(Barcelona, 13. Mai 2022, alai).- Am 29. Mai findet in Kolumbien die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Die erste Runde am 13. März endete mit einem weitreichenden Sieg für das Linksbündnis Pacto Histórico (Historischer Pakt) sowohl im Senat als auch im Abgeordnetenhaus. Zum ersten Mal gab es eine Verschiebung der Machtverhältnisse zu Gunsten eines Linksbündnisses und fortschrittlicher Kräfte – zum Nachteil der alten politischen Strukturen und der traditionellen Eliten.
Der Paramilitarismus, der untrennbar mit dem Drogenhandel verbunden ist und von Kreisen kontrolliert wird, die der politischen und militärischen Macht nahestehen, ist nun als Instrument zur Einschüchterung aufgetaucht, das den weiteren Verlauf des Wahlkampfes bestimmt.
Gewalt nimmt zu
Seit den ersten Monaten des Wahlkampfes wurde in vielen Gegenden Kolumbiens ein Anstieg der Gewalt registriert, insbesondere im nordöstlichen Departamento Arauca, wo durch Angriffe der Abspaltungen der FARC-Guerilla, den sogenannten disidencias, und der narco-paramiltaristischen Organisation AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia), auch Golf-Clan genannt, mehrere Morde und Massaker an der Zivilbevölkerung verübt wurden. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 starben in Arauca über 100 Menschen eines gewaltsamen Todes. Dazu kommt die erzwungene Ausgangssperre, der paro armado, seitens der ELN-Guerilla, die von Kandidat*innen des Pacto Histórico als Wahlkampfgeschenk an den noch regierenden Uribismus (die autoritäre und rechtskonservative Politik des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, Anm. d. Ü.) und dessen Strategie der Militarisierung der politischen Auseinandersetzung interpretiert wurde.
Auch im Südwesten des Landes hat die Gewalt weiter zugenommen, hier vor allem im Departamento Cauca, wo in den ersten zwei Monaten dieses Jahres 14 Morde an indigenen Führungspersonen zu beklagen waren. In diesem Fall sind es die paramilitärischen Águilas Negras, die soziale Aktivist*innen und politische Köpfe des Pacto Histórico bedrohen. In ganz Kolumbien wurden in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 insgesamt 31 Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen ermordet, alle zwei Tage eine/r.
Die Wahlbeobachtungsmission MOE (Misión de Observación Electoral), ein Bündnis sozialer Organisationen zur Förderung der Ausübung der sozialen und politischen Rechte der Bürger*innen, hat im Januar ihren Bericht vorgelegt. Laut diesem Bericht existiert in 131 Gemeinden in fast allen Landesteilen das Risiko eines Wahlbetruges oder der Gewaltausübung, das ist praktisch jede zehnte Gemeinde.
Die Rückkehr paramilitärischer Gewalt
Der Wahlkampf der Kandidat*innen der verschiedenen Lager fand mit einem enormen Gefälle des Zugangs zur Medienöffentlichkeit statt: Auf der einen Seite die rechten und Mitte-Rechts-Parteien, die auf die entschiedene Unterstützung der wichtigsten Medien bauen konnten; auf der anderen Seite die Köpfe der linken Parteien und fortschrittlichen Bewegungen, die zwar auf ihren landesweiten Wahlkampfveranstaltungen die Massen zu ihren Kundgebungen mobilisieren konnten, denen es aber an Echo in den Medien mangelte und die fast ausschließlich über die sozialen Medien zu Wort kamen.
