auf Europa und Deutschland zu. Pflanzliche Bio-Lebensmittel beispielsweise haben hauptsächlich folgende Kriterien zu erfüllen: keine Gentechnik
, kein Kunstdünger
, keine synthetischen Pestizide. 
Das bedeutet, dass gewisse Pestizide weiterhin zugelassen sind, ob in Mexiko oder Deutschland. Doch Agrargifte sind nicht automatisch weniger schädlich, bloß weil sie nicht chemisch-synthetischen Ursprungs sind. Außerdem bleiben auch mit Bio-Siegel riesige Monokulturen weiterhin möglich. Was gibt es also für Alternativen? Dazu Erandy: „Es geht schlicht um Liebe und Verantwortung für die Erde. Monokulturen und Pestizide machen sie nur trocken und unfruchtbar. Besser, wir fragen uns: Welche Nährstoffe und Pflege kann ich der Erde geben, damit sie im Gegenzug mich mit gesunden und nahrhaften Lebensmitteln versorgen kann? Und wie kann ich mich dankbar zeigen dafür, dass ich meine eigene Nahrung anbauen kann?“

Ganzheitliche Bewegungen

Bio-Siegel
Lum K’inal Stand
Foto: Fabian Werfel

Auch deutsche Anbauverbände sagen, dass Bio-Siegel nicht ausreichen. Sie haben teils eigene Siegel mit höheren Anforderungen. Darüber hinaus gibt es auch in Deutschland ganzheitliche Bewegungen und Strukturen, so z.B. die solidarische Landwirtschaft, kurz SoLaWi: Gemüsekisten in Abonnements gewährleisten Planungssicherheit für die Höfe, was langfristige Bewirtschaftung erleichtert. Betrieb und Vertrieb sind in Form von Kooperativen organisiert, und durch Beteiligung der Abnehmer*innen an der Feldarbeit entstehen Austausch, direkte Beziehungen und eigene Erfahrungen. „Auch ohne Siegel geht die Agroecología viel tiefer, denn es wird wirklich nachhaltig mit Mischkulturen gearbeitet und auch auf gerechte Entlohnung geachtet“, erklärt Gaby. „Arbeit in der organischen Produktion ist oft schlecht bezahlt. Lieber organisieren wir uns selbst und sorgen von unten ganzheitlich für unser aller Gesundheit: körperlich, emotional, wirtschaftlich. Meiner Ansicht nach hat Nachhaltigkeit nichts mit Siegeln zu tun. Bei Siegeln geht es in erster Linie ums Geschäft.“

Ernährungssouveränität

Eine wichtige Partnerschaft verbindet Raíz Amoli mit Lum K’inal. Gaby und María setzen mich mit Claudia in Verbindung, die mir von ihrer Arbeit berichtet: „Ich bin Claudia Medina Castillo. Ich lebe in Xochimilco, hier bin ich geboren und aufgewachsen. Seit mittlerweile ungefähr zwölf Jahren gibt es Lum K’inal. Wir arbeiten mit traditionellen Mitteln wie Mischkulturen, pflegen und restaurieren so unsere Ökosysteme und produzieren im Sinne der Agroecología.“ Obwohl Claudia eine traditionelle Form nachhaltiger Agroforstwirtschaft betreibt, wäre es für sie nicht sinnvoll oder gar möglich, ein Bio-Siegel zu erhalten: „Die organische Landwirtschaft ist als eine einzige standardisierte Form der Produktion im Gesetz definiert. Im Gegensatz dazu ist die Agroecología divers – ihre ganz vielfältigen Ausprägungen streben im Kontext ihrer jeweiligen Klimazonen, Kulturen und Spiritualitäten auf ebenso vielfältige Arten nach Ernährungs-Souveränität.“ Zertifizierungen werden notwendig, denn im Supermarkt geht es um Masse und Standardisierung. Siegel sind ein Ersatz für das Vertrauen, dass in der Anonymität von Massenware nicht mehr möglich ist. Sie bleiben isolierte Versuche, einem tieferliegenden systemischen Problem nachzukommen. „Die Erde produziert nicht bloß Waren“, gibt Claudia zu bedenken. „Während die organische Landwirtschaft Güter erzeugt, dient die Agroecología der Ernährung.“

Es geht um Lebens-Mittel

Während dieser spannenden Recherche habe ich wertvolle Einblicke erhalten. Dafür danke ich von Herzen allen, die mit mir gesprochen und ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben. Es ist faszinierend, sich vor Augen zu halten, was alles hinter unserer Ernährung steckt. Die vielen tollen Gespräche haben mich empfindlicher gemacht für so alltägliche Dinge wie Nahrungsmittel. Es gibt noch viel zu entdecken, am besten einfach anfangen, sage ich mir, in kleinen Schritten, jetzt gleich. Mit dem Bewusstsein für die Hintergründe wächst in mir auch die Wertschätzung für meine Lebensmittel. Einige meiner neuen Fragen möchte ich abschließend stellen: Was unterscheidet den Supermarkt vom Markt, und was ist dann ein Biomarkt? Was weiß ich über Herkunft, Lieferketten und Wertschöpfungskreisläufe meiner Lebensmittel? Welche Lebensmittel wachsen in meiner Nähe und zu welchen Jahreszeiten? Wie sprechen Etiketten und Verpackungen von Nahrungsmitteln zu mir? Werden meine Kaufentscheidungen beeinflusst von Personal, Preis, Geschmack, Bequemlichkeit, Geschwindigkeit, Inhaltsstoffen, Farbe, Form, Größe, Beschreibung, Empfehlung, Gewohnheit? Álan hat meine Überlegungen auf den Punkt gebracht: „Die Zeit ist reif für deinen eigenen Gemüsegarten!“

Einen Audiobeitrag in deutscher Sprache findest du hier.

Hier geht`s zum spanischsprachigen Audiobeitrag bei Radio Matraca.

Und hier könnt ihr Raíz Amoli und Lum K’inal aus dem Beitrag folgen.

 

CC BY-SA 4.0 Die Erde produziert nicht bloß Waren von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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