Angesichts des offensichtlichen Aufstiegs der Linken in allen Umfragen sind die narco-paramilitärischen Gruppen dazu übergegangen, Aktivist*innen einzuschüchtern, die die Linke unterstützen und die Wahlkampfveranstaltungen des Pacto Histórico zu sabotieren. Man kann sagen, sie agieren als extremstes Mittel der herrschenden Klasse, nachdem ihre Erwartungen, auf demokratischen Wegen an der Macht zu bleiben, in sich zusammengefallen sind. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Ende 2021 schickte der Golf-Clan Morddrohungen an den Gouverneur des Departamentos Magdalena, den unabhängigen Linken Carlos Caicedo. Dieser musste vorübergehend ins Exil gehen, bis die Regierung ihn mit den notwendigen Schutzmechanismen ausstattete. Zu Beginn des Wahlkampfes im Januar 2022 bedrohte die paramilitärische Organisation Águilas Negras mehrere Anführer*innen des Pacto Histórico mit dem Tod, darunter Gustavo Petro und Iván Cépeda, sowie mehrere Mitglieder der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden und weitere mit vollem Namen. In einem Pamphlet erklären die Águilas Negras:
„Zu unseren Missionen gehört es zu verhindern, dass die Narcoterroristen und Guerilleros die Macht übernehmen, sowie Kolumbien gegen die Bedrohung durch den progressiven Kommunismus zu verteidigen (…) wir werden euch überall im Land finden (…) wir werden euch finden, foltern, lebendig vierteilen und verschwindenlassen, damit ihr als Beispiel dient für das, was wir mit Verrätern, Kollaborateuren und Komplizen der FARC machen, die wir auch vernichten werden.“
„Wir werden euch überall finden“
Weiterhin heißt es in dem Kommuniqué: „Wir werden nicht zulassen, dass (…) die Diktatur des progressiven kommunistischen Narcoterrorismus an die Macht kommt oder dass Kolumbien zu einem zweiten Venezuela wird.“ Solche Worte stehen im Einklang mit den diesbezüglich nicht minder rudimentären Argumenten des Präsidenten Iván Duque und seiner rechten Partei Centro Democrático. Am Ende des Flugblatts steht der Wahlspruch des angeblichen ‚Generalkommandos der Águilas Negras Kolumbiens’: Für einen neuen Plan der Ordnung und direkter Säuberung.
Die paramilitärische Organisation Águilas Negras entstand während der Präsidentschaft von Álvaro Uribe (2002-2010). Ihre Urheberschaft wird dem gefürchteten paramilitärischen Kommandanten Vicente Castaño zugeschrieben, Führer der ultrarechten Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens AUC (Autodefensas Unidas de Colombia). Castaño soll die Águilas Negras aus Protest gegen die Demobilisierung der AUC gegründet haben, die sein Bruder Carlos Castaño mit Álvaro Uribe vereinbarte und die zwischen 2004 und 2006 mit großen Vergünstigungen umgesetzt wurde für diejenigen Paramilitärs, die die Waffen niederlegten.
Unter dem Uribismus gelang es den paramilitärischen Gruppen nach der Demobilisierung der AUC, sich auszudehnen und breiter aufzustellen. Zahllose Organisationen wurden neu gegründet: Die AGC oder Golf-Clan, Los Rastrojos, Los Pachenca, Los Caparrapos, La Constru und so weiter. Angesichts des Vormarsches dieser Legion mafiöser und rechtsradikaler Gruppen zog sich der Staat Stück für Stück zurück. Häufig ließ er es zu, dass diese Banden die Gebiete kontrollierten; allerhöchstens bekämpfte er sie als kriminelle Banden und negierte jeden ideologischen Hintergrund für ihre Verbrechen.
Golf-Clan kontrolliert die Hälfte des Kokainhandels
Die diversen paramilitärischen Organisationen, die sich seitdem ausbreiten, haben die Gewalt mit neuen Namen und Merkmalen wiederbelebt, aber viele von ihnen blieben miteinander verbunden. Einige Paramilitärs „migrierten“ zum Golf-Clan, eine kriminelle Struktur, die mit ihrem Namen auf die mexikanischen Drogenkartelle verweist und als paramilitärische Organisation unter dem Namen Gaitanistische Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia) auftritt. Viele Söldner des Golf-Clans, der auch unter den Namen Clan Úsuga oder Bloque Héroes de Castaño bekannt ist, stammen ursprünglich vom Bloque Bananero der AUC, die paramilitärische Armee, die 2004 unter der Regierung von Álvaro Uribe demobilisiert wurde. Dem Golf-Clan wird die Hälfte des gesamten Kokainhandels zugeschrieben, der heutzutage Kolumbien verlässt. Seine Hauptabnehmer sind das mexikanische Sinaloa-Kartell und das Kartell des Nordostens von Mexiko.
Im Gegensatz dazu gibt es ernstzunehmende Zweifel daran, dass es wirklich eine zentralisierte Organisation unter dem Namen Águilas Negras gibt. Dennoch gibt es hinter ihren Pamphleten und Aktionen irgendein paramilitärisches Kommando, das sich darauf konzentriert, Drohungen auszusprechen – die gelegentlich auch umgesetzt werden – und das mitten im Wahlkampf. Seit über einem Jahrzehnt gibt es weder eine Spur ihrer Camps, noch wurde nach Polizeiangaben auch nur ein einziges ihrer Mitglieder verhaftet. Mehrere Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass es sich um eine Tarnorganisation handelt, um die wahren Hintermänner zu decken, die soziale Aktivist*innen, Umweltschützer*innen, ehemalige Guerillakämpfer*innen und Oppositionspolitiker*innen ermordet haben.
Bereits im Januar 2020 gab es eine Serie von ähnlichen Drohungen, die sich gegen mehrere Politiker*innen und kritische Intellektuelle richtete, darunter die Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, den Journalisten und Politologen Ariel Ávila (Vorsitzender der Stiftung Frieden und Wiedergutmachung) und weitere. Die Betroffenen verlangen seitdem erfolglos von der Regierung von Iván Duque, zu ermitteln, wer hinter diesen schweren Einschüchterungen steckt.
Bedrohungen von Aktivist*innen und erzwungene Ausgangssperre
Die Bedrohungen von linken Politiker*innen und sozialen Aktivist*innen nahmen Mitte März an Heftigkeit zu, nachdem der Pacto Histórico die Parlamentswahlen gewonnen hatte. Die Einschüchterungen wurden immer schlimmer. Die neu gewählte Senatorin für den Pacto Histórico, María José Pizarro, postete ein Flugblatt der Águilas Negras, in dem diese das gesamte Team des Pacto Histórico im Departamento Valle de Cauca bedrohen. Mit dem Mord am Nasa-Indigenen Miller Correa, der Wahlkampf für den Pacto Histórico gemacht hatte, wurde eine der Todesdrohungen auch umgesetzt. Seine Ermordung im Norden des Cauca einen Tag nach den Wahlen wurde von den Águilas Negras als Beispiel dafür bezeichnet, dass sie ihren Worten Taten folgen lassen.
Ein weiteres Flugblatt des selbsternannten West-Blocks der Águilas Negras bedrohte direkt die Aktivist*innen aus Valle del Cauca, die sich im Wahlkampf engagierten: „Wir werden weiterhin unser Wort halten und all diese sogenannten indigenen und sozialen Anführer entfernen (…), die den sogenannten Pacto Histórico unterstützen.“ Neun lokale Aktivist*innen wurden namentlich erwähnt und brutal bedroht: „Die Jagd hat begonnen und wir werden nicht eher ruhen, bis alle unter der Erde liegen, die nächsten Toten seid ihr.“ Capaz Lectamo, indigener Aktivist und Vorstandsmitglied des Verbands der Indigenen im Cauca CRIC (Consejo Regional Indígena del Cauca), äußerte, er habe keine Zweifel über das Motiv des Mordes an Miller: „Wir sind überzeugt, dass es eine Vergeltung für die wichtige Rolle war, die die indigene Bewegung im Cauca für den Wahlsieg gespielt hat.“
Im westkolumbianischen Departamento Valle del Cauca mit seiner Hauptstadt Cali hat sich der lang anhaltende Aufstand, der vor allem von der Jugend während des landesweiten Streiks angeführt wurde, in Stimmen für das fortschrittliche Projekt des Pacto Histórico verwandelt. Der Pacto Histórico erzielte fünf Abgeordnete und drei Senator*innen in diesem Departamento, während zuvor alternative Parteien dort gar keine Sitze hatten. Der Paramilitarismus handelt im Sinne der herrschenden Gruppen, die so ihre vorherige uneingeschränkte Dominanz wiedererlangen wollen.
Die Auslieferung des Chefs des Golf-Clans, alias Otoniel, an die USA diente dieser Organisation als Ausrede für eine erzwungene Ausgangssperre, einen sogenannten „bewaffneten Streik“ (paro armado) Anfang Mai. Die Bilanz nach vier Tagen zeugte von Mord und Zerstörung in elf Departamentos (119 Bezirke waren betroffen) und bedeutete die Einsperrung der Bevölkerung in 74 Gemeinden. Die Paramilitärs verhängten strenge Beschränkungen für den Handel, den Verkehr und die Mobilität. Inwieweit die Ausgangssperre mit der Auslieferung von Otoniel zusammenhängt, müsste zusammen mit weiteren Fragen ausführlich behandelt werden. Bemerkenswert ist jedem Fall das „Gespür für das richtige Timing“ der Regierung Duque, die kurz vor den Präsidentschaftswahlen eine solche Situation zugelassen hat.
Der geplante Mord an Gustavo Petro
Die Drohungen der Paramilitärs haben auch die Führungsriege des Pacto Histórico erreicht. Zunächst die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Francia Márquez, die nach eigenen Angaben dreimal hintereinander von den Águilas Negras Morddrohungen erhalten hat. Das wahrscheinlichste Ziel der Drohungen war wohl, die persönliche Teilnahme der Politikerin an Wahlkampfveranstaltungen zu erschweren. Das haben sie jedoch nicht erreicht. Im Fall des Präsidentschaftskandidaten des Pacto Histórico, Gustavo Petro, wurde ein Mordkomplott aufgedeckt, woraufhin Petro an einigen Wahlkampfveranstaltungen nicht teilnehmen konnte.
Das Wahlkampfteam von Petro beschuldigte die paramilitärische Gruppierung La Cordillera Anfang Mai, ein Attentat auf den Linkskandidaten geplant zu haben, als dieser eine Wahlkampftour durch die Departamentos in der Kaffeeanbauregion (Eje Cafetero) durchführen wollte, die daraufhin aus naheliegenden Sicherheitsgründen abgesagt wurde. Das Wahlkampfteam wusste aus polizeilichen und militärischen Quellen, dass „ein Mitglied der Kriminalpolizei SIJIN, der in den Mord an dem jungen Aktivisten Lucas Villa beteiligt gewesen sein soll, auch Teil des geplanten Attentats sein soll“. Lucas Villa wurde während der Proteste im Zusammenhang mit dem landesweiten Streik im Mai 2021 ermordet. Sein Tod ist noch nicht aufgeklärt, aber es gibt Hinweise, dass an seiner Exekution möglicherweise La Cordillera beteiligt war. Das Wahlkampfteam von Petro beschreibt den Hintergrund dieser Mafiagruppe folgendermaßen: „La Cordillera ist eine paramilitärische Organisation, die Drogenhandel betreibt und Morde ausführt und eine weitgehende Kontrolle über die örtlichen Behörden in der Kaffeeanbauregion ausübt. Zudem kontrolliert sie auch einige Einheiten von Polizei und Armee, deren Angehörige zum Teil Mitglied dieser kriminellen Organisation sind.“
Die Erkenntnisse über den Mordplan an Petro basieren darauf, dass fünf Auftragsmörder bereits die Hälfte ihres Lohns erhalten haben sollen, jeweils 500 Millionen Pesos (116.000 Euro). Zudem enthüllte das Portal Cuestión Pública unter Berufung auf den Wahlkampfstab Petros, dass an dem geplanten Attentat Regionalpolitiker*innen, Polizist*innen und Militärs beteiligt gewesen seien. Sowohl Präsident Iván Duque als auch die Polizei betonten, dass es für diese Vorwürfe keine Beweise gebe. Nach einem Treffen des Wahlkampfstabes Petros mit Innenminister Daniel Palacios kündigte dieser jedoch an, den Personenschutz für den Kandidaten des Pacto Histórico noch einmal zu verstärken.
Die Angriffe der Paramilitärs auf die Führungspersonen des Pacto Histórico werden immer heftiger in dem Maße, wie Gustavo Petro immer wahrscheinlicher als Sieger in der bevorstehenden zweiten Runde der kolumbianischen Präsidentschaftswahlen hervorgeht, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Invamer Anfang Mai ergab. Die Nervosität der herrschenden Gruppen angesichts der Möglichkeit eines Wandels lässt den Paramilitärs freie Hand, die fester Bestandteil der alten Machtstrukturen sind.
Übersetzung: Darius Ossami
Paramilitärs leisten Wahlkampfhilfe von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
[…] NPLA report […]